Das Buch „Weltreise eines Kapitalisten. Auf der Suche nach den Ursachen von Armut und Reichtum“ des deutschen Historikers, Soziologen und Bestsellerautors Rainer Zitelmann ist, wie der Titel verrät, ein Reisetagebuch. Der bekennende Liberale besuchte zwischen April 2022 und Dezember 2023 insgesamt 30 Länder auf vier Kontinenten, einige davon mehrmals. Überall sprach er mit Kämpfern für die Freiheit, darunter Präsidenten von Think Tanks, Unternehmer, Politiker und Journalisten. In den Gesprächen ging es stets um die Chancen für mehr wirtschaftliche Freiheit in den jeweiligen Ländern, aber auch um Entwicklungen hin zu mehr Interventionismus, Sozialismus und Zensur.
Das Buch hält einige Überraschungen bereit: In einigen wirtschaftsliberalen Ländern ist die Bevölkerung mehrheitlich kapitalismuskritisch, während in wirtschaftlich unfreien Ländern die Zustimmung zum Kapitalismus wächst.
Zitelmann hat sich mit der Geschichte aller Länder beschäftigt und in Umfragen die Einstellung der Menschen zu Kapitalismus und Marktwirtschaft ermittelt. Das Buch hält einige Überraschungen bereit: In einigen wirtschaftsliberalen Ländern ist die Bevölkerung mehrheitlich kapitalismuskritisch, während in wirtschaftlich unfreien Ländern die Zustimmung zum Kapitalismus wächst. Dass Paraguay jungen Unternehmern viele Chancen bietet, ist ungewöhnlich, die politische Heimatlosigkeit, die viele Liberale in den USA angesichts des dortigen Zwei-Parteien-Systems zunehmend empfinden, bedenkenswert.
Im Interview mit dem Austrian Institute spricht Zitelmann über die gemeinsamen Überzeugungen aller Liberalen und ihre Differenzen, vor allem in der Geopolitik. Er spricht über die wichtigsten Ideengeber der libertären Bewegung und über Rückschläge durch den neuen Sozialismus und einen rechten Antikapitalismus. Erfolgversprechende und weniger erfolgversprechende Strategien libertärer Vorkämpfer werden ebenso diskutiert wie die Bedeutung von Think Tanks.
Darüber hinaus gibt der Bestsellerautor einen Einblick in die Situation Argentiniens und die Erfolgsaussichten des dortigen Präsidenten Javier Milei, der sich selbst als „Anarchokapitalisten“ bezeichnet. Schließlich widmet sich das Interview der Situation in den USA, wo der American Dream weiterlebt, die Freiheit aber durch den (Un)Geist an den Universitäten bedroht wird.
Austrian Institute: Einige Ihrer Gesprächspartner bezeichnen sich in Ihrem jüngsten Buch als Libertäre, andere als klassische Liberale oder Wirtschaftsliberale. Sind diese Begriffe Ihrer Meinung nach Synonyme?
Rainer Zitelman: Es gibt so viele Unterschiede innerhalb der libertären und der liberalen Bewegung, dass die Grenzen schwer abzustecken sind. Liberale in den USA bezeichnen sich als „libertär“ oder „klassisch liberal“, weil der Begriff „liberal“ dort heute leider gleichbedeutend ist mit links.
Wie würden Sie sich selbst beschreiben?
Ich bezeichne mich als radikalen Anti-Utopisten und Anti-Konstruktivisten. Deshalb bin ich skeptisch gegen jede Art von Gesellschaftskonstruktion. „Ismen“ führen leicht zu Dogmatismus. Aber mir sind klassisch-liberale Denker wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek nahe.
Manche Libertäre, darunter sogar Argentiniens zurzeit sehr erfolgreicher Präsident Javier Milei, bezeichnen sich als Anarchokapitalisten. Das ist irreführend: Oft fehlt im Gegenteil ein effizienter Staat, damit Kapitalismus überhaupt entstehen kann. Diesen Eindruck gewinnt man auch beim Lesen Ihres Buches.
