Ungleichheit nimmt ab – Branko Milanović widerspricht Oxfam

Mit „schockierenden Fakten über die weltweite Ungleichheit“ sorgt Jahr für Jahr der Oxfam-Bericht für reißerische Schlagzeilen. „Hunderte Millionen von Menschen leben in extremer Armut, während jene ganz oben belohnt werden“, beginnt der Report von 2019 in gewohnt alarmistischem Tonfall. Die Wirtschaft sei defekt, denn während das Vermögen der Milliardäre „auf ein Rekordniveau“ gestiegen sei, seien in der Zwischenzeit „die Ärmsten der Welt noch ärmer geworden.“ 26 Milliardäre besäßen genauso viel wie die 3,8 Milliarden ärmsten Menschen. Wissenschaftler zweifeln die Seriosität der Zahlen an. „Hier wird viel durcheinander geworfen“, bemerkt Branko Milanović, einer der weltweit führenden Forscher zu Einkommensungleichheit, in einem ausführlichen und sehr erhellenden Interview mit dem „Schweizer Monat“ (Ausgabe 1066, Mai 2019).

Wenn Oxfam von Wohlstand spricht, meint die Hilfsorganisation damit das Vermögen der Menschen. Die veröffentlichten Zahlen bilden daher ausschließlich die Vermögensungleichheit ab, wie Milanović unterstreicht. Doch diese unausgesprochene Voraussetzung – Wohlstand hänge vom Vermögen ab – ist falsch. Der „Schweizer Monat“ hält dazu fest: „Sowohl in den Industrieländern wie auch – und vor allem – in Schwellen- und Entwicklungsländern haben viele Menschen grundsätzlich kein steuerbares Vermögen. Das heißt nicht, dass sie am Hungertuch nagen, sondern dass sie ihr Einkommen laufend konsumieren.“ Wenn man davon ausgeht, dass die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung kein Vermögen angespart hat und 3,7 Milliarden Menschen somit null Dollar an steuerbaren Vermögen haben, so ist es „für die reichsten Menschen ziemlich einfach, diese 0 zu übertreffen. Daraus folgt: Der Vergleich der größten Vermögen mit der ärmeren Hälfte ist ohne jegliche Aussagekraft. Denn: Wohlstand ist nicht vom Vermögen abhängig, sondern vom laufenden Konsum und der nährt sich vor allem aus den laufenden Einkommen.“

 

Die Einkommensungleichheit nimmt weltweit ab

Im Gegensatz zu Oxfam untersucht Branko Milanović schon seit 30 Jahren Einkommensungleichheit, und hier sieht die Sache ganz anders aus. Die Einkommensungleichheit nimmt nämlich weltweit ab, nicht zu. Das belegen die mittlerweile vorliegenden Zahlen: „China führte erst 1984 die erste moderne Erhebung durch, viele Länder in Afrika bis etwa 1985 gar keine“, berichtet der Ökonom. „Seither aber haben wir tatsächlich sehr gute Gründe anzunehmen, dass die globale Ungleichheit stark zurückgegangen ist.“

Der Grund ist simpel: „Länder, die sehr arm waren, wie zum Beispiel China, Indien, Indonesien und Vietnam – allesamt sehr bevölkerungsreiche Länder –, sind in der weltweiten Einkommensverteilung aufgestiegen. Sie stellen heute den globalen Mittelbau und fangen an, auch die höheren Einkommensklassen ‚auszufüllen‘. Die Einkommen stiegen in diesen Ländern insgesamt auch deutlich schneller als diejenigen der westlichen Länder.“

1988 war die weltweite Einkommensverteilung noch „bimodal“, sie hatte also zwei Buckel: einen großen, der sich aus den Einkommen in den Entwicklungs- und Schwellenländern aufbaut, wo ein Großteil der Bevölkerung unterhalb der Schwelle der absoluten Armut lebt, und einen kleinen, bestehend aus den Einkommen in den Industrieländern. Das starke Wirtschaftswachstum in ersterem hat in den letzten 30 Jahren zu einem „Zusammenwachsen“ der Berge geführt. Das heißt: Heute kann man von einer Art „globaler Mittelschicht“ sprechen – und unterhalb der absoluten Armutsgrenze lebt, anders als Ende der 1980er Jahre (ca. 40 Prozent), nur noch ein kleiner Teil der Weltbevölkerung (weniger als 10 Prozent).

