In Deutschland steht Großes bevor. Nicht weniger als eine Neuerfindung der Republik streben die Parteien an, die sich nun im Speed-Dating zu einer Regierungsmehrheit zusammenfinden wollen. Ob die sich abzeichnende Ampel (Rot-Gelb-Grün) oder ein eher unwahrscheinliches Jamaika-Bündnis (Schwarz-Grün-Gelb): Alle wollen sie das Land dynamisch modernisieren. Und zwar subito! In dieser Hinsicht sind sich SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP einig: An den Verkrustungen, die sie nun unisono beklagen, erklären sie sich selbst schuldlos. Gerade so, also ob nicht diese Parteien das Land in wechselnden Koalitionen regiert hätten.
Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Am besten gelingt es den Grünen, sich von jeglicher Verantwortung freizusprechen. Unterstützt von weiten Teilen der Medien, die dem von ihnen präferierten Projekt G2R nachtrauern, also einer grünen Kanzlerin mit SPD und Linkspartei als koalitionären Mehrheitsbeschaffern, werden die Grünen am lautesten zur treibenden Kraft der neuen Reformrepublik ausgerufen. Dabei gehört die einstige Anti-Partei-Partei (Petra Kelly) längst zum Establishment. Sie regiert in zehn der 16 Bundesländer mit und hat über die Länderkammer (Bundesrat) viel Gestaltungsmacht. Doch dieser Hebel wird von den Grünen vornehmlich für Blockaden genutzt. In der alltäglichen Regierungspraxis ist wenig von jenem dynamischen Aufbruch zu spüren, den die Partei gerade als treibende Kraft einer Dreier-Koalition für sich reklamiert.
Doch die Grünen beherrschen das geschmeidige politische Dribbling. Das Regieren ist ihr Standbein, das Opponieren ihr Spielbein. Sie bleiben stets die Partei des Guten.
Besonders weit liegen Anspruch und Wirklichkeit in Bremen und Berlin auseinander, wo die Grünen eine gefühlte Ewigkeit mit SPD und der Post-Kommunisten der Linkspartei regieren. Diese Stadtstaaten liegen bei fast allen Vergleichsrankings im Schlussfeld. Und obwohl die Ökopartei in acht der 16 Bundesländer das Agrarministerium führt, wirtschaften immer noch 90 Prozent der Bauern konventionell. Auch hier, wie so oft: große Worte, kleine Taten.
Doch die Grünen beherrschen das geschmeidige politische Dribbling. Das Regieren ist ihr Standbein, das Opponieren ihr Spielbein. Sie bleiben stets die Partei des Guten. Weder werden sie für mangelhafte Bildungsangebote noch für eine wenig bürgerfreundliche Verwaltung haftbar gemacht. In der Metropole Berlin, die den Ruf der „Chaoshochburg“ bei den aktuellen Wahlen erneut in beschämender Weise verteidigt hat, haben die Grünen ihr Stimmenergebnis sogar von 15,3 auf 18,6 Prozent ausgebaut. Fast hätten sie mit Bettina Jarasch eine Regierende Bürgermeisterin stellen können, die offen mit der Enteignung von Wohnungskonzernen sympathisiert und deren Vertreter in den Bezirken mehr oder weniger offen mit Linksextremisten sympathisieren.
Staatsstellen, Schuldenberge und Windräder statt wirtschaftlicher Dynamik
Selbst dort, wo sich die Grünen nicht damit herausreden können, eben nur zweit- oder drittstärkste Kraft zu sein und deshalb Kompromisse eingehen zu müssen, ist von Dynamik wenig zu spüren: In Baden-Württemberg gibt mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann ein Grüner seit zehn Jahren den Ton an und weiß dabei eine geradezu unterwürfige CDU als Koalitionspartner an seiner Seite. Das Wenige, was im Südwesten wächst, sind hochdotierte Stellen beim Staat, Schuldenberge und Windräder. Die werden neben dem Fahrrad als technologischer Fortschritt gepriesen, obwohl sie doch dem späten Mittelalter entspringen. Im Bereich Bildung ist das Land vom Spitzenplatz ins Mittelfeld zurückgefallen.