Deshalb bezeichne ich mich auch nicht als Anarchokapitalist. Ich bin sogar der Meinung, dass der Staat in manchen Bereichen viel zu schwach ist. Zum Beispiel in Deutschland: Unsere Bundeswehr könnte das Land nur wenige Tage verteidigen, die Ausstattung der Polizei ist jämmerlich. Der Staat ist überall zu schwach, wo er stark sein sollte – vor allem im Bereich innere und äußere Sicherheit – und überall zu stark, wo er schwach sein sollte (zum Beispiel in der Wirtschaft und im Bereich der Meinungsbildung/Presse).
Ihr Buch erwähnt überdies Meinungsverschiedenheiten innerhalb der libertären Bewegung. Könnte es sein, dass die vor allem bei geopolitischen Fragen zutage treten, zum Beispiel bei der Rolle der USA in der Ukraine?
Ja, Libertäre wie Javier Milei und das sehr wichtige Atlas-Network, dessen führende Leute wie Brad Lips und Tom Palmer mich mit Kontakten unterstützt haben, sind klar auf der Seite der Ukraine und gegen Putin. Leider gibt es aber in der libertären Bewegung, zum Beispiel in den USA, auch Pazifisten, Isolationisten usw. die gegen eine Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Imperialismus sind.
Freiheit ist nie politisch links
Polarisieren unter Libertären auch Persönlichkeiten eines neuen Rechtspopulismus wie Donald Trump?
Die meisten Libertären, die ich kenne, sind klar gegen Trump. Trump ist kein Freiheitsfreund und steht auch für Protektionismus und extreme Staatsverschuldung. Andererseits hat er ein paar gute Sachen gemacht, zum Beispiel die Steuern gesenkt und in einigen Bereichen dereguliert. Deshalb sehen manche Libertäre Trump als das kleinere Übel im Vergleich zu Harris.
Der Staat soll sich auf Kernaufgaben wie innere und äußere Sicherheit beschränken und sich aus der Wirtschaft raushalten. Er soll nur einige Rahmenbedingungen setzen. Wichtig ist vor allem der Rechtsstaat.
Könnten Sie ein paar libertäre Kernüberzeugungen formulieren, die auf jeden Fall in ein gemeinsames libertäres Manifest einfließen würden?
Ich belasse es mal bei fünf:
- Erstens: Tritt dafür ein, dass Menschen auch Dinge tun und Meinungen vertreten dürfen, die du selbst total ablehnst. Daraus folgt auch: Keine Einschränkung der Meinungsfreiheit durch den Staat.
- Zweitens: Der Staat soll sich auf Kernaufgaben wie innere und äußere Sicherheit beschränken und sich aus der Wirtschaft raushalten. Er soll nur einige Rahmenbedingungen setzen. Wichtig ist vor allem der Rechtsstaat.
- Drittens: das Menschenbild. Sieh dich nicht als Opfer, sondern als Gestalter deines Schicksals.
- Viertens: Freiheit ist wichtiger als Gleichheit. Nur Gleichheit vor dem Gesetz ist wichtig, Gleichmacher-Ideologien wie Sozialismus und Feminismus sind abzulehnen.
- Fünftens: Privateigentum ist die Basis der Freiheit, wobei Eigentum nicht zum leeren Rechtstitel verkommen darf – entscheidend ist, dass der Eigentümer tatsächlich die Verfügungsgewalt hat und nicht der Staat.
Vereint die libertäre Bewegung politisch rechte und linke Elemente?
Freiheit ist nie links, denn links will Gleichheit statt Freiheit. Wenn man als „rechts“ Anti-Egalitarismus ansieht, dann sind Libertäre rechts. Es gibt einzelne Themen, wie zum Beispiel das Eintreten für Drogenfreigabe, die man ansonsten eher mit Linken in Verbindung bringt.
„Ohne Think Tanks wären Reagan, Thatcher oder Milei nie möglich geworden“
Gibt es für Libertäre bzw. klassisch Liberale in der Politik naheliegende und weniger naheliegende Bündnispartner?
Libertäre konnten meist nur dann politische Wirksamkeit entfalten, wenn sie sich mit Konservativen verbündet haben. Das war so bei Ronald Reagan und Margaret Thatcher und ist auch so bei Javier Milei.
