Der Appell kommt nicht mehr nur aus akademischen Zirkeln, sondern auch aus der breiten Öffentlichkeit: Diversität ist ein Gebot der Stunde. Es gibt kaum eine Organisation, die in ihrem Leitbild nicht die Prinzipien der Vielfalt hochhält. Diese sind meist im ureigenen Interesse der Institutionen. Denn wer verschiedene Kulturen, Geschlechter, Ethnien oder Altersgruppen einbezieht, öffnet die Türen für neue Perspektiven. Das schafft ein Umfeld, in dem Kreatives gedeihen und Neues ausprobiert werden kann. „Die gute Mischung macht es aus“, lautet denn auch das Credo im Diversity-Management – ganz ähnlich wie in der Landwirtschaft, wo die Mischkultur in langer Frist ebenfalls mehr Erfolg verspricht als die Monokultur.
Was innerhalb einer Organisation als Quelle der Innovation gilt, nämlich die Respektierung und Förderung von Unterschieden, verliert beim Nebeneinander gesetzlicher Bestimmungen an Relevanz.
So weit, so unumstritten. Irritierend ist Folgendes: Die eifrigsten Verfechter von Diversity zeigen oft eine sehr selektive Wertschätzung dieses Prinzips. Diejenigen Fürsprecherinnen und Fürsprecher, die zur Durchsetzung einer innerbetrieblichen Vielfalt auch Zwang und Quoten propagieren, verlieren oft ihr Interesse für Verschiedenheit, wenn es um politökonomische Anliegen geht. Das gilt etwa beim Blick auf rivalisierende Steuersätze, Umweltmaßnahmen oder Sozialnormen. Was innerhalb einer Organisation als Quelle der Innovation gilt, nämlich die Respektierung und Förderung von Unterschieden, verliert beim Nebeneinander gesetzlicher Bestimmungen an Relevanz. Hier geht der Trend in die andere Richtung – hin zu Gleichmacherei und institutioneller Monokultur.
Einschränkung von Wettbewerb und globaler Einheitsbrei
Ein gegenwärtiges Beispiel ist der Kampf für einheitliche Steuerpraktiken. Laut ist der Jubel in links-grünen Kreisen, seit die G-20 – und zuvor die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – angekündigt hat, alle Staaten über einen Kamm zu scheren. Geplant ist, dass Großkonzerne, aus welchen Ländern auch immer, künftig mindestens 15 Prozent an Gewinnsteuern bezahlen sollen. Die Vielfalt in Ehren, doch bei Fragen der Besteuerung haben es viele vordergründige Diversity-Befürworter doch lieber uniform. Sie feiern die Einigung auf Mindeststeuern als Revolution. Und das ist sie wohl auch. Denn wer sich erst einmal auf einen Mindestsatz geeinigt hat, kann diesen Satz später unkompliziert weiter erhöhen. Der Damm ist gebrochen.
Letztlich leidet aber vor allem die Bürgerin und der Bürger. Denn der Druck auf Regierungen, haushälterisch mit Steuergeld umzugehen, wird weiter sinken.
Die Folge solcher Politik ist naheliegend: Der zwischenstaatliche Wettbewerb um attraktive Standortbedingungen wird eingeschränkt. An die Stelle einer Vielzahl konkurrierender Leistungspakete tritt ein globaler Einheitsbrei. Gewinner dieser Gleichmacherei sind die Hochsteuerländer. Sie können ihre Konkurrenten, die ein preisgünstigeres Angebot offerieren, in die Schranken weisen. Verlierer sind Kleinstaaten wie die Schweiz, denen es mit finanziellem Maßhalten gelingt, für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Steuern und staatlicher Gegenleistung zu sorgen. Letztlich leidet aber vor allem die Bürgerin und der Bürger. Denn der Druck auf Regierungen, haushälterisch mit Steuergeld umzugehen, wird weiter sinken.
Auf dem Weg zum globalen Steuerkartell
Darf man die Einführung von Einheitssteuern einbetten in die Diversity-Debatte? Ja, man muss sogar. Denn es geht um dieselbe Grundsatzfrage: Ist man offen für Verschiedenartigkeit? Oder setzt man lieber auf Gleichförmigkeit und erzwungenen Konformismus? Letzterer wird gern als „Harmonisierung“ schöngeredet. Das ist gutes Marketing, da Harmonie per se als etwas Erstrebenswertes erscheint. Und tatsächlich gibt es gute Gründe für Vereinheitlichungen, etwa bei technischen Normen. So ist in einer globalisierten Welt niemandem gedient, wenn jedes Land andere Papierformate, Elektrokabel, Steckdosen oder Abflussrohre verwendet. Doch in den meisten Fällen liegen den „Harmonisierungen“ eben weniger löbliche Motive zugrunde. Es geht um Protektionismus und das Ziel, der Anstrengung des Wettbewerbs auszuweichen.
Dass die Pariser Behörde für diese Aufgaben demokratisch nur schwach legitimiert ist, tut dem Regulierungseifer keinen Abbruch; die Kompetenzanmaßung gehört zum Selbstverständnis dieser staatsgläubigen Organisation.
Eine Großmeisterin in dieser Disziplin ist die OECD. Sie agiert – im Zweigespann mit der G-20 – als Tempomacherin auf dem Weg zu einem globalen Steuerkartell. Zudem erkennt sie in diversen anderen Gebieten – von der Schulbildung über den Alkoholkonsum bis hin zum Lobbying – viel Potenzial für weitere Nivellierungen. Dass die Pariser Behörde für diese Aufgaben demokratisch nur schwach legitimiert ist, tut dem Regulierungseifer keinen Abbruch; die Kompetenzanmaßung gehört zum Selbstverständnis dieser staatsgläubigen Organisation. Auf der Website heißt es unmissverständlich, man sorge dafür, dass „gleiche Regeln für alle gelten“. Punkt. Wer den interventionistischen Furor aus Paris keine so gute Idee findet, sieht sich seitens der (nicht gewählten) Technokraten auf schwarze Listen gesetzt. Die Schweiz weiß, was das heißt.