Die Energiewende nutzt vor allem denen, die über Land für Windräder, Dächer für Solaranlagen und Geld für „nachhaltige Investitionen“ verfügen.
Einzig die gewachsene Struktur aus verwurzelten Familien-Unternehmen und (noch) ertragreichen Großkonzernen verhindert, dass Badener und Schwaben auch ökonomisch absacken. Den Wettbewerb mit Bayern, Österreich oder der Schweiz hat man in Stuttgart längst aufgegeben. Eigentlich will man gar nicht mehr wachsen, sondern in sich gekehrt politisch korrekt das Weltklima retten. Dass der grüne Kampf gegen den Verbrennungsmotor dem Land von Daimler, Porsche und Zulieferern wie Bosch oder Mahle mit am meisten schadet, nimmt man mit bräsiger Gelassenheit ebenso zur Kenntnis wie drastisch steigende Energiekosten und Inflation, die mittlerweile auf eine kalte Enteignung der Kleinsparer hinausläuft. Dem neuen Allianz Global Wealth Report zufolge verlieren vor allem sie durch die Geldentwertung derzeit sieben Milliarden Euro – pro Monat.
Umverteilung von unten nach oben
Aber davon ist die grüne Klientel eben nur mäßig betroffen. Auch das zählt zu den gerne verbreiteten Trugbildern der Ökopartei: Sie gibt sich programmatisch sozial und den Bedürftigen zugewandt, doch in der Praxis bewirkt sie eine Umverteilung von unten nach oben. Die Energiewende nutzt vor allem denen, die über Land für Windräder, Dächer für Solaranlagen und Geld für „nachhaltige Investitionen“ verfügen. In ihre Taschen fließt der Großteil der rund 26 Milliarden Euro, mit denen „erneuerbare Energien“ jährlich gefördert werden. Mit dem Ergebnis, dass deutsche Privatkunden mit 32 Cent pro Kilowatt mittlerweile den höchsten Strompreis bezahlen müssen, was vor allem für die unteren Einkommensschichten zur Bürde wird. Schon heute wird jährlich etwa einer Million Haushalte in Deutschland der Strom abgestellt, weil sie die steigenden Energiekosten nicht mehr trage können oder ihnen das Geld zum Heizen fehlt. Schon warnen Sozialverbände mit gesellschaftlichen Verwerfungen.
Derweil leisten sich die Besserverdiener das hochsubventionierte E-Auto als Zweit- oder Drittwagen. Das Lastenfahrrad lassen sich jene gerne bezuschussen, die in den hippen Wohnlagen kurze Wege und die Straßenbahn nicht weit haben. Dem Malocher, der mit dem alten Diesel täglich weite Wege zur Arbeit zurücklegen muss, würden die Grünen am liebsten noch die Pendlerpauschale streichen und die Einfahrt in die Städte verbieten.
Wo immer die Grünen mitentscheiden, ob in Kommunen oder den Ländern, wird Bauland verknappt und damit dessen Preis nach oben getrieben.
Ebenso die betagte Öl- oder Gasheizung. Hier können die „Strafsteuern“ nicht hoch genug sein, um den CO2-Ausstoß zu verringern, dessen Anteil in Deutschland global gesehen gerade mal bei zwei Prozent liegt. Doch die selbst ernannte „Klima-Partei“ will das Weltklima retten. Notfalls im Alleingang und mit restriktiven Vorgaben, die mit freiheitlicher Gesinnung wenig zu tun haben.
Geradezu heuchlerisch sind die Klagen über das immer teurere Wohnen. Wo immer die Grünen mitentscheiden, ob in Kommunen oder den Ländern, wird Bauland verknappt und damit dessen Preis nach oben getrieben. Diese Partei ist es auch, die mit immer strengeren Energieeinsparverordnungen das Bauen weiter verteuert. Zugleich huldigen die Grünen einer bunte Zuwanderungsgesellschaft als Ideal, was die Konkurrenz um günstigen Wohnraum zusätzlich verschärft. Nach 2015 mit fast zwei Millionen Flüchtlingen kamen seither jedes Jahr über 100 000 neue Asylsuchende nach Deutschland. Nutznießer sind auch hier die Immobilienbesitzer und Vermieter.