Ihre Gesprächspartner wurden meist von prominenten Denkern des 20. Jahrhunderts inspiriert. Wer waren die einflussreichsten Köpfe?
Am häufigsten genannt wurden Ökonomen wie Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises und Milton Friedman, aber auch die Schriftstellerin Ayn Rand. Alle vereint, dass sie Denker der Freiheit waren, mit besonderer Betonung auf wirtschaftlicher Freiheit.
Hayek und Mises waren Theoretiker der Österreichischen Schule, deren Vertreter sich bis heute oft gegen den ökonomischen Mainstream an vielen Universitäten stellen. Ist liberales Denken eher in Think Tanks als an Universitäten anzutreffen?
Die Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten sind traurige Veranstaltungen. Ich traf gestern meinen Freund, den ehemaligen polnischen Finanzminister Leszek Balzerowicz. Er legte mit seinen marktwirtschaftlichen Reformen die Basis dafür, dass Polen seit drei Jahrzehnten Europas Wachstumschampion ist. Er ist selbst Ökonom, erzählte mir aber, damals habe es eine gemeinsame Erklärung von fast 400 Ökonomen gegeben, die sich gegen seine Reformen aussprachen.
Bevor sich die Politik ändert, muss sich das Denken der Menschen ändern. Das ist bei Nationen so wie beim einzelnen Menschen. Wenn du dein Leben ändern willst, musst du davor dein Denken ändern.
Sie haben in allen Ländern – von Georgien bis Lateinamerika – Gründer und Präsidenten von Think Tanks getroffen. Wie wichtig war und ist die Rolle dieser Think Tanks für die Verwirklichung liberaler Politik?
Ohne die Vorarbeit von Think Tanks wären Politiker wie Ronald Reagan, Maggi Thatcher oder Javier Milei nie möglich geworden. Think Tanks legen die geistige Grundlage für Änderungen.
In Argentinien, das von peronistischen und marktfeindlichen Regierungen heruntergewirtschaftet wurde, herrschte schon vor dem Wahlsieg Mileis ein kapitalismusfreundliches Klima. Das haben Sie über eine von Ihnen in Auftrag gegebene Umfrage herausgefunden. In der marktliberalen Schweiz denken die Menschen andererseits ebenso kapitalismuskritisch wie auch ansonsten in Kontinentaleuropa. Liegt das ebenfalls an den Think Tanks?
Ja, genau. Das ist ein gutes Beispiel. Bevor sich die Politik ändert, muss sich das Denken der Menschen ändern. Das ist bei Nationen so wie beim einzelnen Menschen. Wenn du dein Leben ändern willst, musst du davor dein Denken ändern.
Meine Studie zum Image von Marktwirtschaft und Kapitalismus hatte deshalb möglicherweise prognostische Kraft. Das zeigen zum Beispiel die Ergebnisse in Chile und in Argentinien, die zunächst viele Menschen verwundert haben. Unsere Befragungen wurden jedoch durch die danach stattgefundenen Wahlen in beiden Ländern in ungewöhnlich klarer Weise bestätigt.
Chile ist seit vielen Jahren im Index of Economic Freedom eines der wirtschaftlich freiesten Länder, sehr viel freier als zum Beispiel Argentinien. Im Juli/August 2021 ergab unsere Befragung in Chile jedoch ein negatives Image für Marktwirtschaft und Kapitalismus, im Dezember 2021 wählten die Chilenen dann in der Tat den Sozialisten Gabriel Boric. Im April 2022 ergab unsere Befragung, dass Argentinien zu den Ländern mit dem positivsten Image der Marktwirtschaft gehört, was viele wunderte, doch im Dezember 2023 wählten die Argentinier den Anarchokapitalisten Javier Milei.
Die Schweiz ist zusammen mit Singapur das wirtschaftlich freieste Land der Welt. Aber in unserer Befragung waren die Schweizer ähnlich antikapitalistisch wie die Deutschen. Ich hatte deshalb vorhergesagt, dass künftige Volksabstimmungen nicht mehr unbedingt pro-marktwirtschaftlich ausfallen würden. Leider hatte sich das wenige Monate später bestätigt.
