Die Berufslehre verhindert die Desindustrialisierung, sie schafft Exporte, höhere Einkommen und Vollbeschäftigung. Denn mit der Berufslehre erhalten Deutschland, Österreich und die Schweiz, teils auch Skandinavien und Holland, einen riesigen Pool von Spezialisten und Facharbeitern. Die Angelsachsen, Frankreich und Südeuropa schaffen dies nicht, sie klagen über Desindustrialisierung. Ihre Handelsbilanzen sind schief und in roten Zahlen.
Der große Pool an Fachleuten, übrigens auch in den Diensten, stellt ein öffentliches Gut dar. Ein Gut also, das enorm wichtig ist, das von allen Firmen angezapft werden kann. Es kennt kein Ausschlussprinzip. Dies aber scheint ein großes ökonomisches Wunder zu sein. Viele sogenannte öffentliche Güter, wie Sicherheit, Verteidigung, Feuerschutz, von deren Gebrauch niemand ausgeschlossen werden kann, kommen – so steht es zumindest in den Standardlehrbüchern – nur zustande durch staatlichen Befehl und staatliche Mittel. Die Berufslehre ist ein Beispiel dafür, dass es auch anders geht und der Markt selbst ein öffentliches Gut hervorzubringen vermag.
Dies geschieht folgendermaßen: So lange der einzelne Betrieb in Gewerbe, Handel, Industrie einen Gewinn aus dem Auszubildenden, früher Lehrling genannt, ziehen kann, so lange bieten diese Betriebe Lehrstellen an. Der Lehrlingslohn ist nicht sehr hoch, und die vielleicht kostspieligen ersten ein, zwei Jahre rechnen sich für den Betrieb im dritten und vierten Jahr, wenn die Jungen schon tüchtig und selbständig arbeiten können. Ein Beispiel aus meinem Heizungskeller vor zwei Jahren zeigt dies plastisch. Für eine Reparatur sandte die Heizungsfirma zwei Lehrlinge, einen im vierten und einen im zweiten Lehrjahr. Sie reparierten zur vollen Zufriedenheit, und auf der Rechnung kosteten mich ihre Stunden 50 Franken. Sonst verrechnet die Firma die Heizungsmonteure für 100 Franken. Damit kam ich als Kunde zu einer günstigen Reparatur, finanzierte zwei Lehrlinge zwei Tage lang, und die Firma kann die 800-900 Franken Monatslohn der zwei leicht bezahlen – und gewinnt eben dabei noch. Die zwei Jungen zahlten damit ihr „Lehrgeld“ indirekt an die Firma zurück. So lange der Staat nicht mit unerhörten Auflagen dreinfunkt, werden deshalb Hunderttausende andere Firmen im Lande Junge einstellen und ausbilden. Als Resultat erneuert sich der gewerbliche Talentpool auf Jahrzehnte hinaus. Die einzelnen Firmen schaffen ein öffentliches Gut.
Nicht dreinfunken – zwar sind die Jungarbeiter obligatorisch ein, zwei Tage in der öffentlichen Gewerbeschule, zwar ist ihr Lohn meist in Tarifverträgen festgelegt, zwar hat der Lehrbetrieb ein Ausbildungsprogramm zu gewährleisten, doch im Ganzen eben trägt sich das System selbst. In der Schweiz dauern die Berufslehren meist ein Jahr länger als in Deutschland, dieses Jahr rentiert besonders, weshalb es tatsächlich keine staatlichen Anreize braucht, auch keine Umlage zu Lasten der nicht ausbildenden Firmen. Auch sind in der Schweiz keine Eintrittsuntersuchungen vorgeschrieben, der Einstellungsvertrag ist anderthalb Seiten lang. Die ausbildende Person muss Facharbeiter sein und einen kurzen Kurs besucht haben. Die öffentliche Gewerbeschule sichert ihrerseits die Grundkenntnisse an Englisch, Buchführung, Rechtskunde der künftigen industriellen Fachleute und der Handelsangestellten in der Gewerbeschule.
Die Länder ohne Berufslehre hingegen leiden unter der Desindustrialisierung und auch ihre Dienstleistungen bieten oft einen banalen Standard. Ihre Absolventen der Gymnasien hingegen sind nicht „employable“, und ein großer Teil der Jahrgänge bleibt überhaupt ohne Ausbildung – die Zweiteilung der Gesellschaft ist vorgespurt. In Frankreich und den Ländern Südeuropas verhindern teils zu hohe, den vollen Arbeitskräften entsprechende Mindestlöhne die Lehre, oder ganz kurze gesetzliche Maximaldauern der Lehre, die sich für die Firmen nicht rechnen. Der Bildungsökonom Prof. Stefan C. Wolter stellt in seinen Schriften solche guten und schlechten Bedingungen für ein echtes Berufsbildungswesen vor.
Wollten diese Länder sich verbessern, müssten sie nicht zur teuren Mittelschulstruktur auch noch Gewerbeschulen aufbauen. Sondern sie müssten den Mut haben, die Gymnasiallehrer zu Berufsschullehrern umzuschulen, und eben den Betrieben möglichst freien Lauf zur Beschäftigung Junger lassen.
Doch auch in den Köpfen muss sich vieles ändern, etwa bei den Eltern, die mit Freuden ihre Töchter und Söhne in eine gute Lehre senden, sie nicht aufs Gymnasium zwängen. Diese Wahl hängt wiederum von harten Fakten ab – Facharbeiter müssen gut verdienen können, und Gewerbeschulen müssen Anschluss an Fachhochschulen bieten. So sind Fortkommen, Ansehen und gesellschaftliche Mobilität der Auszubildenden gewährleistet. Es braucht den Stolz der Firmen, der Familien, der Facharbeiter und Dienstleister auf ihre Arbeit. Und nicht die Reaktion auf einer Konferenz höchster Bankiers in Paris, als ein Spitzenbankier aus der Schweiz mit Vaterstolz sagte, sein Sohn beginne eine Kochlehre im Hotel Bellevue-Palace in Bern:„le pauvre“ meinte die noble Runde. Arme Länder vielmehr, arm ohne Berufslehre!
Vom Lehrling zum CEO
Ehemalige Lehrlinge finden sich in der Wirtschaft heute auch an Spitzenposten. Sergio Ermotti, begann seine Karriere mit einer Banklehre bei der Cornèr Bank in Lugano. Heute ist er CEO der Schweizer Großbank UBS. Hier sein jüngstes Interview.
Ähnlich Peter Voser. Er begann mit einer kaufmännischen Lehre bei der damaligen Aargauischen Hypotheken- und Handelsbank. Später absolvierte er eine Fachhochschule in Zürich. Schließlich wurde er Konzernchef von Shell und heute ist er Präsident des Verwaltungsrates (=Aufsichtsrat) der ABB. Auf die Frage, ob eine solche Karriere auch heute noch möglich wäre, meinte Voser gegenüber der NZZ am Sonntag: „Ja, sicher. Denn am Schluss ist es die Leistung, die zählt. Angereichert mit der Erstausbildung, bei mir waren es eine KV-Lehre und die Fachhochschule. Wir haben ein phantastisches duales Ausbildungssystem. … Sehr viele im Ausland beneiden uns um unser System. Natürlich muss man es ihnen erklären.“ Lesen Sie das ganze Interview hier.