Krieg, Kollateralschäden und humanitäres Völkerrecht: Was heißt Verhältnismäßigkeit?

Bitte die Zivilbevölkerung nicht gefährden und das humanitäre Völkerrecht respektieren! So erklingt es von überallher gegenüber Israel. Solche Mahnungen oder gar Drohungen verlauten nicht nur von der seit jeher – gelinde gesagt – einseitig palästinenserfreundlichen UNO oder von arabischen Staaten, die allerdings in der Vergangenheit selbst nichts taten, um den Palästinensern zu helfen, außer sie mit Geld für Waffen zu beliefern. Sogar die USA stimmen nun in den Chor ein, allerdings aus innenpolitischen Gründen bzw. weil der amerikanische Präsident unter Druck des linken, propalästinensischen Flügels seiner Partei steht.

Nicht nur das humanitäre Völkerrecht, auch die Moral verbietet direkte Angriffe auf Zivilisten mit Tötungsabsicht, selbst wenn dies voraussichtlich militärische Vorteile bringt. Wohl aber gestatten beide, den Tod von Zivilisten als Kollateralschaden von Aktionen mit auf militärische Ziele gerichteten Absichten in Kauf zu nehmen. Dabei muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein.

Die Forderungen, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren, sind jedoch immer nur an Israel gerichtet – keine Mahnung an die Hamas, sie vor allem, trage die Verantwortung für den Schutz ihrer Zivilbevölkerung! Keine Verurteilung der Hamas, dass sie diese aus Prinzip und Kalkül nicht schützt, sondern die eigene Bevölkerung als Schutzschild missbraucht, sie sogar von der Flucht vor angekündigten israelischen Angriffen abzuhalten sucht und damit direkt und absichtlich gefährdet, was allein schon ein Kriegsverbrechen ist. Die Kommandozentrale der Hamas liegt gemäß israelischen und nun auch amerikanischen Informationen direkt unter dem Shifa-Krankenhaus, dem größten des Gaza-Streifens. Und auch andere Spitäler seien militarisiert, Kindergärten würden als Waffen- und Munitionsdepots dienen.

Zivilbevölkerung als Schutzschild

Was soll nun also unter solchen Umständen für Israel heißen, es solle „die Zivilbevölkerung nicht gefährden“? Die Zivilbevölkerung eines Angreifers ist natürlich zunächst einmal bei jedem modernen Krieg massiv gefährdet, vor allem, wenn sich Kombattanten mit der Zivilbevölkerung vermischen, und zwar so, dass erstere absichtlich und gezielt zivile Einrichtungen und lebenswichtige Infrastruktur als Kommandozentralen, Raketensilos, Waffenfabriken und Munitionslager benutzen. Hätten die Alliierten das deutsche Nazi-Regime nicht in die Knie zwingen dürfen, um die Zivilbevölkerung nicht zu gefährden?

Gemäß dieser Logik müssten nun also die israelischen Soldaten die Hamas-Kombattanten mit möglichst gewaltfreien, für die Zivilbevölkerung ungefährlichen Mitteln aus ihren Verstecken holen und als Gefangene abführen. Wie aber soll man die für den Erfolg der Hamas entscheidenden unterirdischen Tunnelsysteme zerstören, ohne die darüber festgehaltene Zivilbevölkerung inklusive Frauen und Kinder in Mitleidenschaft zu ziehen, wenn diese den Aufrufen der israelischen Armee, diese Orte zu verlassen, nicht Folge leisten bzw. die Hamas dazu absichtlich keine Hand bietet? Wer trägt dann für deren Gefährdung und Tod die Verantwortung? Wo sind die Kriegsverbrecher zu suchen?

Unmoralische Tötungsabsicht contra in Kauf genommene Kollateralschäden

Klar ist: Nicht nur das humanitäre Völkerrecht, auch die Moral verbietet direkte Angriffe auf Zivilisten mit Tötungsabsicht, selbst wenn dies voraussichtlich militärische Vorteile bringt. Wohl aber gestatten beide, den Tod von Zivilisten als Kollateralschaden von Aktionen mit auf militärische Ziele gerichteten Absichten in Kauf zu nehmen. Dabei muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Dies war beim Flächenbombardement deutscher Städte durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg oder der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki mit Hunderttausenden getöteter Zivilisten wohl kaum der Fall. Die Taktik war aus heutiger Sicht moralisch eindeutig nicht gerechtfertigt, obwohl es rechtlich verbindliches humanitäres Völkerrecht in der heutigen Form damals noch nicht gab.