Think Tanks müssen finanziert werden, meist von erfolgreichen Unternehmern und Investoren, denen die freie Marktwirtschaft am Herzen liegt. Sind Unternehmer in Deutschland hier zurückhaltender als in anderen Ländern?
In allen Ländern tun Unternehmer viel zu wenig, um Think Tanks zu unterstützen, die haben es überall schwer. Aber ja, in Deutschland ist es nochmal schwieriger als zum Beispiel in den USA.
Die von mir in Auftrag gegebenen Meinungsumfragen zum Image des Kapitalismus und der Reichen haben mich 660.000 Euro gekostet. Ich habe das alles aus eigener Tasche bezahlt – und das nicht deshalb, weil ich nicht andere Ideen hätte, was man mit dem Geld machen könnte.
Liberale überzeugen mehr mit Emotionen als mit Zahlen
Einer Ihrer Gesprächspartner – Axel Kaiser in Chile, der als prominentester Verfechter libertärer Ideen in Lateinamerika gilt – meinte: Liberale sollten die Öffentlichkeit weniger mit Zahlen und Statistiken überzeugen, sondern mehr auf die Gefühle der Menschen setzen. Stimmen Sie ihm mit Blick auf die unterschiedlichen „Erfolgsbilanzen“ der Libertären zu?
Es gibt drei Arten, wie Sie überzeugen können. Erstens mit Theorien. Das ist der schwierigste Weg, weil die meisten Menschen dazu keinen Zugang haben. Das ist aber die bevorzugte Art von Libertären, zu argumentieren. Zweitens mit Berichten aus der Geschichte. Das ist das, was ich in vielen meiner Bücher und Filme mache, und schon ein wenig besser. Drittens aber sind Emotionen am wichtigsten. Das erfolgreichste libertäre Buch war kein Sachbuch, sondern ein Roman, Ayn Rands Buch „Atlas Shrugged“, von dem etwa zehn Millionen Exemplare verkauft wurden. Selbst Hayeks „Road to Serfdom“ wurde „nur“ zwei Millionen Mal verkauft. Nachdem ich 29 Sachbücher geschrieben und herausgegeben habe, wird mein nächstes Buch ein Roman.
Als Ludwig Erhard mit seinen marktwirtschaftlichen Reformen begann, war die Mehrheit der Deutschen noch sozialistisch bzw. etatistisch eingestellt.
Interessant ist das marktliberale Uruguay: Dort scheint die Marktwirtschaft von oben durch die Regierung umgesetzt zu werden, obwohl es keine starke libertäre Bewegung im Land gibt wie etwa in Argentinien. Das scheint aber die Ausnahme zu sein?
Das gab es auch in Deutschland. Als Ludwig Erhard mit seinen marktwirtschaftlichen Reformen begann, war die Mehrheit der Deutschen noch sozialistisch bzw. etatistisch eingestellt.
Mit Blick auf die Zukunft: Für welche Länder sind Sie besonders optimistisch? Welche Länder werden sich in diesem Jahrzehnt in Richtung mehr Marktwirtschaft bewegen?
Ich hoffe, dass Milei in Argentinien Erfolg haben wird. Das hängt vor allem davon ab, ob er selbst gesund bleibt und davon, ob die Argentinier Geduld mit ihm haben. Wenn er Erfolg hat, wird das weltweite Auswirkungen haben und zuerst zu einer kapitalistischen Revolution in Lateinamerika führen.
Optimistisch bin ich weniger für ein Land als für eine Branche: die Space-Industrie, die immer mehr an Bedeutung gewinnt. Nirgendwo sonst zeigt sich die Überlegenheit des Unternehmertums gegenüber dem Staat so deutlich wie hier. Elon Musk hat das eben erst wieder mit seinem sensationellen fünften Testflug des Starships bewiesen. Er hat damit etwas geleistet, was kein staatliches Raumfahrtunternehmen auf der Welt in Jahrzehnten geschafft hat.
Fast überall auf der Welt gibt es einen Trend zu weniger wirtschaftlicher Freiheit
Für welche Länder sind Sie pessimistisch? Wo erwarten Sie eine Abnahme der wirtschaftlichen und/oder politischen Freiheit?
