Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir bei jeder Furcht vor einer Rezession nach dem Staat rufen. Da sich die Fiskalpolitiker in den siebziger Jahren als inkompetente Konjunkturpolitiker erwiesen haben, sollen es seitdem vornehmlich die Zentralbanker richten. Immer wieder haben sie seit den achtziger Jahren bei einer drohenden Rezession die Zinsen gesenkt, sich aber nicht getraut, diese im folgenden Aufschwung wieder in gleichem Maße zu erhöhen. Auf diese Weise haben sie die Zinsen über die Zeit herunter geschleust. Mit Zinssenkungen haben sie den Finanzsektor gefüttert und die „Finanzialisierung“ der Wirtschaft so weit vorangetrieben, bis der Finanzsektor gewichtig genug war, die Regie in der Wirtschaftspolitik selbst in die Hand zu nehmen.
Heute lassen sich die Zentralbanker von den Aktien- und Kreditmärkten sagen, was sie zu tun haben, denn sie hoffen, durch die Befeuerung dieser Märkte die Konjunktur zu stützen. Es passt ins Bild, dass die US Federal Reserve am 3. März ihren Leitzins senkte, nachdem der amerikanische Aktienmarkt in der Vorwoche um mehr als 10 Prozent gefallen war. Andere Zentralbanken haben nachgezogen, wobei sich die Europäische Zentralbank mangels Zinssenkungsspielraum auf Kredithilfen beschränken musste.
Es besteht die Gefahr, dass es massenhaft zu Zahlungsausfällen kommt und zur Gesundheitskrise eine Finanzkrise hinzukommt.
Gegen das Corona Virus wirken pure Leitzinssenkungen der Zentralbanken wie eine Schluckimpfung gegen Kinderlähmung. Aus Furcht vor Ansteckung verringern oder unterbrechen die Menschen den Umgang miteinander und damit ihre Geschäfte. Sowohl die Produktion als auch die Nachfrage stocken. Solange die Ansteckungen zunehmen, wächst auch die Furcht, und die Menschen halten sich zurück. Der Staat verordnet Kontaktsperren. Noch niedrigere Zinsen können das nicht ändern. Aber durch die Verringerung und Unterbrechung der Geschäfte können Schuldner in Zahlungsschwierigkeiten kommen. Brechen die Einnahmen weg, fehlen die Mittel zum Schuldendienst. Das kann private Haushalte, Selbstständige und Unternehmen aller Größenklassen treffen. Es besteht die Gefahr, dass es massenhaft zu Zahlungsausfällen kommt und zur Gesundheitskrise eine Finanzkrise hinzukommt.
Aus diesem Grund ergeben von Staaten und Zentralbanken gewährte Überbrückungshilfen durchaus Sinn. Umfang und Länge dieser Hilfen werden von der Dynamik der Infektionsrate und der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssektors zur Versorgung der ernstlich Erkrankten bestimmt. Je größer die Dynamik der Infektion und je schwächer der Gesundheitssektor, desto härter und länger müssen die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung ausfallen und Überbrückungshilfen gewährt werden. Da aber eine Wirtschaft Belastungsgrenzen hat, muss mit aller Kraft an der Stärkung des Gesundheitssektors und an Techniken der selektiven sozialen Distanzierung zum Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen gearbeitet werden.
Durch das Aufpäppeln mit niedrigen Zinsen hat sich die Zahl der schwachen Unternehmen so vergrößert, dass ihr Scheitern zu einer Bedrohung für den ebenfalls hoch verschuldeten Rest der Wirtschaft geworden ist.
Von der Unterbrechung der Geschäfte sind nicht nur gesunde, sondern auch schwache und kranke Unternehmen betroffen. Aufgrund von niedrigen Erlösen und hohen Schulden konnten sie schon vor der Krise nur durch die Beatmung mit den von Zentralbanken geschaffenen Niedrigzinsen überleben. Eine Marktwirtschaft erneuert sich aber fortwährend dadurch, dass schwache Unternehmen scheitern und neuen Platz machen. Durch das Aufpäppeln mit niedrigen Zinsen hat sich die Zahl der schwachen Unternehmen so vergrößert, dass ihr Scheitern zu einer Bedrohung für den ebenfalls hoch verschuldeten Rest der Wirtschaft geworden ist. Das Gespenst der „Schuldendeflation“ geht um, in der die Schuldner wie eine Reihe von Dominosteinen nacheinander fallen und die Wirtschaft in den Abgrund ziehen. Auch deshalb wird die Wirtschaftspolitik mit Kredithilfen nicht sparen. Aber der Preis für den Erhalt von schon vor der Krise aus eigener Kraft nicht lebensfähiger Unternehmen wird eine weitere strukturelle Schwächung der Wirtschaft sein. Und die Steuerzahler werden belastet, wenn besonders schwache Schuldner auch nach dem Abklingen der Corona Epidemie ihre Schulden nicht zurückzahlen können.
Die Corona Epidemie ist ein Weckruf zur Schaffung von mehr Robustheit in der Wirtschaft und im Finanzsektor. Wir müssen globale Wertschöpfungsketten resilienter machen, indem wir Puffer in Form größerer Vorratshaltung einbauen. Und natürlich werden wir in Zukunft mehr im virtuellen Raum arbeiten. Aber wir müssen die Wirtschaft nach der Corona Krise auch von der durch die Zentralbanken verabreichten Droge der Niedrigzinsen befreien. Diese Droge hat Fragilität geschaffen. Ihre halluzinogene Wirkung ist verbraucht, aber ihre schädlichen Wirkungen sind für die Marktwirtschaft inzwischen lebensbedrohlich geworden.