Es war zu Beginn der 1970er Jahre, der deutsche Politiker Franz Josef Strauß hielt einen Vortrag in Zürich, linke Studenten unterbrachen und beschimpften ihn. Er konterte, anstatt Fensterscheiben einzuschlagen, sollten sie besser die Schlagbäume an den Grenzen zwischen den europäischen Ländern zerstören. Ich fand das großartig. Denn ich träumte seit meiner Schulzeit im Gymnasium von den „Vereinigten Staaten von Europa“, einem Europa, das zur Einheit gefunden haben würde, ähnlich wie die Vereinigten Staaten von Amerika zweihundert Jahre früher. Es war ein etwas naiver Traum, heute wird er von Politikern vorangetrieben, weniger aus Idealismus, wie mir scheint, als aus dem puren Zwang, einen Ausweg aus den ökonomischen Nöten zu finden, die man sich mit der Einführung einer europäischen Einheitswährung, der nachfolgenden Schuldenkrise und nun den Folgen eines Lockdowns der Wirtschaft zwecks Pandemiebekämpfung eingehandelt hat.
Die Montanunion: Friedensprojekt und Sündenfall
Ja, wir waren Europa-Begeisterte, wir, eine kleine Gruppe, feierten in den 1960er Jahren an unserem Gymnasium jedes Jahr den Europatag, allerdings denjenigen des Europarates am 5. Mai, nicht den Europatag der Europäischen Union, an dem man heute der Gründung der Montanunion gedenkt – diesen Europatag gab es in den 1960er Jahren noch nicht, er wurde erst 1985 eingeführt. Die Montanunion mag ein „Friedensprojekt“ gewesen sein, verständlich aus der Geschichte, mit einem hohen Symbolwert und wohl auch nicht ohne praktische Bedeutung zur Besiegelung eines neuen Deutsch-Französischen Vertrauensverhältnisses.
Dennoch war die Montanunion auch der erste Sündenfall des damaligen Nachkriegsuropa: der Beginn eines „Europa von oben“ – ausgerechnet durch die Schaffung eines Kartells kriegswirtschaftlicher Schlüsselindustrien. „Die Kartelle sind der Stolz Deutschlands“, so schrieb Ende des 19. Jahrhunderts der Kathedersozialist Gustav Schmoller. Man sah schon damals die Kartelle als ein Zeichen der wirtschaftlichen Stärke an, auch Protektionismus, Schutzzollpolitik wurde betrieben, das fand man schon aus sozialen Gründen wichtig, Politik und Wirtschaft müssten, so meinte man – auch der große Max Weber dachte so – , zusammenspannen, um endlich mit England auf Augenhöhe zu gelangen, also machten diese linken Sozialpolitiker auch kräftig Propaganda für den Flottenbau, deutsche Weltmachtpolitik und Kolonialismus – mit den bekannten Folgen.
Ein Europa der Kaufleute oder der Bürokraten?
In welche Richtung geht Europa? Erst vor wenigen Jahren fiel mir das Büchlein „Welches Europa? Das Europa der Kaufleute oder das Europa der Bürokraten“ des bekannten und erfolgreichen Schweizer Unternehmers und Financiers Tito Tettamanti aus dem Jahre 1994 in die Hände. Der Titel ist vielsagend. Er erinnerte mich an ein Gespräch, das ich in Brüssel mit einem jungen Beamten einer EU-Behörde führte. Ich bat ihn, halb zum Spaß: „Bitte regulieren Sie nicht zu viel“, worauf er – er war Familienvater – ernsthaft antwortete: „Wenn ich nicht ständig neue Regulierungen finde, verliere ich meine Stelle.“
Schon Ludwig von Mises hat bemerkt, dass Beamte zwar nötig sind, die Bürokratie aber nicht gewinnorientiert arbeitet, sie deshalb auch nicht auf die Kosten schauen muss, und ihr deshalb die Tendenz innewohnt, sich ständig auszuweiten.
In der Tat: Das Europa der Bürokraten ist schon längst eine Realität. Und es sind die Bürokraten, die nun – nach der „Eurorettung – in den neuen Agenden „Bekämpfung des Klimawandels“ und „Wiederaufbau nach der Coronakrise“ die treffliche Rechtfertigung dafür gefunden haben, was – zumeist im Verbund mit Politikern – Bürokraten, wenn auch nicht alle, am liebsten tun: Geld der Steuerzahler verteilen oder es verbrauchen und sich immer neue Aufgaben suchen, um ihren Wirkungskreis und Mitarbeiterstab auszuweiten und damit sicherzustellen, dass ihre Stelle nicht gestrichen wird.