Verflachung der Welt: Misstrauen gegenüber dem Standortwettbewerb
Auch die EU zeigt viel Elan bei der Einebnung des alten Kontinents. Unter dem Stichwort des „Level Playing Field“ werden nationale Wettbewerbsvorteile geschliffen. Dem Standortwettbewerb wird misstraut, obwohl dieser besser geeignet wäre, Europas kulturelle Buntheit abzubilden. Lieber alle gleich schlecht als einer ein bisschen besser als die anderen, lautet die Devise. Die Regulierungen werden dabei oft mit einfacher Mehrheit durchgeboxt; Staaten, die länderspezifische Lösungen fordern, werden überstimmt. Darunter gelitten hat Großbritannien. Das Königreich zog in den vergangenen Jahrzehnten oft den Kürzeren, wenn es sich gegen restriktivere EU-Regeln wehren wollte. Man blieb chancenlos gegenüber dem dirigistischen Frankreich, wo man freimütig zum Ziel setzt, das höhere französische Regulierungsniveau per Mehrheitsentscheid auf die ganze EU zu übertragen.
Ökonomen bezeichnen solches Vorgehen als „Strategie zur Schwächung der Konkurrenz“ (Raising Rivals’ Costs). In Brüssel hat man diese Strategie verinnerlicht.
Ökonomen bezeichnen solches Vorgehen als „Strategie zur Schwächung der Konkurrenz“ (Raising Rivals’ Costs). In Brüssel hat man diese Strategie verinnerlicht. Als Feigenblatt dient oft der Binnenmarkt. Als liberales Projekt angedacht, wird er nicht mehr nur dazu verwendet, störende Unterschiede etwa bei technischen Produktstandards zu eliminieren. Im Namen des Vorrangs des Binnenmarkts werden zusehends auch – willkommene – Unterschiede bei den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen infrage gestellt. Der Versuch einer solchen Verflachung war ein wichtiger Grund für den Brexit, wie der deutsche Ökonom Roland Vaubel in einer Analyse zeigt. Waren es zunächst Arbeitsmarktregulierungen, die gegen britischen Widerstand beschlossen wurden, folgten bald Vorschriften zu Finanzdienstleistungen, Assekuranzfirmen, Bankenaufsichten und Wertpapieren, die Londons Freiheit empfindlich einschränkten.
Ob die Initiative von der G-20 ausgeht, von der OECD oder der EU: Die Ausschaltung des internationalen Wettbewerbs basiert auf demselben Grundlagenirrtum. Man erliegt der Idee, ein globales Steuerungsgremium könne dank überlegenem Wissen einen optimalen Plan für alle ausarbeiten. Doch Technokraten sind auch nur aus Fleisch und Blut, sie haben keine Kristallkugel. Statt auf einen Einheitsplan mit unsicherem Erfolg setzt man daher besser auf eine Vielzahl dezentraler Lösungen, die den lokalen Bedürfnissen gerecht werden. Gehen einzelne dieser Versuche schief, leiden weniger Menschen. Und funktioniert eine Maßnahme besonders gut, können die anderen davon lernen und ihr Tun anpassen. Nach dieser Methode wurden in den vergangenen Monaten auch in der Corona-Krise die größten Fortschritte erzielt.
Supranationale Allmachtsphantasien und moralischer Dünkel
So überzeugend die Vorteile einer institutionellen Vielfalt und eines Wettbewerbs nationaler Lösungen sein mögen: Im politischen Alltag wirken die Allmachtsphantasien der supranationalen Organisationen oft anziehender. Entsprechend weiten diese Behörden ihren Aktionsradius stetig aus; es kommt zu einer Übernahme immer neuer Aufgaben, die weit über das ursprüngliche Mandat hinausgehen. Weshalb ist das so? Der Schweizer Publizist Beat Kappeler nennt als wichtigen Grund die „Sakralisierung des Internationalen“: Wer grenzüberschreitende Lösungen fordere, gelte als Internationalist, als solidarischer Weltoffener, als Verfechter einer höheren moralischen Ordnung. Wer hingegen die Machtausdehnung internationaler Organisationen kritisiere und mehr Subsidiarität und Dezentralisierung befürworte, werde als Populist oder Nationalist verschrien.
Es ist paradox: Noch nie erhielt die Forderung nach Diversität so viel öffentliche Unterstützung. Und noch selten war es so schwierig, Diversität auch bei der Lösung politökonomischer Probleme anzuwenden. Zwar stellt kaum jemand infrage, dass Vielfalt in einem Unternehmen zu besseren Ergebnissen führt. Dennoch steht auf verlorenem Posten, wer Vielfalt auch bei den institutionellen Rahmenbedingungen propagiert – etwa innerhalb der EU. Dort dominiert ein Denken von oben nach unten; es gilt das zentralistische Dogma des „one size fits all“. Beiseite geschoben wird die Tatsache, dass erst der Wettbewerb die Voraussetzung schafft für ein evolutorisches Experimentieren, Lernen und Vorankommen. Solche Ignoranz hat ihren Preis. Denn das Gegenteil von Vielfalt ist Einfalt – daran sollte niemandem gelegen sein.
Dieser Artikel erschien zunächst unter dem Titel „Gepredigt wird Vielfalt, gefördert wird Einfalt“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. 7. 2021 S. 17, und online auf nzz.ch. Mit freundlicher Genehmigung.
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