Ruiniert die Demokratie den Staat? Über die Notwendigkeit liberaler Selbstbindung

Die Liberalen in der Zeit der Aufklärung hatten eine schwere Sorge: Wenn das „gemeine Volk“ – also alle Bürger wählen oder gar abstimmen können, werden sie sich dann mit ihrer Mehrheit zwangläufig über die Staatskasse hermachen, oder gar die Reichen plündern? „Die Bürger“ – das sind stellvertretend in parlamentarischen Demokratien die Parteien, ihre Wahlversprechen, ihre Ausgabenprogramme.

Es gibt Verfahren im demokratischen Ausgabenprozess, um den Staat nicht auszunehmen. Es braucht dazu aber einen aufgeklärten Konsens, oder es braucht dazu vielleicht den nahen Untergang – im reichen Westen nicht auszuschließen.

Zweihundert Jahre nach den ersten, liberalen demokratischen Wahlen hat die Sorge gesiegt, d.h. die Befürchtungen haben sich bewahrheitet – 51% Staatsanteil am Sozialprodukt im EU-Schnitt, 56% in Österreich und Italien, 37% in den ach so liberalen USA. Die Wähler, die Parteien haben sich in der Tat beim Staat bedient, und dies auf einem privaten Wohlstandsniveau, das wohl zehn Mal höher als in der Frühzeit der Demokratien ist. Die Not kann es nicht gewesen sein.

Parteien-Wettbewerb: Demokratie als Problem

Aber was denn? Es war eben doch das Selbstinteresse, der Eigennutz aller Beteiligten. Der Wettbewerb der Parteien um Wahlerfolge ließ sie immer neue Wohltaten versprechen, die Wähler sprachen darauf an, und es gab kam je eine Partei, die weniger oder nichts versprach. Das bestätigt zwar erfreulicherweise den von Liberalen dem Menschen unterstellten Eigennutz, wogegen Sozialisten und Planwirtschaftler immer gescheitert sind, wenn sie den Menschen süße Harmonie und solidarische Selbstlosigkeit unterstellten. Aber das berühmte Böckenförde-Diktum „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ lässt sich auch hier anwenden: Die erdrückende Staatsquote heute wirft die Frage auf, ob damit ein schicksalhafter Weg in den Abgrund vorgezeichnet ist, oder ob es Verfahren in demokratischer Entscheidungsfindung dagegen gibt: eine Selbstbindung der demokratischen Akteure.

Die klassischen Liberalen, die vor zweihundert Jahren ein sehr realistisches Menschenbild hatten, beschränkten das Wahlrecht auf Landbesitzer, dann, als Stadtbürger protestierten, auf ein Mindestvermögen an sich. So hatten Bezüger von Sozialhilfe grundsätzlich kein Stimmrecht, sie hatten „in den Ausstand zu treten“ als Selbstinteressierte, wie es richtig ist in Gremien. Doch diese Summen wurden laufend gesenkt, der Kreis der Wahlberechtigten um alle Männer, dann um wird Frauen, dann um die Jüngeren erweitert. Das war unvermeidlich und entspricht der Logik zunehmender Einbindung aller sozialen Schichten in den politischen Prozess und damit der Idee der Demokratie. Doch wurden die Gefahren nicht beachtet.

Verfassungsmäßige Schranken: Mittel für die Selbstbindung

Es gibt daher heute, abgesehen von Altersschwellen, keine Einschränkungen des Wahlkörpers, und für eine Entscheidung zählt meist die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. In einigen Staaten gelten Quoren, und eine Wahl oder Abstimmung gilt nur, wenn die Hälfte der Wähler sich äußert, oder gar nur, wenn die Hälfte sich für eine Person, Partei oder Sachfrage ausspricht. Politologen wie James M. Buchanan (in seinem Buch „Calculus of Consent“) forderten Einstimmigkeit bei Volksentscheiden, was weniger verrückt ist, als es klingt.

