Deutliche Brüche charakterisieren den Gang der kirchlichen Soziallehre. Dass sich die heutige katholische Soziallehre widerspruchslos aus Positionen der Kirche des späten 19. Jahrhunderts entwickelt hat, ist ein weit verbreitetes Narrativ, das aber falsch ist. Dies wurde bei einem Workshop am 27. November in Wien deutlich, der von Martin Rhonheimer, dem Präsidenten des Austrian Institute, geleitet wurde.
Anfangs vertrat die Kirche eine mehr staatsskeptische Position und pochte auf den Primat der Freiheit, unterstrich Rhonheimer im voll besetzten Seminarraum. Nach und nach wich die ursprüngliche Haltung der Kirche jedoch zunehmend der Forderung nach staatlichen Strukturen der Zwangssolidarität.
Der „vorsolidaristische“ soziale Katholizismus
Die frühen Vertreter der kirchlichen Soziallehre forderten vom Staat primär Arbeiterschutzgesetze. Einen umverteilenden Sozialstaat, der in die privaten Eigentumsverhältnisse eingreift, lehnten sie hingegen entschieden ab. Nur bei äußerster Lebensnot bestand ihnen zufolge die rechtliche Pflicht, das Eigentum mit den Ärmsten zu teilen.
Der „Arbeiterbischof“ und Gründer der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Bischof Freiherr Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811 – 1877) hielt etwa fest: „Die staatliche Zwangsgerechtigkeit geht nur bis auf eine gewisse Grenze, die zum Schutze aller und zur Ordnung notwendig ist. Von da an beginnt das Gebiet der Freiheit, auch der Freiheit des Eigentums“. Ketteler wehrte sich „gegen ein immer weiter ausgebildetes Steuer- und Zwangssystem, an dem sämtliche Staaten fast zu Grunde gehen und bei denen freie Selbstbestimmung und Gesinnung gänzlich in den Hintergrund treten.“ Vom Staat verlangte er die Beschränkung von Arbeitszeiten, das Verbot der Kinder- und Frauenarbeit und die Sonntagsruhe. Von einem sozialstaatlichen Sicherungssystem sprach er nie.
Als Vorstufe zum modernen Sozialstaat kann man Kettelers Position nicht beschreiben, hielt Martin Rhonheimer fest. Im Gegenteil: Seine Position ist „der Tendenz zur staatlichen Sozialpolitik, zum Versicherungszwang und zum umverteilenden Sozialstaat eher entgegengesetzt.“
Ebenso forderte die Enzyklika „Rerum novarum“ (1891) von Papst Leo XIII. Gesetze zum Schutz der Arbeiter, ohne dabei auf staatliche Sozialversicherungssysteme zu pochen. Für Leo XIII. war das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem des Industriekapitalismus alternativlos. Gegen sozialistische Bestrebungen verteidigte er das Privateigentum, auch unter Rückgriff auf den liberalen Denker John Locke (1632 – 1704). Alle sozialen Pflichten, die über die Hilfe in äußerster, lebensbedrohender Not hinausgehen, sind Leo XIII. zufolge solche der Nächstenliebe und können nicht vom Staat als Zwangsmaßnahmen eingefordert werden. Die „öffentlichen Autoritäten“ sollten „durch entschiedene Maßregeln das Recht und die Sicherheit des privaten Besitzes gewährleisten“.
„Zu den bis heute am weitesten verbreiteten Irrtümern gehört die Meinung, dass die sich zwischen 1750 und 1850 zunehmend ausbreitende Massenarmut (Pauperismus) auf die Industrialisierung zurückgeht“ (Lothar Roos). Wirkmächtigste Verbreitung hat dieser Irrtum durch Friedrich Engels‘ 1845 veröffentlichtes Buch „Die Lage der arbeitenden Massen in England“ gefunden. Wie wir heute wissen, war es gerade die Industrialisierung, die schließlich das seit Jahrhunderten bestehende Problem der Massenarmut und des damit verbundenen Elends gelöst hat. Im Pauperismus trat „eine säkulare Krisensituation zutage, die erst durch den erfolgreichen Industriekapitalismus – nicht Ursache, sonder Retter – bewältigt wurde“ (Hans-Ulrich Wehler).
