Die ukrainische Verteidigung erfolgte am Boden – Erinnerungen eines Milizsoldaten

Hundert Milliarden für Verteidigungswaffen hat Deutschland beschlossen, und ähnlich rüsten nun alle Europäer. Doch mit dem Einkauf moderner Systeme bei Rheinmetall ist es nicht getan. Vor aller Augen nämlich zeigt die Ukraine, worauf es auch noch ankommt: auf die Verteidigung des Bodens, am Boden, Meter für Meter, durch Soldaten, Zivilisten, die das gelernt haben.

Die Geopolitiker sagen uns, wir seien wieder in die Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Demokratien und aggressiven Autokratien zurückgeraten. Da darf einer, der damals dabei war, von diesen Vorbereitungen einer Volksarmee in den fünfziger und sechziger Jahren berichten.

Dieser kapillare Widerstand, oft mit einfachsten Mitteln, und mit Raketen gegen Panzer und Flugzeuge sozusagen aus dem Rucksack, muss wieder gelernt werden. Vor allem wenn man rüstet, um sich zu verteidigen, braucht es sowohl diesen Willen wie auch das in jedem Haus, in jedem Dorf verbreitete Wissen dazu.

Allgemeine Wehrpflicht und echte Volksarmee

Die Geopolitiker sagen uns, wir seien wieder in die Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Demokratien und aggressiven Autokratien zurückgeraten. Da darf einer, der damals als Rekrut und in Wiederholungskursen dabei war, von diesen Vorbereitungen einer Volksarmee in den fünfziger und sechziger Jahren berichten.

Die Schweizer Armee zog mit der allgemeinen Wehrpflicht auch nach 1945 alle Männer ein und trainierte sie dreißig Jahre lang, bis sie mit 50 entlassen wurden. Offizier wurde nur, wer alle Grade nacheinander als Korporal, dann Offizier in einer ganzen Rekrutenschule im entsprechenden Kommando erworben hatte. Es wurde keine Kaste daraus. Nach der Rekrutenschule wurden alle Soldaten der Infanterie in Einheiten ihrer Region, fast ihres Dorfes, eingeteilt. Alle kannten sich, auch privat und zivil, von den Schulen her. Alle kannten vor allem das Terrain, jeden Winkel, nach dreißig Jahren Wiederholungskursen und zehntägigen Manövern.

Als mein Sohn vor seinem Einrücken fragte, was man denn im Militär lerne, antwortete ich, man lerne, dass man viel mehr überstehe als man meint.

Aus meiner Einheit gingen im Laufe der Jahre Divisionskommandanten hervor, ein Finanzminister, mehrere Wirtschaftsführer. Der Umgangston in den Wiederholungskursen unter diesen Kollegen war zivil, sachbezogen, nicht militärisch. Dieser zahlenmäßig damals größten Armee des westlichen Kontinents wurde nachher, in den coolen, gesellschaftskritischen Jahren nach ’68 vorgeworfen, den letzten Krieg nochmals zu proben, unnötig viele Mittel zu binden, eine «Kalte-Kriegs-Mentalität» zu pflegen. Aber jetzt haben sich die Köpfe wieder mal gewendet, alles ist anders. «Es gibt Wochen, da vergehen Jahrzehnte», soll Wladimir gesagt haben, nicht Putin, sondern der andere Wladimir – Ijitsch Uljanow.