Ich sehe fast überall auf der Welt eine Tendenz in Richtung weniger wirtschaftliche Freiheit. In China seit Xi Jinping an der Macht ist, fast überall in Südamerika (Chile, Bolivien, Brasilien, Kolumbien usw.), in den USA und sowieso in Europa.
Gibt es Ihrer Meinung nach eine Pendelbewegung, etwa mit Blick auf Chile und Argentinien?
Dass das Pendel in die freiheitliche Richtung ausschlägt, ist eher selten. Häufiger ist es so, dass die Menschen nach einigen Jahren vergessen, dass der Kapitalismus ihre Länder erfolgreich gemacht hat und wieder den Verlockungen der Umverteiler erliegen. Kapitalistische Reformen hat es stets erst dann gegeben, wenn Etatisten zuvor die Wirtschaft eines Landes an die Wand gefahren haben.
Worauf führen Sie den Vormarsch des Antikapitalismus 35 Jahre nach dem Fall der Mauer zurück?
Auf die Vergesslichkeit der Menschen. Und darauf, dass die Schüler im Schulunterricht nichts über die verbrecherische Geschichte des Sozialismus lernen. Ich habe in allen meinen Vorträgen stets die Frage gestellt, ob die Zuhörer in der Schule etwas von Maos „Großem Sprung nach vorne“ gelernt haben. Das war das größte sozialistische Experiment der Menschheitsgeschichte, bei dem von 1958 bis zum Jahr 1962 45 Millionen Menschen umkamen. Egal, wo ich fragte, ob in Lateinamerika, Asien, den USA oder Europa: Stets meldeten sich nur ganz wenige Menschen, 95 Prozent hatten nie davon gehört. Das Problem ist: Sozialismus sieht auf dem Papier immer schön aus, außer wenn das Papier ein Geschichtsbuch ist.
Ihre Gesprächspartner in Argentinien sind mit Blick auf Milei unterschiedlich zuversichtlich. Einige befürchten, die Argentinier werden unpopuläre Maßnahmen nicht lange durchhalten. Wie schätzen Sie die Lage dort ein?
Es wird entweder ein Riesenerfolg oder aber die Argentinier verlieren die Geduld. Denn bevor Dinge besser werden, werden erstmal einige Dinge schlechter, wie auch die Erfahrungen der Reformen von Thatcher und Balcerowicz zeigen. Ob die Argentinier die Geduld haben werden, vielleicht zwei Jahre zu überstehen, in denen manches schlechter wird, ist schwer zu sagen.
Strahlt das Beispiel Argentiniens bereits auf andere Länder in Lateinamerika aus?
Klar, da schaut man sehr genau auf Argentinien. In Chile beispielsweise ist Milei ein Hoffnungsträger für viele Menschen.
Der klassische Sozialismus wollte alle Produktionsmittel verstaatlichen. Der moderne Sozialismus lässt die Produktionsmittel scheinbar im Privatbesitz, aber der Inhalt des Eigentums wird immer weiter ausgehöhlt, sodass am Ende nur noch der formale Rechtstitel übrig bleibt.
Bis 1989 gab es mit dem Realsozialismus ein Gegenmodell zu Liberalismus und Kapitalismus. Unterscheidet sich der heutige Sozialismus von dem des Kalten Krieges?
Ich unterscheide zwischen dem alten und dem modernen Sozialismus. Der klassische Sozialismus wollte alle Produktionsmittel verstaatlichen. Der moderne Sozialismus lässt die Produktionsmittel scheinbar im Privatbesitz, aber der Inhalt des Eigentums wird immer weiter ausgehöhlt, sodass am Ende nur noch der formale Rechtstitel übrig bleibt. Der Unternehmer kann dann nicht mehr frei entscheiden, was er mit dem Eigentum macht, sondern wird zum Befehlsempfänger des Staates.
Sind die Gegner des Liberalismus immer nur links?