Die Grünen – die Partei der Besserverdienenden
Auch das erklärt, warum in Wahrheit nicht die FDP, sondern die Grünen die Partei der Besserverdienenden sind. Die Analysen der Bundestagswahl verorten die Wähler der Partei im Milieu-Kreuz weit links oben: reich und urban. Ihre Direktmandate hat sie vor allem in Universitätsstädten geholt. Doch nicht allein, weil dort viele Studenten ihren Erstwohnsitz angemeldet haben und damit das Wahlrecht der unter 25-Jährigen in diesen Metropolen überproportional ist. Vielmehr sind Städte wie München, Heidelberg oder Freiburg mit ihren Hochschulen, Kliniken und Verwaltungen auch Hochburgen des öffentlichen Dienstes.
Umfragen zur Bundestagswahl förderten zu Tage, dass Beamte mit 32 Prozent mittlerweile zu den treuesten Anhängern der Grünen zählen. Also jene Berufsgruppe, die nun wahrlich nicht für Dynamik, Veränderung oder gar Entbürokratisierung steht. Das gilt im Übrigen auch für die studentischen Wähler. Aktuellen Erhebungen zufolge arbeiten sie am liebsten beim Staat. Gerne abgesichert und mit Pensionsanspruch im gehobenen Dienst. Der Mut zur Selbstständigkeit sinkt in Deutschland hingegen nicht erst seit der Corona-Pandemie. Entsprechend gering ist die Anhängerschaft in diesem Milieu, wo man den rauen Kräften der Marktwirtschaft ausgesetzt ist. Oder dort, wo auch körperlich hart gearbeitet werden muss, wie im produzierenden Gewerbe oder in der Bau- und Handwerker-Branche.
Erschrocken bis verächtlich hat der grüne Freundeskreis, vor allem in den (sozialen) Medien, auf eine weitere überraschende Erkenntnis reagiert: Bei den Erstwählern haben nicht mehr die Grünen, sondern erstmals die Liberalen die Nase mit 23 zu 22 Prozent knapp vorne. Diese Verschiebung korrespondiert mit Analysen, wonach Fridays for Future vor allem eine Schüler- und Studentenbewegung, aber keine breite Jugendbewegung ist. Damit droht ein weiteres Etikett zu verblassen, mit dem die Grünen gerne hausieren gehen: Sie sind nicht mehr die Jugend-Partei schlechthin. Ihr Vorhaben, das Wahlalter generell von 18 auf 16 Jahre zu verringern, wie jetzt unter grünem Diktat in Baden-Württemberg gegenüber der CDU durchgesetzt, dürfte damit an Dringlichkeit verlieren. „Auszubildende und junge Berufsanfänger haben zur Klimabewegung eine große Distanz“, urteilt Manfred Güllner.
„Die Grünen sind keine Volkspartei, sie bleiben trotz Stimmengewinnen eine Klientelpartei für die oberen sozialen und Bildungsschichten.“
Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa widerspricht auch einem weiteren Narrativ, das in Deutschland vor allem medial verbreitet wird: „Die Grünen sind keine Volkspartei, sie bleiben trotz Stimmengewinnen eine Klientelpartei für die oberen sozialen und Bildungsschichten“. Die würdigen zwar die gesellschaftspolitische Modernisierung mit Gender-Sternchen und Diversitäts-Regeln sowie den Einsatz für Minderheiten, sofern dies nicht auf eigene Kosten geht. Zugleich aber wird dadurch die Kluft zwischen verschiedenen sozialen Gruppen nicht kleiner, sondern größer. Denn, so der erfahrene Meinungsforscher, durch die einseitige (mediale) Wahrnehmung werde „der Unmut der Mehrheit der Bürger aus der politischen und gesellschaftlichen Mitte noch verstärkt.“ Das bestätigt auch die aktuelle Sinus-Studie für Markt- und Sozialforschung: Über 90 Prozent der Deutschen befürchten dramatische Veränderungen und spüren eine wachsende Aggressivität in der Gesellschaft. Nur das öko-libertäre Drittel in gesicherten (Staats-)Positionen ist positiv gesinnt. So laufen auch hier der Anspruch und Wirklichkeit grüner Politik diametral auseinander. Sie ist weder sozial noch fortschrittlich.