Das rein konsequentialistische Kalkül der Alliierten des Zweiten Weltkriegs, „Obliteration Bombing“ – Flächenbombardements ganzer Städte und ihrer Bevölkerung – als Mittel zum guten militärischen Zweck, wollen wir heute weder moralisch noch rechtlich gutheißen. Denn hier ist die Tötung von Nichtkombattanten nicht einfach eine in Kauf genommene Nebenfolge, sondern erklärte Absicht, als Mittel zum Zweck. Dasselbe gilt gemäß heutigem Verständnis für das beabsichtigte Aushungern der Zivilbevölkerung durch Belagerung und Abschnürung.

Der Zweck heiligt nicht die Mittel

Bereits die Wittgenstein-Schülerin und Übersetzerin von dessen Werk „Philosophische Untersuchungen“ Elizabeth (G.E.M.) Anscombe – sie prägte den Begriff „Konsequentialismus“ als Inbegriff eines amoralischen ethischen Kalküls – protestierte 1958 als junge Forscherin an der Universität Oxford mit einem Pamphlet gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den ehemaligen US-Präsidenten Truman, der die Atombombenabwürfe am Ende des Zweiten Weltkrieges angeordnet hatte.

„Keinen Ehrendoktor für einen Massenmörder“, argumentierte Anscombe vor der „Convocation“, der zuständigen akademischen Versammlung der Oxforder Universität. Der Historiker Alan Bullock, der nach ihr sprach und die Ehrung befürwortete, wollte Trumans Atombombenabwurf zwar nicht befürworten, führte aber mildernde Umstände ins Feld. Truman erhielt seinen Ehrendoktor.

„Verhältnismäßigkeit“ ist ein komplexer, dehnbarer, immer auch situativ interpretierbarer Begriff. Die Israelis schlagen aber mit Bestimmtheit nicht den Weg der Alliierten des Zweiten Weltkriegs ein. Sonst würden sie die Bevölkerung nicht vorwarnen und zur Flucht aufrufen. Sie würden sich auch nicht der für sie mühsamen, militärisch verlustreichen und politisch riskanten Mühsal einer Bodenoffensive unterziehen. Sie würden eben einfach Gaza bombardieren und dem Boden gleichmachen, inklusive Zivilbevölkerung, um die Hamas auf diese Weise in die Knie zu zwingen. Oder die Bevölkerung inklusive Hamas aushungern. Das Kalkül lautete: Der Zweck heiligt die Mittel.

Doch genau das tun die Israelis offenbar nicht, obwohl der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, zunächst den Belagerungs-Vorwurf ins Spiel brachte, danach gegenüber Israel gar den Vorwurf einer kollektiven Strafaktion gegen die palästinensische Bevölkerung erhob. Ziel der israelischen Angriffe wie auch der Abschnürung des Gaza-Streifens ist jedoch, die Terrororganisation Hamas und ihre operative Fähigkeiten zu zerstören, als Mittel zur dauerhaften Ausschaltung der Hamas als einer Organisation, die die Sicherheit Israels gefährdet und ein friedliches, zumindest gewaltloses Nebeneinander der jetzigen Konfliktparteien verunmöglicht. Angriffe und Abschnürung haben schreckliche Folgen für die Zivilbevölkerung. Doch sind es in Kauf genommene Nebenfolgen, keine Mittel zum Zweck.

Erinnerungen an die Bergpredigt und der antijüdische Reflex

Es geht Israel in diesem Krieg also nicht um „Vergeltung“ oder „Rache“ – schon gar nicht, was die Bevölkerung anbelangt. Eine solche Vergeltung würde der strafrechtlichen Logik „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ folgen. Es gibt nun aber in den westlichen Ländern, einen eigenartigen Reflex. Dieser ist dem traditionell christlich sozialisierten Westen tief eingewurzelt und vielleicht sogar ein Relikt des ebenfalls typisch christlichen Antijudaismus. Der Reflex ist, sobald Juden im Spiel sind – sonst normalerweise eher weniger –, sich plötzlich an die Bergpredigt zu erinnern, wo es heißt „Liebet eure Feinde“ und „wenn dich einer auf die Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ und „leistet dem Bösen keinen Widerstand“.

Obwohl die christliche Zivilisation seit Langem weiß, dass das weder das staatliche Recht auf Selbstverteidigung noch die strafrechtliche Vergeltungslogik außer Kraft setzt, ja dass diese ethisch gesehen eine andere Dimension und nach anderen Kriterien zu beurteilen ist, läuft der antijüdische Reflex so: Die Juden sind auf der – angeblichen – „Vergeltungsmoral des Alten Testaments“ sitzen geblieben und werden deshalb – rachsüchtig wie sie sind – Böses mit demselben Bösen vergelten, das sie erlitten haben. Pfui!