Auch im konservativen und rechten Lager findet Antikapitalismus immer mehr Zustimmung. Die PiS-Partei in Polen oder die Le-Pen-Bewegung in Frankreich sind in weiten Teilen antikapitalistisch. Auch in den USA spielt rechter Antikapitalismus eine immer größere Rolle. Und in Deutschland sind Leute wie Björn Höcke (Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag) dem rechten Antikapitalismus zuzuordnen. Lesen Sie mal die Bücher von Höckes Vordenker Benedikt Kaiser: Dessen Hauptfeind sind Mises, Hayek und Friedman, während er positiv Marx, Engels, Marcuse und Piketty zitiert.
Sie haben ihre Gesprächspartner immer nach ihren drei wichtigsten Reformvorschlägen für ihre Länder gefragt. Zusammenfassend: Was sind die wichtigsten politischen Schritte für einen liberalen Wandel?
Privatisierung, Steuersenkung, Rückzug des Staates aus vielen Gebieten, Deregulierung, Schluss mit Umverteilung und Schuldenmacherei.
Sie waren mehrfach in den Vereinigten Staaten und lehnen Kassandrarufe über einen wirtschaftlichen Niedergang der USA zu Recht ab. Dennoch: Gibt es Probleme, die sich langfristig als gefährlich erweisen könnten, etwa das als unzureichend empfundene Zweiparteiensystem und die hohe Staatsverschuldung?
Anders als wir in Europa denken, gibt es einen gigantischen Wohlfahrtsstaat in den USA. Ich nenne dazu einige Zahlen und Fakten in meinem Buch. Und das ist auch der Grund für die katastrophale Staatsverschuldung.
Die Gesamteinnahmen der US-Regierung im Fiskaljahr 2024 (das endete am 30. September) betrugen 4,918 Billionen US-Dollar, die Zinsen auf die Staatsverschuldung im gleichen Zeitraum betrugen 1,133 Billionen US-Dollar. Das heißt: 23 Prozent aller Staatseinnahmen fließen in die Zinsen für die Staatsverschuldung.
Lange Zeit strahlten die USA einen – von Europäern oft als naiv belächelten – Optimismus aus, der Wesenskern des American Dream war. Haben linke Identitätspolitik, Postkolonialismus und Wokeness das in den vergangenen 15 Jahren verändert? Stellen diese Bewegungen Ihrer Beobachtung nach eine wachsende Gefahr für den amerikanischen Traum dar?
Ich habe in den vergangenen Monaten etwa 100 Radiointerviews in den USA gegeben und war immer wieder dort. Der amerikanische Traum ist nicht tot. Aber an den Universitäten ist die Freiheit fast tot. Hier herrschen Konformismus, Postkolonialismus, linke Ideologie. Kürzlich hörte ich einen Vortrag des Bestsellerautors Steven Pinker und bat ihn anschließend, mir die Auswertung der Umfrageergebnisse zur politischen Orientierung des Lehrpersonals an der Harvard University zu mailen:
37,43 Prozent wurden als „sehr liberal“ eingestuft (wobei „liberal“ in den Vereinigten Staaten gleichbedeutend mit „links“ ist).
45,03 Prozent wurden als „liberal“ (also links) eingestuft.
6,08 Prozent wurden als „gemäßigt“ eingestuft.
1,46 Prozent wurden als „konservativ“ oder „sehr konservativ“ eingestuft.
Die Fragen wurden von Stefan Beig gestellt.
Zur Person
Dr. Dr. Rainer Zitelmann studierte Geschichte und Politikwissenschaft und promovierte 1986 in Geschichte „mit Auszeichnung“. Danach war er Wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin, Cheflektor des Ullstein-Propyläen-Verlages und Ressortleiter der „Welt“.
2000 gründete er die Dr.ZitelmannPB.GmbH, die Marktführer für die Kommunikationsberatung von Immobilienunternehmen war. 2016 verkaufte er die Firma und promovierte in Soziologie über die „Psychologie der Superreichen“. Zitelmann hat 29 Bücher geschrieben und herausgegeben, die weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. In den vergangenen Jahren schrieb er Artikel oder gab Interviews in führenden Medien wie „Wall Street Journal“, „Times“, „Forbes“, „Newsweek“, „Daily Telegraph“, „Le Monde“, „Corriere de la Sera“, „Israel Hayom“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Neue Zürcher Zeitung“, „Der Spiegel“ und zahlreichen Medien in Lateinamerika und Asien.