Quelle: www.gapminder.org/tools / Grafik © Schweizer Monat. Mit freundlicher Genehmigung.

Vor allem Chinas bereits 40 Jahre anhaltende Wachstumsrate von durchschnittlich 7 Prozent pro Jahr bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung (von einer Milliarde auf 1,4 Milliarden Einwohner) stellt alle bisher bekannten Einkommensentwicklungen der Geschichte in den Schatten. Doch auch in anderen Ländern wächst der Wohlstand rapide: „In der Tendenz sehen wir in vielen asiatischen und auch in einigen anderen Schwellenländern dieselbe positive Entwicklung: Dank großem Wirtschaftswachstum haben sich an vielen Orten Mittelschichten entwickelt, die sich nun weltweit zu einer globalen Mittelschicht ‚auftürmen‘.“

 

Milanović berücksichtigt viele Faktoren

Branko Milanović erhält alle zwei bis drei Jahre die Einkommensdaten aus rund 140 Ländern. „Meine Untersuchungen beziehen sich dann auf Intervalle von fünf oder – in letzter Zeit – zwei Jahren: Ich stelle die Resultate der Haushaltsumfragen dieser 140 Länder zusammen, berechne anhand der Preisniveaus in den Ländern die Kaufkraft der Einkommen, um sie international vergleichbar zu machen, und errechne daraus eine globale Einkommensverteilung.“ Zur Bemessung der Einkommen berücksichtigt Milanović noch andere Faktoren: „Von den Markteinkommen des gesamten Haushalts werden die obligatorischen Transferausgaben – dazu gehören Sozialversicherungsbeiträge, Steuern, Prämien für die Krankenkassen usw. – abgezogen, die gesetzlichen Renten und Sozialtransfers addiert, und das Resultat wird per Äquivalenzskala auf die Haushaltsmitglieder heruntergerechnet. Der Vergleich dieser Einkommen nach Umverteilung ist aufschlussreicher. Natürlich könnte man noch weitere Faktoren berücksichtigen, etwa indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer oder auf der anderen Seite, was die Menschen durch das jeweilige Gesundheits- und Bildungssystem ‚kostenlos‘ erhalten. Für einzelne Länder wird das auch getan, aber die Fülle von Daten, die man global dafür benötigt, ist enorm, und irgendwann würden die Vergleiche dann zu komplex.“

Häufig wird auf die wachsende Einkommensungleichheit innerhalb einzelner Länder hingewiesen. Diese hat in vielen Ländern tatsächlich zugenommen. „Doch der Aufstieg wichtiger Schwellen- und Entwicklungsländer hat dazu geführt, dass sie global betrachtet trotzdem kleiner wird.“ Branko Milanović erläutert das anhand eines Bildes: „Sie können sich das wie die Etagen eines Hotels vorstellen: Die verschiedenen Länder befinden sich auf verschiedenen Einkommensetagen, mit den Ärmeren in den unteren Stockwerken und den Reicheren im Penthouse. Natürlich kann auf jedem einzelnen Stockwerk für sich genommen die Ungleichheit steigen, gleichzeitig können sich aber die Etagen selbst einander annähern – und genau das ist es, was wir beobachten. Dieser Effekt ist ausreichend groß, um auszugleichen, dass die Einkommen der Menschen auf den einzelnen Etagen auseinander gehen.“