Denn dann würden Parteien, Interessengruppen miteinander verhandeln und Kompensationen für Zustimmung versprechen. Letzten Endes liefe es auf die üblichen Kuhhändel in Parlamenten hinaus. Einwände praktischer Art aber sehen solche Verhandlungen als zu komplex an, und ausserdem würde die Neigung überhandnehmen, staatliche Kassen dafür einzuspannen, also die Staatsquote zu steigern wie sonst ja reichlich auch geschehen.

In parlamentarischen Demokratien hingegen müssen die Parteien, Wählergruppen, die Parlamentarier sich selbst binden, um den Staat nicht auszuplündern. Etwa im Sinne des Philosophen John Rawls, indem man sich schon auf Verfassungsebene auf ein Verfahren einigt, bei dem niemand zum Vorneherein wissen kann, wie die Regeln ihn später treffen werden. Ähnlich auch F.A. Hayek, der jedoch betonte, dass nur abstrakte, für alle gleiche Regeln zu gelten hätten, die nicht auf bestimmte Resultate ausgerichtet sind.

Auch Quoren sind einfach zu realisieren, die Hälfte, zwei Drittel der Mitglieder eines Parlaments (nicht nur der Anwesenden) etwa sollen eine Entscheidung tragen.

Zur Amtszeit US-Präsident Clintons raffte sich eine Mehrheit des Kongresses 1996 zu Bestimmungen auf, wonach das Parlament höhere Ausgaben nur beschliessen konnte, wenn es auf dem gleichen Gebiet sparte. Auch gab der Kongress dem Präsidenten ein „line-item-veto“, mit welchem er Einzelposten der vom Kongress beantragten Ausgaben streichen konnte, ausser der Kongress überstimmte ihn mit einem Quorum von zwei Dritteln. Zu dieser Zeit kam das Budget der USA in den Überschuss. Das Oberste Gericht annullierte 1998 dieses Veto, aber es besteht in der Mehrheit der Einzelstaaten.

Schuldenbremsen sind eine andere Selbstbindung – wenn sie in höherem Recht, nämlich in der Verfassung stehen. Dies wirkt gegenwärtig in Deutschland und in der Schweiz direkt auf den Budgetprozess ein. Wenn die Bremse hingegen nur ein Gesetz ist, dann läuft es auf die lächerliche Schieberei im Parteiengerangel wie in den USA hinaus, wo sie seit 1960 schon 80 mal erhöht wurde. Die Mitgliedsländer der EU verpassten sich im Maastrichter Vertrag zum Euro eine Defizit- und Schuldenbremse, doch wurde diese schon kurz darnach von Deutschland und Frankreich überschritten, dann dankbar von allen anderen auch. Es gibt keine Sanktionen.

„Exit and voice“: Der Kapitalmarkt als Kontrollinstanz

Doch gibt es eine Instanz, welche den Schuldentanz der Politiker ausbremsen kann – der Kapitalmarkt. Wenn der Staat immer mehr Geld aufnehmen muss, steigen die Zinsen, oder die Kapitalgeber streiken überhaupt. Als im Kanton Genf der 1930er Jahre die Politik den Kanton fiskalisch auspowerte, gewann der Kommunist Léon Nicole die Wahlen mit seinen Versprechungen. Doch die Banken zeichneten nur noch neue Schuldtitel, wenn er sie um jede einzelne Ausgabe vorher anfragte – der Staat war „marked to market“ – der Markt ist das Korrektiv einer fiskalisch haltlosen Demokratie!

Der Markt, das sind hier die Anleger, die Versicherungen, Pensionskassen, Banken mit ihrem Selbstinteresse. Den gleichen Druck des Marktes mobilisierte der US-Notenbankchef Paul Volcker, als er 1982 die Zinsen der Staatsobligationen auf 14% erhöhte, weil er kein Geld nachreichte. In Italien verursachte die unsolide Fiskalpolitik der Regierung Berlusconi 2011, dass die Kapitalmarkt-Akteure Zinsen gegen 7% auf den enormen Staatsschulden verlangten, worauf die EZB den italienischen Staatspräsidenten warnte, sie werde dies nicht finanzieren. Berlusconi wurde sofort abgesetzt.