Schon Ludwig von Mises hat trefflich bemerkt, dass Beamte zwar nötig sind, die Bürokratie aber nicht gewinnorientiert arbeitet, sie deshalb auch nicht auf die Kosten schauen muss, und ihr deshalb die Tendenz innewohnt, sich ständig auszuweiten. Deshalb müsse sie gesetzlich, durch die Politik also, kontrolliert und eingeschränkt werden. Das mag stimmen, nur stammen Gesetzesinitiativen und -entwürfe heute zumeist aus der Ministerialbürokratie. Und Politiker haben oft kein Interesse an deren Kontrolle oder Einschränkung, sie tragen durch ihre Versprechungen und Wähler zufriedenstellende Projekte selbst zu ihrem Anwachsen bei.
Entfesselung politisch-bürokratischer Eigendynamik
Das „Friedensprojekt Europa“ ist davon nicht ausgenommen. Die Logik des politisch geförderten Bürokratiewachstums hat schon längst eine Eigendynamik entfaltet. Europa reguliert, vereinheitlicht, und … subventioniert seit je in einem Ausmaß, das wirtschaftlich unsinnig ist, zur Verschwendung und Betrügereien Anlass gibt, die unseren Wohlstand mindern. Und jetzt wird sie auch noch zu einer sich – vertragswidrig – selbst verschuldenden Schuldenunion.
Die EU hat viele positive Leistungen im Bereich der Liberalisierung vorzuweisen, die Schaffung des Binnenmarktes und das Aufbrechen einer ganzen Reihe von staatlich gestützten und deshalb wettbewerbsschädlichen Monopolen.
Man verstehe mich nicht falsch: Die EU hat viele positive Leistungen im Bereich der Liberalisierung vorzuweisen, die Schaffung des Binnenmarktes und das Aufbrechen einer ganzen Reihe von staatlich gestützten und deshalb wettbewerbsschädlichen Monopolen zum Beispiel im Telekombereich. Doch auch der Binnenmarkt hat seine Kehrseite: Er ist nach außen hin protektionistisch. Er hält alle Mitgliedstaaten der EU in einer handelspolitischen Zwangsjacke zur Wahrung der Gemeinschaftsinteressen – auf Kosten anderer Länder, vor allem der ärmsten, deren bereits etwas wohlhabender gewordene Bewohner nun zu uns wollen, weil sie bei sich zu Hause keine Zukunftschancen sehen. Dieses Europa ist nicht ein „Europa der Kaufleute“, sondern eben ein solches der Bürokraten. Die Corona-Wideraufbaupolitik – was muss eigentlich „wiederaufgebaut“ werden? es wurde doch gar nichts zerstört! – zeugt von einem gewaltigen Bürokratisierungsschub und letztlich einem Misstrauen in die Kräfte der Marktwirtschaft.
Zudem scheint das „Friedensprojekt EU“ zunehmend zu Zwist und Polarisierung nicht nur zwischen den EU-Mitgliedstaaten, sondern auch in ihnen zu führen. Was Italiener heute über Deutsche denken, dass sie nämlich auf ihre, der Italiener, Kosten reich geworden sind, ist nicht schmeichelhaft, dennoch ist gerade auch dies eine Folge des „Friedensprojekts“, das man – entgegen aller ökonomischen Einsicht und Expertise – ausgerechnet mit einer Währungsunion vorantreiben wollte, ohne die dafür nötigen institutionellen wirtschafts- und fiskalpolitischen Voraussetzungen zu berücksichtigen, die letztlich eben eine politische Union, die „Vereinigten Staaten von Europa“, bereits vorausgesetzt hätten, für deren Entstehung aber auch heute noch fast alle Voraussetzungen fehlen, insbesondere ein „europäisches Staatsvolk“, eine „europäische öffentliche Meinung“ und ein entsprechender politischer Wille.
Vom Primat der Politik zum Primat des Geldverteilens
Doch ist ein „Europa der Kaufleute“ überhaupt ein attraktives Projekt? Ist es nicht zu materialistisch? Wird in ihm nicht das Geld regieren? Ist es nicht zu utilitaristisch? Oder zu minimalistisch, sollte man nicht höher zielen? Nicht unbedingt. Zunächst: Was im Moment in der EU regiert ist eindeutig das Geld. Eigentlich geht es nur noch um das Verteilen von Geld, und damit das auch gehörig geht, um das Drucken von Geld. Das Europa der Bürokraten ist zum Europa der Druckerpresse degeneriert. Da ist ein „Europa der Kaufleute“ allemal besser, denn diese drucken kein Geld, sondern schaffen und vermitteln es durch Tausch und Handel.
Das Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das im Weltkrieg endete, war gewiss kein Europa der Kaufleute mehr, sondern ein solches der Politik, einer Politik, die sich der Wirtschaft bemächtigt hatte, und in der Folge einer Wirtschaft, die auf den Zug der Politik aufgesprungen war und ihr zudiente. Auch heute beansprucht die Politik die Führung über die Wirtschaft – man nennt es seit Jahren den „Primat der Politik“ – und erhofft sich davon das Wunder der europäischen Einigung, von Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit.