Als die großen Verursacher der Einkommensungleichheit innerhalb einzelner Nationen und Volkswirtschaften gelten Globalisierung, technologischer Wandel und politische Maßnahmen. Die Meinungen darüber, welcher der frei Faktoren entscheidend ist, gehen auseinander. Milanović meint, „dass die Globalisierung den Rahmen geschaffen hat, in dem sich der politische und der technologische Wandel vollzogen haben.“ Nur wegen der Globalisierung wurden demnach Technologien entwickelt, „die auf billigere Arbeitskräfte im Ausland zurückgreifen konnten und die einen globalen Wirtschafts- und Wertewandel zur Folge hatten. So wurden Tausende von Applikationen für Smartphones entwickelt, wie Uber oder Airbnb, aber nicht nur, weil es technologisch machbar war, sondern weil Smartphones und Laptops gleichzeitig sehr billig geworden sind. Heute werden weltweit knapp fünf Milliarden Handy benutzt. Eine neue Applikation würde sich nicht bezahlt machen, wenn es nur 500 Millionen wären.“

 

Einkommensunterschiede hängen auch von Wirtschaftsstrukturen ab

Auch der Umbau unserer Wirtschaftsstrukturen spielt bei der wachsenden Einkommensungleichheit eine Rolle. Das zeigt der Unterschied zwischen industriellen Volkswirtschaften, wie sie in Europa noch in den 1960er und 1970er Jahren vorherrschend waren, und den dienstleistungsorientierten Volkswirtschaften von heute: „Mittlerweile finden bis 85 Prozent der Wertschöpfung im Dienstleistungsbereich statt, und das hat Auswirkungen auf die Lohnstruktur: Es macht die Wirtschaft beinahe unweigerlich ‚ungleicher‘, weil Dienstleistungen in sich eine sehr heterogene Kategorie sind. Sie umfasst hochqualifizierte Leute wie Softwareentwickler mit Einkommen in Millionenhöhe, aber auch Hausmeister, die im Niedriglohnsektor arbeiten. In einer Produktionsökonomie gibt es eine viel kleinere Streuung von Fähigkeiten und Löhnen, und man kann die Zunahme der Einkommensungleichheit bei uns im Westen teilweise genau dadurch erklären: Wir wurden von Industrie- zu Dienstleistungswirtschaften.“

Zur Frage, welche Möglichkeiten die Politik heute hat, Einkommensungleichheit innerhalb eines Landes zu verringern, hält Branko Milanović fest: „Wer versucht, die Instrumente der 1960er Jahre wieder aus der Mottenkiste zu holen, wird keinen Erfolg haben. Die ‚starken Gewerkschaften‘ kann man nicht zurückholen, weil sich durch neue Technologien die Natur der Arbeit verändert hat. Und die Steuern in den reichen Ländern kann man auch nicht mehr erhöhen, weil die meisten Europäer keinen durchschnittlichen Steuersatz von über 50 Prozent zahlen.“ Am wichtigsten ist aus Milanović‘ Sicht Bildung: „Bildung als Investment in eine Zukunft im Hochqualifikationssegment ist ein wichtiges Instrument.“

Hilfreich wäre auch ökonomische Bildung, unter anderem um den Narrativ von Oxfam und Co. zu widerlegen, wonach die Wirtschaft ein Nullsummenspiel ist, bei dem sich der eine auf Kosten des anderen bereichert: „Es stimmt, dass die Weltwirtschaft von vielen gemeinhin für einen Kuchen gehalten wird, der irgendwie gegeben ist. Dieser Kuchen ist aber nicht gegeben: Er wird immer größer, daran backen immer mehr mit und immer mehr haben auch etwas davon.“

Branko Milanović (Bild: Niccolò Caranti / Wikimedia Commons )

Branko Milanović, geboren 1953 in Belgrad, ist serbisch-US-amerikanischer Ökonom. Er arbeitete als Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank und ist seit 2014 als Dozent am City University Of New York Graduate Center tätig. Zuletzt erschien im Jahr 2016 sein Buch „Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht“ im Suhrkamp Verlag. Ende 2019 wird sein neues Buch „Capitalism, alone“ erscheinen, in dem er sich mit dem Paradoxon eines auf Konkurrenz basierenden Wirtschaftssystems ohne Konkurrenz – der Kapitalismus nach dem Ende des Sozialismus – befasst.

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