Georg von Hertling – der vergessene Visionär
Ein wichtiger Repräsentant des politischen Katholizismus des späten 19. Jahrhunderts war der deutsche Zentrumspolitiker, Philosophieprofessor und spätere Reichskanzler Georg von Hertling (1843 – 1919). Die Rechtfertigung für das Eingreifen des Staates erblickte er in grundlegenden Rechten wie jenen auf Existenz, Leben und Gesundheit. Gemäß dem Recht auf Existenz kann die öffentliche Armenpflege nur für äußerte Notsituationen zuständig sein. Sozialpolitik durfte auch Hertling zufolge niemals zum Ersatz für karitative Tätigkeit werden. Im Einklang mit Ketteler und „Rerum novarum“ lehnte Hertling eine Änderung der Eigentumsverhältnisse über Besteuerung, Eingriff in Eigentumsrechte und Umverteilung dezidiert ab.
Erstaunlich weitsichtig waren Hertlings Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage. Hertling setzte seine Hoffnungen ganz in den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt: Durch die „Änderung der Verkehrswege von Verkehrsmitteln“, die Folgen der „Entdeckungen und Erfindungen im Bereiche der industriellen Produktion“ und die „Fortschritte der Elektrotechnik“ werden kleine und mittlere Betriebe produktiver werden und sich daher künftig leisten, „was bisher nur in großen Fabriken mit Dampfkraft geleistet wurde“, prognostizierte er. Die fortschreitende „Dezentralisation der Industrie“ sei „das wirksamste Mittel zur Beseitigung der sozialen Überstände“ und werde einen „wachsenden Wohlstand in den breiten Schichten des Volkes“ nach sich ziehen. Hertlings Hoffnung sollte sich im 20. Jahrhundert bewahrheiten, wenn auch verzögert durch zwei Weltkriege.
Gleichzeitig verteidigte Hertling das freie Unternehmertum gegen staatliche Bevormundung. Er wandte sich gegen „despotische Überspannung staatlicher Macht und staatlicher Befugnis“ und verwies „auf die großen Dienste …, welche die moderne Kultur der freien Initiative Einzelner und dem privaten Unternehmungsgeist verdankt.“ Wer – so fragte sich Hertling – werde noch die „außergewöhnlichen Anstrengungen und Opfer“ des freien Unternehmertums auf sich nehmen, „wenn es kein Wagen und Gewinnen mehr gibt, wenn ein zugleich allwissender und allmächtiger Staat vorschreibt, reglementiert, kontrolliert? Freiheit ist die Lebensluft für alle Kultur, die materielle wie die geistige“.
Rhonheimer konstatierte: „Die katholische Soziallehre des 20. Jahrhunderts entwickelte sich nicht gemäß dem freiheitsbetonten sozialpolitischen Realismus und ökonomischen Weitblick des katholischen Laien Georg von Hertling. Seine Einsicht, die soziale Frage werde letztlich durch den Innovations- und Wachstumsprozess des Industriekapitalismus gelöst, ist der katholischen Soziallehre fremd geblieben.“
Der „dritte Weg“: Die Kirche propagiert eine neue Gesellschaftsordnung
In den folgenden Jahrzehnten wandelte sich die kirchliche Soziallehre erheblich. Es begann eine neue Etappe, die schließlich in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931) von Pius XI. ihren Niederschlag fand. Die Kirche propagierte nun erstmals eine „neue Gesellschaftsordnung“ als „dritten Weg“ zwischen kollektivistischem Sozialismus und individualistischem Kapitalismus. Der Primat der individuellen Freiheit und des Rechts auf Privatbesitz trat in den Hintergrund. Die im Vergleich zu vorher negative Haltung zu Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb war unter dem Einfluss der Historischen Schule der Nationalökonomie entstanden.