Man ist wieder einmal dabei, die „Festung Europa“ auszubauen, gegen alle mögliche Konkurrenz. Ungute Erinnerungen werden wach, auch wenn sich die Geschichte natürlich nicht wiederholt.
Das klingt schön, doch die Realität sieht anders aus. Man ist wieder einmal dabei, die „Festung Europa“ auszubauen, gegen alle mögliche Konkurrenz. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war ein Land wie Deutschland in der Tat in vielen Sektoren bereits Weltmarktführer, in anderen gab es heftigen Wettbewerb zwischen Europa und den USA. Beide Seiten versuchten besser zu werden, billiger, effizienter. Heute ist das anders. Europa ist in der Digitalisierung im Rückstand, gegen Google, Amazon, Alibaba und Co. ist es unterlegen – also schreit es: Foul! Und man greift zum Primat der Politik. Man müsse regulieren, die Monopolisten stoppen, europäische Champions fördern, um mit den Amerikanern und Chinesen auf Augenhöhe zu gelangen. Ungute Erinnerungen werden wach, auch wenn sich die Geschichte natürlich nicht wiederholt. Aber die Fehler der Politiker sind sich doch erschreckend ähnlich.
Das Europa der Kaufleute ist ein Europa der Kooperation
Und das „Europa der Kaufleute“? Es weckt eigentlich nur gute Erinnerungen, denn es war, trotz ständiger innerer politischer Konflikte, ein Europa der Kooperation, in den antiken Zeiten des Römischen Reiches wurde auf den Wegen der Kaufleute sogar der christliche Glaube in den Norden Europas importiert! Das Europa der Kaufleute führte zu einer mächtigen Entwicklung rechtlicher Institutionen, zu wichtigen technischen Innovationen, zum Aufschwung der Städte als Zentren von Handel, Wissenschaft und Kunst, zum Aufblühen der Universitäten und zum fruchtbaren kulturellen Austausch. Und schließlich ermöglichte es Migration auf der Basis gegenseitigen Vorteils, führte auch zu neuen Formen der ethnischen Durchmischung, gleichzeitig aber auch zur Herausbildung nationaler Identitäten und Werte, die dort, wo Handel getrieben wurde und man sich nicht voneinander abschottete, nicht zu Nationalismus, sondern zur Zusammenarbeit über Grenzen hinweg führte.
Wirtschaftliche Verflechtung schafft auch gemeinsame wirtschaftliche Interessen. Und diese sind die zutiefst menschlichen Interessen.
Das alles ist hochaktuell. Denn das Europa der Kaufleute ist – oder wäre – auch jenes, das, weil es unbürokratisch und nicht protektionistisch ist, also z.B. auch nicht die eigene Landwirtschaft künstlich, nationalistisch, auf Kosten ärmerer Länder protegiert, dafür sorgt, dass „Fluchtursachen“ wirksam bekämpft werden können. Wirtschaftliche Verflechtung schafft auch gemeinsame wirtschaftliche Interessen. Und diese sind die zutiefst menschlichen Interessen. Ans Ökonomische zu denken, ist nicht Materialismus, so denken nur gutsituierte, meist in urbanen Kontexten lebende schöngeistige Intellektuelle in reichen Ländern – und leider auch viele Kleriker. Mit der Entwicklung der Wirtschaft unter den modernen Bedingungen einer innovativen und kapitalistischen, Arbeitsproduktivität, Reallöhne und Lebensstandard steigernde Marktwirtschaft, beginnt die Möglichkeit, ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen, das Aufblühen von Wissenschaft und Kultur. Wer genug zu essen hat und sich eines zumindest bescheidenen Wohlstands erfreut, kann die Güter des Geistes zu genießen beginnen. Geld und dessen Mehrung, das Wirtschaftliche insgesamt als Anfang aller Verderbnis zu verachten und zu verteufeln, ist unmenschlich, weil es unrealistisch ist. Wir Menschen sind keine Engel, sondern Wesen aus Fleisch und Blut.
Das Europa der Kaufleute – ohne Schlagbäume an den Grenzen zwischen den Ländern – ist sowohl dem Europa der Bürokraten wie auch jenem der Politiker vorzuziehen. Was wir brauchen, sind funktionierende Institutionen, vor allem rechtliche Regeln, die für alle gelten, die aber offen sind für freie Initiative und innovatives Unternehmertum, ohne unnötige bürokratische Fesseln und Behinderungen. Wir werden Beamtenschaft und Politik immer brauchen, aber diese sollten sich klar sein, dass sie nur segensreich wirken können, wenn sie im Dienst einer freien, marktwirtschaftlichen Gesellschaft stehen, wenn sie also das Europa der Kaufleute ermöglichen.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in italienischer Sprache veröffentlicht in: Tito Tettamanti, Quale Europa? Una polemica liberale (hg. von Antonio Foglia und Alberto Mingardi zu Tito Tettamantis 90. Geburtstag), IBL Libri, Istituto Bruno Leoni, Mailand 2020 (Liber Amicorum, S. 312-317).