Anlässlich der Covid-19-Epidemie, während der nun der Staat gefordert ist, die Bevölkerung zu schützen und das Wirtschaftsleben in Gang zu halten, finden wieder antikapitalistische Schuldzuweisungen Verbreitung, ob in sozialen Medien oder Zeitungen. Von einer „kapitalistischen Pandemie“ sprach gar eine deutsche Wochenzeitung: „Es ist nicht das Virus, das die Menschen tötet, sondern der Kapitalismus.“ Freie Marktwirtschaft und Freihandel werden wieder suspekt, Ausweitung der Staatstätigkeit populär. Manche fordern eine Nationalisierung der Wirtschaft und einen noch stärkeren Staat. Näher besehen entpuppen sich solche Überlegungen als hanebüchen und realitätsfremd.
Die Globalisierung ist nicht schuld, sondern gerade jetzt besonders hilfreich
Ohne die Globalisierung hätte sich das Coronavirus erst gar nicht so schnell weltweit verbreitet, so meinen manche Menschen. Klar ist: Ohne Flugverbindungen zu China wäre das Coronavirus nicht binnen weniger Stunden in andere Erdteile getragen worden. Und Völker, die sich vollständig von der Welt abkapseln (wie etwa die Bewohner der North Sentinel Island in Westindien) kommen höchstwahrscheinlich mit dem Virus erst gar nicht in Berührung.
Allerdings könnte eine Welt bestehend aus Subsistenzwirtschaften das heutige Wohlstandsniveau nicht aufrechterhalten, ja nicht einmal die derzeitige Weltbevölkerung versorgen. Doch auch eine weniger stark vernetzte Welt mit langsameren Reiserouten kann die globale Ausbreitung solcher Epidemien nicht aufhalten. Die Spanische Grippe vor hundert Jahren wütete auf allen Kontinenten, in Großstädten ebenso wie unter indigenen Völkern in Kanada oder auf Neuseeland. Mitte des 14. Jahrhunderts wiederum gelangte der „Schwarze Tod“ über Handelsrouten aus Asien nach Europa, wo er ein geschätztes Drittel der Menschen innerhalb weniger Jahre hinwegraffte.
Der weltweite Wissensaustausch unter Medizinern ist gerade jetzt besonders hilfreich.
Das Tempo von Handelsrouten ändert nichts an der Geschwindigkeit der Mensch-zu-Mensch-Übertragung des Virus. Dafür verfügen heute Ärzte und politische Verantwortungsträger dank Internet und neuen Kommunikationskanälen viel rascher über sämtliche relevante Informationen über das Virus, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo die Ausbreitung bei ihnen noch im Anfangsstadium ist. So können sie vorbeugende Vorbereitungsmaßnahmen wesentlich früher ergreifen. Der weltweite Wissensaustausch unter Medizinern ist gerade jetzt besonders hilfreich, wie etwa Florian A. Hartjen vom Berliner Prometheus-Institut zu Recht festhält. Globale Krisen offenbaren gerade die Wichtigkeit der Globalisierung.
Die globale Arbeitsaufteilung ist für unseren Wohlstand weiterhin unerlässlich
Dem modernen Kapitalismus und der weltweiten Arbeitsaufteilung verdanken wir ein beispielloses Wohlstandswachstum. Hartjen schreibt ebenfalls richtig: „Armut ist das größte Gesundheitsrisiko“. Es sind nicht nur Tourismus-Hotspots, sondern auch ärmliche Gegenden mit geringer Hygiene, die im Handumdrehen zu Infektionsherden werden.
Dennoch kommen einigen nun Zweifel. Die Unterbrechung von Lieferketten aus China hat ihnen die Abhängigkeit von ausländischen Produzenten bewusst gemacht, weshalb sie die weltweite Arbeitsteilung als vermeintlich „neoliberales“ Wirtschaftsmodell kritisieren. Man müsse die Abhängigkeit von Pharmaziezulieferern in Asien unbedingt überwinden. Solche Forderungen nach mehr Autarkie kommen auch aus Politik und Wirtschaft.