Damit spielten sich seit jeher die zwei Garanten freiheitlicher Gesellschaften in die Hände, „exit and voice“. Exit bedeutet, dass die Bürger, hier die Kapitalgeber, einen Vertrag nicht eingehen müssen, den Markt verlassen können, wenn es ihnen nicht mehr passt. Voice meint den politischen Prozess, der seinerseits in den Markt eingreifen kann. Diese von Albert O. Hirschman angeführte wechselseitige Kontrolle aber funktioniert heute nicht, weil die Notenbanken den Geldbedürfnissen der Schuldenpolitiker servil zudienen. Sie kaufen seit 2008 die Schuldbriefe der Staaten und setzen dafür Geld in Umlauf, sie senken gleich damit auch die Zinsen. Der Zins als Zuchtmeister wurde offiziell ausgesetzt.

Korrigierendes Selbstinteresse der Bürger

Das Sahnehäubchen auf allem: die riesigen Massen an Staatstiteln im Keller der Notenbanken werfen Zins ab, aber damit steigt der Gewinn der Notenbanken – und diesen liefern sie den Staaten ab. Dieser große Teil der aufgekauften Staatsschulden ist gratis. Die Notenbanker Bernanke, Yellen, Powell, Draghi, Lagarde sind die Totengräber des ehemals zweiseitig, durch „exit and voice“ sich selbst bindenden Westens. Der freie Entschluss der Akteure des Kapitalmarkts muss das große Korrektiv gegen die Plünderung des Staates sein. Den Notenbanken sollte verboten werden, den Kapitalmarkt auszukaufen. Dann spielt das Machtwort der Kapitalanleger.

Die freien Anlage-Entscheidungen der Kapitaleigner waren wie das Stimmrecht aus dem Landbesitz früher Demokratien, das eine haltlose Staatsplünderung verhinderte – jetzt ist das korrigierende Selbstinteresse der Bürger als Kreditgeber ausgehebelt, das Selbstinteresse aller beutet nur noch den Staat aus – in diesem Staatssozialismus scheitert die Annahme der Linken, die Bürger würden dann allseits solidarisch. Das Selbstinteresse wuchert ohne jede Selbstbindung, und die Überschuldung ist allgemein. Von Solidarität fehlt jede Spur.

Heilmittel: Aufgeklärter Konsens oder nahender Untergang

Ein Politiker hatte in den 1980er Jahren den Mut, Ausgaben abzubauen – Paul Martin in Kanada. Er lud alle Interessengruppen vor laufender Kamera ein, „Abgebote“ zu machen: „wenn die anderen auf dies verzichten, verzichten wir auf das“. Es half weitgehend.

Man sieht, es gibt Verfahren im demokratischen Ausgabenprozess, um den Staat nicht auszunehmen. Es braucht dazu aber einen aufgeklärten Konsens, oder es braucht dazu vielleicht den nahen Untergang – im reichen Westen nicht auszuschließen. Jedenfalls leben heute die westlichen Demokratien nach dem Worte Frédéric Bastiats im 19. Jh.: „Der Staat ist die große Fiktion, mittelst deren alle Welt leben will auf Kosten von aller Welt“. Oder gemäß dem Obersozialisten Erich Honecker in der DDR: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“.

Und weil der Untergang in Argentinien schon eigetreten ist, mit mehrfachen Staatsbankrotten und 40% verarmten Einwohnern – im Jahr 1950 noch reichsten Land der Welt – wird das Experiment des neuen Präsidenten Javier Milei wegweisend, ob die Überforderung eines Staates durch kühne neue Verfahren rückgebaut werden kann. Und ob der Staat, im Sinne des Diktums Böckenfördes, seine Voraussetzungen garantieren kann – Freiheit und Demokratie.

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