Der Jesuit Heinrich Pesch (1854 – 1926) begründete den neuen dritten Weg und stellte ihn in seinem fünfbändigen „Lehrbuch der Nationalökonomie“ als System des Solidarismus vor. Pesch hatte unter anderem bei Adolph Wagner (1835 – 1917), einem Vertreter des „Staatssozialismus“ und Kritiker der liberalen Ökonomie, Nationalökonomie studiert. Nun übernahm Pesch von der Historischen Schule ein „Zerrbild des wirtschaftlichen Liberalismus“ (Rhonheimer), demzufolge lediglich eine Elite der Kapitalbesitzer vom ökonomischen Gesetz profitieren würde, während die Masse der Arbeiter durch ihn im Elend gefangen sei.
Pesch lehnte Markt und Wettbewerb als ökonomische Ordnungsfaktoren ab. Er propagierte stattdessen keinen Staatssozialismus, sondern eine berufsständische Ordnung unter Leitung des Staates, die das „Gesamtwohl des Volkes“ und soziale Gerechtigkeit garantieren würde. Der freie Markt und sein Preissystem als „regelndes Prinzip“ der Volkswirtschaft sollten durch „gemeinwirtschaftliche“ Strukturen ersetzt werden. Erst wenn es die berufsständischen Kräfte nicht schaffen, Lösungen im Dienste des Gemeinwohls zu finden, sollte der Staat eingreifen.
Im Markt und im freien Wettbewerb würden hingegen nur die privaten Interessen und ihre antisozialen Auswirkungen zur Geltung kommen. In deutlichem Kontrast zu Hertling – und zu den historischen Tatsachen – glaubte Pesch, die „freie Konkurrenz“ führe zu Kartellen und zerstöre den Mittelstand. Konkurrenz und Markt konnten für ihn daher keine regulativen Prinzipien für das „Gesamtwohl des Volkes“ mehr sein.
Pesch war kein Etatist. Martin Rhonheimer hielt aber fest: „Das Prinzip der Solidarität, wie es von Pesch verstanden wurde, nämlich als Prinzip der Gemeinhaftung und Ausrichtung der privatwirtschaftlichen Kräfte auf das ‚Gesamtwohl des Volkes’, bleibt ein Einfallstor für Staatsinterventionen.“ Das zeigte sich etwa in der Weimarer Republik als unter dem Einfluss des katholischen Korporatismus Staat und Parlament wegen ständiger staatlicher Interventionen „zugunsten des Gemeinwohls“ schließlich zum Spielball von organisierten Wirtschafts- und Verbandsinteressen wurden.
Peschs Vorstellungen gingen vermittelt durch seine Schüler – die Jesuiten Gustav Grundlach und Oswald von Nell-Breuning – in die Enzyklika „Quadragesimo anno“ ein.
Der baldige Tod von „Quadragesimo anno“ und das spätere Ende des „dritten Wegs“
Nur eine kurze Lebensdauer war jedoch der anfangs von manchen Zeitgenossen bejubelten Gesellschaftsordnung beschieden. Die bekannten Versuche, sie zu verwirklichen (etwa in Österreich und Spanien), diskreditierten die Idee der berufsständischen Ordnung schon bald, sodass sie selbst von Peschs Schülern Ende der 1950er Jahre aufgegeben wurde. „‚Quadragesimo anno’ ist tot“, hielt Nell-Breuning 1971 fest. Der katholischen Soziallehre war damit die gesellschaftlich-wirtschaftliche Ordnungsidee abhanden gekommen. „Was blieb, war ihre von Skepsis bis Abneigung reichende negative Einstellung gegenüber freiem Markt und Wettbewerb“, unterstrich Rhonheimer. Auch die Idee des „dritten Wegs“ blieb zunächst aufrecht.