Russische Disziplinlosigkeit contra hartgeschulte Milizsoldaten

Also, wir lernten Häuserkampf, einer schießt den Weg frei, der andere rückt vor, schießt seinerseits, der andere rückt vor. Wir lernten Tellerminen auf Brettern anzubringen, in einem sicheren Graben zu warten, und die Minen im letzten Moment vor einen anrückenden Panzer auf die Straße zu ziehen. Auch als Funker, und erst gerade aus Latein und Altgriechisch des klassischen Gymnasiums gekommen, lernten wir Panzergranaten aus dem Sturmgewehr zu schießen, oder gegen gepanzerte Fahrzeuge das „Rak Rohr“ über die Schulter zu betätigen. Das Magazin am Gewehr war innert drei Sekunden zu wechseln, routinemäßig, im Gefecht. Ein Fünfzig-Kilometer-Marsch in Vollpackung bildete das Schlussritual der Rekrutenschule, zehn Stunden im Regen. Dann „trocknen am Mann“ für den Kampfanzug, dann das teure Material reinigen und versorgen, dann vor der Kaserne Schuhe putzen, dann das Gewehr ausstoßen und dann Essen, in dieser Reihenfolge.

Damals kam uns vieles als Schikane vor. Aber eine letztlich als notwendig hingenommene Schikane.

Fassungslos sah ich jetzt auf Luftaufnahmen, wie die russischen Transportkolonnen vor Kiew dicht aufgeschlossen anstanden. In den sechziger Jahren hatte jeder Jeep, jeder Lkw sein Tarnnetz dabei, wehe, wenn der Fahrer es bei einem Halt nicht auswarf! Die Kolonne rückte nur „im Paket“ vor, immer zwei Fahrzeuge, dann fünfzig Meter Abstand, wieder zwei Lkws. Jeder wusste das, als Fahrer oder als Mitfahrer.

Diese Disziplin rühme ich leicht verklärt aus einem halben Jahrhundert Distanz. Diensterlebnisse füllen nun mal Bände. Damals kam uns vieles als Schikane vor. Aber eine letztlich als notwendig hingenommene Schikane.

Den Preis für den Aggressor in die Höhe treiben

Als mein Sohn vor seinem Einrücken fragte, was man denn im Militär lerne, antwortete ich, man lerne, dass man viel mehr überstehe als man meint. Daran denke ich oft in diesem verzärtelten Zeitalter vor den Ladengestellen mit dreißig verschiedenen Typen von Haut- und Rasiercremchen. Oder pathetischer – man erlernt die Kraft des Volkes, wenn es selbstbewusst wird und geschlossen aufsteht.

Damals aber formte das alles, und noch mehr, eine Territorialverteidigung, die so wie heute in der Ukraine gewirkt hätte. Vielleicht hätte sie in einem langen Abnützungskrieg gegen eine Großmacht nicht gesiegt, aber der Preis dafür wäre dem Aggressor aufgelegen, sein Gewinn wäre ein zerstörtes Land gewesen.

Wenn diese kapillare, bodennahe Verteidigung einer regional verwurzelten, allgemeinen Wehrpflicht einmal steht, ist selbstverständlich die große Rüstung mit Flugzeugen, Raketen, Panzern, heute Drohnen, das zweite Bein. Auf diesen zwei Beinen zu kämpfen, gilt es also.

Die Wehrpflicht und ihre bodennahe Verteidigung aufzubauen, dauert lange, viel länger als jetzt mit einer Bestellliste bei Rheinmetall oder Lockheed aufzukreuzen. Bargeld – auch in Losen von hundert Milliarden – ist bloß Geld, heute schnell gedruckt oder als Kredit aufgenommen. Das geht über die Köpfe hinweg. Die Bedrohungslage jedoch ist unvorhersehbar, aber den Boden halten zu wollen, ist ein klares Signal an alle.

Und nicht vergessen – der Boden ist flach von der Elbe bis zum Ural. Panzerspitzen brechen schnell und unerwartet durch, wenn sie am Boden nicht auflaufen. Die Franzosen hatten 1940 eine starke Armee, aber in klassischen Ritualen geübt und gefangen. Während die deutschen Panzer als dünne, aber rasche Kolonnen hindurch zogen, saß man noch in den meisten Dörfern im Bistro und merkte erst von der Besetzung, als Paris kampflos übergeben war. Einen solchen Blitzkrieg erwartete Putin auch in der Ukraine. Die Bodenverteidigung, Dorf um Dorf, stoppte ihn.

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