Wer teurere Medikamentenherstellungen und -zulieferungen in Kauf nimmt, darf sich danach über den Aufschrei angesichts steigender Gesundheitskosten nicht wundern.
Das Argument kann näher besehen die Globalisierung nicht wirklich in Frage stellen. Grundsätzlich erweitert die Globalisierung ja die Verfügbarkeit möglicher Hersteller und Lieferanten. Auch private Unternehmer können unter dieser Situation auf mehr mögliche Lieferanten zugreifen, wenn sie wollen, nicht ausschließlich auf den billigsten, um nicht nur von ihm abhängig zu sein. Tatsächlich spricht nichts gegen Diversifizierung. Eines muss aber klar sein: Zunächst kauft jeder Dienstleistungen und Güter dort, wo er sie bei gleicher Qualität am günstigsten erhält. Wenn wir Medikamente zu wesentlich höheren Kosten woanders kaufen oder selbst herstellen, so wird das für unser ohnehin teures Gesundheitssystem nicht folgenlos bleiben. (Übrigens: Die Preise für verschreibungspflichtige Medikamente werden nicht von Angebot und Nachfrage bestimmt.) Wer also teurere Medikamentenherstellungen und -zulieferungen in Kauf nimmt, darf sich danach über den Aufschrei angesichts steigender Gesundheitskosten nicht wundern. Sicher ist nur eins: Sobald es sich auszahlt, bei uns zu produzieren, werden es pharmazeutische Unternehmen auch tun.
Wenn man sich auf europäische statt asiatische Hersteller stützt, ersetzt man in Wahrheit eine Abhängigkeit durch eine neue. Die geographische Nähe verkürzt zwar den Transport, macht den Produzenten aber deshalb noch nicht krisenresistenter. Nicht vergessen sollte man im Übrigen: Dank freier Marktwirtschaft und Globalisierung sind in den vergangenen 30 Jahren auch rund eine Milliarde Asiaten aus der Armut in den Mittelstand aufgestiegen.
Ein „neoliberaler Minimalstaat“ wäre jetzt nicht überfordert
Mitunter hört man sogar, die Anforderungen der Coronavirus-Krise würden uns die Unbrauchbarkeit neo-liberaler Staatskonzepte vor Augen führen. Ein ORF-Redakteur meinte im österreichischen Fernsehen: „Es gibt die Botschafter des Neoliberalismus …, die sagen: Man muss einen Staat nur wie ein Unternehmen führen, und dann wird es diesem Staat auch gut gehen. In Tagen wie diesen sieht man, was für ein … nicht zulässiger Zugang das ist.“
Hier wird eine tatsächlich falsche Staatsauffassung für neoliberal erklärt. Liberale (oder wenn man will „neo-liberale“) Denker fordern keineswegs, den Staat wie ein Unternehmen zu führen, ganz im Gegenteil! Der Sozialismus ist es, der versucht, aus dem Staat ein Megaunternehmen zu machen und alle Wirtschaftstätigkeit zu planen. Liberale befürworten einen schlanken, aber effizienten Staat, der seinen Kernaufgaben nachkommt, zu denen der für die Marktwirtschaft unerlässliche Schutz von Privateigentum und Rechtsstaatlichkeit gehören und der deshalb für Krisenzeiten auch Spielräume für kurzzeitige Verschuldung und geldpolitische Lockerungen hat. Dass dies nicht auf Grundlage ausschließlich marktwirtschaftlicher Prinzipien geschehen kann, wusste keiner besser als Ludwig von Mises, einer der schärfsten Kritiker des modernen Wohlfahrtsstaats. In seinem Buch „Die Bürokratie“ schreibt er:
„In der öffentlichen Verwaltung gibt es keinen Zusammenhang zwischen Einkünften und Ausgaben. Die öffentlichen Dienste geben Geld nur aus.“ Dies ist jedoch unvermeidbar, denn: „In der öffentlichen Verwaltung gibt es für Leistung keinen Marktpreis. Das macht es unerlässlich, öffentliche Ämter gemäß Prinzipien zu leiten, die völlig verschieden von denen sind, die unter Gewinnorientierung zur Anwendung kommen.“ All jenen, die eine Anwendung der weniger verschwenderischen Methoden der Privatwirtschaft im staatlichen Sektor fordern, hielt Mises entgegen: Solche Kritik „missversteht die besonderen Eigenheiten der öffentlichen Verwaltung. Sie ist sich des grundlegenden Unterschieds zwischen Staat und gewinnorientiertem privaten Unternehmertum nicht bewusst. Was sie als Mängel und Fehler der Leitung von Verwaltungsbehörden bezeichnet, sind notwendige Eigenschaften. Ein Amt ist kein gewinnorientiertes Unternehmen; es kann keinen Nutzen aus der Wirtschaftsrechnung ziehen; es muss Probleme lösen, die der Privatwirtschaft unbekannt sind.“
Die Vorzüge des liberalen Staatsmodells treten auch in Krisenzeiten deutlich zutage.
Mises war nicht zuletzt aus eigener berufliche Erfahrung mit sämtlichen Mängeln und Herausforderungen staatlicher Verwaltung bestens vertraut, leitete daraus aber nicht ihre Abschaffung ab, sondern forderte vielmehr ihre Beschränkung auf staatliche Kernaufgaben und kritisierte scharf staatliche Behinderung von freier Marktwirtschaft, etwa durch staatlichen Interventionismus.
Die Vorzüge des liberalen Staatsmodells treten auch in Krisenzeiten deutlich zutage. Der liberale Staat schafft Vertrauen zwischen Bürgern und Behörden, und ermöglicht Vertrauen unter den Bürgern. Ohne Vertrauen kann Wirtschaft nicht funktionieren. Ein schlanker und effizienter Staat ist vor allem transparent und damit weniger anfällig für Korruption. Ein solider Föderalismus ist hier hilfreich. Sozialhilfe zum Beispiel, die auf Landes- oder Gemeindeebene organisiert wird – indem die dafür nötigen Steuern eben dort eingehoben und dann als Sozialhilfe ausgezahlt werden – schafft Vertrauen, unter anderem weil die Bevölkerung den Bezieherkreis der Sozialhilfe besser kennt.
Gerade in Krisenzeiten sind eingespielte Organisationsmechanismen innerhalb von Gesellschaften und Vertrauen zu staatlichen Behörden von Vorteil. Ein zentralistischer, paternalistischer Staat hingegen, der weit weniger transparent, dafür für Korruption umso anfälliger ist, verursacht Misstrauen. Das kann in Krisenzeiten umso verhängnisvoller sein. Der Schutz der Bevölkerung vor Seuchen und Epidemien ist eine typische Staatsaufgabe. Eine Epidemie muss zentral bekämpft werden. Gerade ein schlanker Staat ohne starke Verschuldung ist der Aufgabe weit besser gewachsen. Genau hier liegt in Wahrheit das Problem sämtlicher europäischer Staaten: Sie können diese Aufgabe nicht so gut wahrnehmen, weil sie durch einen hohen Verschuldungsgrad infolge sozialstaatlicher Aktivität wirtschaftlich enorm geschwächt und verwundbar sind.
Man sieht: Das Fortbestehen der freien Marktwirtschaft und die Wiedergewinnung eines schlanken Staates, ohne hohe Staatsquote, der deshalb auch Reserven für Krisenzeiten besitzt, ist für unsere Gesellschaft und die Bewahrung unseres Wohlstands essenziell. So war es vor der Coronavirus-Krise, so wird es auch danach sein.