Historisch gesehen stimmt das schlicht und einfach nicht: Juden haben im Laufe der Geschichte nicht so gehandelt, zumindest nicht mehr – eher weniger – als andere historische Akteure, inklusive Christen. Verfolgt man die Geschichte der letzten Jahrzehnte, so sieht man: Es waren nicht die Israelis, sondern die Araber, die jeden Frieden verunmöglicht haben und stets auf Rache schworen, und zwar schlicht und einfach, weil sie die Juden ausradiert oder zumindest aus dem gesamten Nahen Osten vertrieben und Israel von der Landkarte gelöscht sehen wollen. Und dennoch – und auch das ist ein traditioneller antijüdischer, wenn nicht gar antisemitischer Reflex – wirft man ihnen vor, jetzt halt die Früchte für das zu ernten, was sie den anderen, den Palästinensern, angetan haben. Aufgrund dieser Logik der Täter-Opfer-Umkehr wurden schon seit jeher Judenpogrome gerechtfertigt.

Es stimmt: Auch Angehörige der israelischen Streitkräfte haben in den Kriegen von 1947/48 und dem, was die Palästinenser Nakba, „Katastrophe“, nennen, Gräueltaten vollbracht. Und die heutigen nationalreligiösen Siedler können mit Fug und Recht als Provokateure und Hindernis im Friedensprozess bezeichnet werden. Dennoch: All dies sind Folgen der arabischen Ablehnung und entsprechender kriegerischer Auseinandersetzungen, die alle von arabischer Seite den Juden aufgezwungen wurden.

Verhältnismäßigkeit, wenn es um die nackte Existenz geht

Was heißt nun also im gegenwärtigen Krieg „Verhältnismäßigkeit“? Für die Israelis heißt sie mit Bestimmtheit etwas anderes als für den außenstehenden westlichen Beobachter und Wohlstandsbürger. Für Israel geht es letztlich und längerfristig um die nackte Existenz. Der Staat der Juden hat es mit einem Gegner zu tun, der für sie an Gefährlichkeit den Nazis, auf die sich dieser ja auch gerne beruft und die er lobpreist, in nichts nachsteht. Die Israelis kämpfen gegen einen Feind, der die Vernichtung und Auslöschung der Juden und alles Jüdischen und ihres Staates, also eine zweite Shoah, bezweckt.

Die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza kooperiert zu einem großen Teil mit diesem Gegner, wenn auch oft oder sogar in der Regel gezwungenermaßen. Die meisten Palästinenser hätten wohl lieber Frieden, auch mit Israel, obwohl man ihnen in der Schule beigebracht hat, die Juden stammten von Affen und Schweinen ab. Hätten sie andere Führer und würden sie nicht schon von Kind auf verhetzt, wäre dieser Frieden wohl auch schon längst Realität. Nun aber ist es anders. Und diese andere Realität spielt notgedrungen mit bei der Beurteilung von „Verhältnismäßigkeit“.

Allem Anschein nach versucht Israel – schon im eigenen Interesse – alles zu vermeiden, was nach Kriegsverbrechen und Verletzung des humanitären Völkerrechtes aussieht. Wollen sie die Hamas wirklich zerstören, wird ihnen das voraussichtlich aber nicht gelingen – ganz abgesehen davon, dass die Hamas und ihre Sympathisanten offensichtlich versuchen, den Israelis Verluste unter der Zivilbevölkerung, für die Israel in keiner Weise verantwortlich ist, in die Schuhe zu schieben. Aus israelischer Sicht wird jedenfalls vieles verhältnismäßig sein, was es aus unserer, geschweige denn aus arabischer Sicht nicht ist. Die UNO trägt das Ihre mit antiisraelischen Stellungnahmen und Resolutionen bei.

Das ist die Tragik der Situation – seit Jahrzehnten. In ihr befindet sich jeder Verteidiger gegen einen ungerechten Aggressor, vor allem gegen einen, dem nicht die Rechte und legitimen Interessen des eigenen Volkes, sondern einzig und allein die Vernichtung des Gegners am Herzen liegt, und der zudem den eigenen Untergang als Märtyrertod verherrlicht. Wer Israel verurteilt, sollte sich nicht von Emotionen – oder gar antijüdischen Gefühlen – leiten lassen, sondern rational und informiert abwägen, wie genau hier Recht und Unrecht verteilt sind.

 

Dieser Artikel ist zunächst unter dem Titel „Die böse Saat des Terrors“ in der NZZ vom 13. 11. 2023, S. 30 erschienen. Online unter dem Titel: Wenn die israelische Armee die Hamas vernichten will, muss sie zivile Opfer in Kauf nehmen. Sie wird dazu gezwungen.

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