In der Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Ordnungsidee geriet die Soziallehre „zunehmend in den Sog zeitgeistiger Einflüsse“. Dem Staat wurden immer mehr Funktionen im Bereich der Vorsorge und sozialen Absicherung zugewiesen. Die naturrechtlichen Ideen – anfangs noch ein Bollwerk gegen eine Legitimierung der zunehmenden Ausweitung der Staatsaufgaben – blieben auf der Strecke. So akzeptierte etwa Johannes XXIII. in der Enzyklika „Mater et magistra“ die zunehmende „Vergesellschaftung“ und betrachtete die Ausweitung des Staatseinflusses als „Gesetz der wirtschaftlichen Entwicklung“ und „Fortschritt der Kultur“. Damit wurde „die umverteilende Zwangssolidarität der Staatsgewalt letztlich legitimiert“, hielt Martin Rhonheimer fest.
Das Privateigentum – in „Rerum novarum“ noch Grundlage wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts – geriet immer mehr unter Dauerverdacht. Aus der sozialen Gerechtigkeit wurde eine staatliche organisierte „Verteilungsgerechtigkeit“, sogar im Bereich der privaten Vermögens- und Einkommensverteilung, was Pesch noch ausdrücklich abgelehnt hatte. Einen „Höhepunkt“ der negativen Einstellung gegenüber Marktwirtschaft und Wettbewerb sieht Rhonheimer in der Enzyklika „Populorum progressio“ (1967) von Paul VI., die „eine teilweise Ausschaltung von Marktmechanismen, Schutzzölle, Konsumverzicht in den entwickelten Gesellschaften und eine durch eine Weltautorität organisierte internationale Umverteilung von den reichen zu den armen Ländern forderte.“
Erst „Centesimus annus“ (1991) von Johannes Paul II. verließ die Idee des dritten Wegs. Trotz der darin enthaltenen Kritik an einer „Vergötzung“ des Markts bezeichnet die Enzyklika die Marktwirtschaft als besten und letztlich einzigen Weg zur effizienten Allokation von Ressourcen. Ebenso wird der in eine der menschlichen Würde entsprechenden Rechtsordnung eingebettete Kapitalismus als „Unternehmenswirtschaft“, „Marktwirtschaft“ und „freie Wirtschaft“ anerkannt. Trotz dieser positiven Impulse ortet Rhonheimer auch hier noch bis heute anhaltende zeitgeistige Impulse, die auch in den beiden letzten Sozialenzykliken „Caritas in veritate“ (2009) und „Laudato si“ (2015) anzutreffen sind. Die dortige Argumentationsweise zeuge von Skepsis beziehungsweise Feindschaft gegenüber Kapitalismus, Marktwirtschaft und Wettbewerb.
Erneuerung durch Rückbesinnung auf die Wurzeln?
Heute fehlt der katholischen Soziallehre jene Klarheit und Kohärenz, die eine Lehre eigentlich haben sollte, resümierte Rhonheimer. Er ortet bestenfalls den „Anschein von Kontinuität“ durch das permanente Festhalten an Prinzipien, die allerdings aufgrund jeweiliger zeitgeistiger Einflüsse mehrfach uminterpretiert wurden. Ein Prinzip, das anfangs noch maßgebend war, blieb aber auf der Strecke: „Das Prinzip der individuellen Freiheit und des eng damit verbundenen Eigentumsschutzes.“ Selbstverständlich bedürfe es der Strukturen wirtschaftlich-materieller Absicherung gegen Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit oder Altersarmut, bei denen dem Staat eine vor allem gesetzgeberisch mitgestaltende Aufgabe zukommt. Im freiheitsorientierten Vermächtnis der älteren katholischen Soziallehre könnte Rhonheimer zufolge jedoch der „Schlüssel für eine sozialstaatliche Neuorientierung liegen“. Auf diesem Weg könne auch das ursprüngliche Verständnis anderer Prinzipien wie der Subsidiarität wiedergewonnen werden, denn: „Ohne die Anerkennung der individuellen Freiheit und des Eigentumsschutzes als grundlegende, ja kategorische Sozialprinzipien wird ‚Subsidiarität’ zur Worthülse ohne praktische Orientierungskraft und ‚Solidarität’ zu einer gefährlichen Chiffre für die Rechtfertigung von Staatsinterventionen aller Art.“