Im vom Weltagrarrat der Weltbank initiierten Weltagrarbericht (IAASTD Report) aus dem Jahre 2008 forderten die Initianten aus Umweltschutzgründen, dass das Konzept der Multifunktionalität in der Landwirtschaft verankert werden müsse. Der Bericht wurde weitherum als ideologisch kritisiert. Für seine Forderungen kann er sich jedoch auf den früheren Millennium Ecosystem Assessment (MEA) Report der UNO aus dem Jahre 2005 berufen. In der Schweiz ist die Förderung der multifunktionalen Landwirtschaft seit der Zustimmung zum neuen Landwirtschaftsartikel im Jahr 1996 durch das Schweizer Volk fest in der Bundesverfassung verankert.
Der Begriff Multifunktionalität besagt, dass Bauern mehr als nur Nahrungsmittel produzieren. Sie tragen nämlich mit ihren Aktivitäten auch zur sicheren Versorgung der Bevölkerung, zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, zur Pflege der Kulturlandschaft und zur dezentralen Besiedlung des Landes bei. Da solche Leistungen nicht vom Markt abgegolten werden, sprechen Wohlfahrtsökonomen oft von Marktversagen, welches durch Staatsintervention behoben werden muss. Die Schweizer Regierung versucht dieses angebliche Marktversage durch Agrarschutz und ein komplexes Direktzahlungssystem zu beheben. Ziel ist es sicherzustellen, dass Schweizer Bauern einen ‚fairen‘ Preis für ihre Produkte erhalten und zudem für ihre öffentlichen Leistungen kompensieren werden. Mit den kommenden Schweizer Volksinitiativen zu ‚Ernährungssouveränität‘, Ernährungssicherung‘ und ‚Fair Food‘, soll dieses Interventionssystem weiter ausgebaut werden.
Fragliche neoklassische Umweltökonomie und das Nichtfunktionieren der darauf gründenden Konzepte
Doch auf welcher Theorie basiert eine solche Interventionspolitik? Wie effektiv sind die Instrumente zur Förderung einer multifunktionalen Landwirtschaft tatsächlich? Schafft die jetzige Agrarpolitik möglicherweise mehr Probleme als Lösungen für den nachhaltigen Wandel in der Schweiz – und insbesondere auch in Entwicklungsländern? Wer eine nachhaltige Landwirtschaft betreiben will, die über eine Heidiland-Projektion hinausgeht, muss diese Fragen öffentlich diskutieren.
Das Konzept der multifunktionalen Landwirtschaft basiert auf derselben Idee wie das Konzept der Zahlungen für Umweltdienstleistungen (Payments for Environmental Services oder kurz PES). Man geht davon aus, dass der Bauer eine ökologische Leistung durch nachhaltiges Bewirtschaften seiner Fläche erbringt. Solche positiven Externalitäten sollen abgegolten werden, indem Nutznießer außerhalb der Landwirtschaft als Käufer von Umweltdienstleistungen auftreten. In der Schweiz tritt der Staat im Auftrag der Steuerzahler als Käufer auf. In Entwicklungsländern organisiert eine Drittpartei (meistens eine Entwicklungsorganisation) den angeblichen Business Case: Kleinbauern werden zu Verkäufern von Umweltdienstleistungen gemacht, indem ihre Betriebe mit Unterstützung der Drittpartei nachhaltig aufgerüstet werden. Da dem Staat die Mittel fehlen, um als Käufer aufzutreten, sollen lokale kaufkräftige Institutionen vom Wert solcher Leistungen überzeugt werden. Um ihre Zahlungsbereitschaft weiter zu erhöhen offeriert die Drittpartei auch eine offizielle Partnerschaft mit den Käufern. Dabei ermöglicht das gemeinsame Auftreten nach außen auch oft einen Imagegewinn für das jeweilige Unternehmen, das bereit ist für Umweltdienstleistungen zu zahlen.
Mittlerweile werden, nicht zuletzt auch Dank den Reports von IAASTD und dem MEA, weltweit Milliarden an Hilfsgeldern aufgewendet, um Projekte zu finanzieren, die nach dieser Grundidee nicht nur die Umwelt verbessern, sondern auch die Armut reduzieren sollen (Aerni 2015). Leider gibt es bislang keine Beweise, dass das Konzept tatsächlich langfristig funktioniert. Es fehlt nämlich die finanzielle Nachhaltigkeit. Sobald die Drittpartei oder der Staat die Mittel für solche Projekte entziehen, gibt es keinen Anreiz mehr für die lokalen Teilnehmenden, weiterhin mit solchen Dienstleistungen Handel zu betreiben.
Umweltökonomen, die sich an der neoklassischen Wohlfahrtsökonomie orientieren, scheinen jedoch in den fehlenden Anreizen und dem Mangel an finanzieller Nachhaltigkeit kaum ein Problem zu sehen. Umweltdienstleistungen sind gemäß ihrer Theorie ja ein öffentliches Gut, und dieses soll deshalb auch vom öffentlichen Sektor bereitgestellt werden. Die Produktion von privaten Gütern und der daraus resultierende private Nutzen hingegen ist dem Privatsektor zu überlassen.
Der Ökonom Paul Romer hat in seinen endogenen Wachstumsmodellen Ende der 1980er Jahre bereits aufgezeigt, dass diese strikte Trennung von öffentlichen und privaten Gütern irreführend ist (Romer 1990). Der öffentliche Sektor stellt nämlich auch private Güter bereit, und umgekehrt hat das Wissen, das im Privatsektor geschaffen wird und zu innovativen neuen Produkten und Prozessen führt, langfristig auch den Charakter eines öffentlichen Gutes; insbesondere dann, wenn die neuen Entwicklungen helfen, konkrete ökologische und soziale Probleme zu lösen.
Das Scheitern der subventionierten Landwirtschaft: Der Bauer als passiver Empfänger von Staatsgeldern
Zweifel an der bisherigen Agrar-und Umweltpolitik, die immer noch auf den alten Grundannahmen der Neoklassik basieren, lassen sich gerade am Beispiel der Schweiz gut begründen. Das komplexe Direktzahlungssystem hat es nicht geschafft, die Qualität der öffentlichen Güter wesentlich zu verbessern. Der Umweltbericht 2015 des Bundesamts für Umwelt weist darauf hin, dass unsachgemäßer Einsatz von Dünger, Pflanzenschutzmittel oder nicht nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden nach wie vor zu großen Umweltbelastungen führen. Insbesondere bei der Erhaltung der Biodiversität und der Reduktion des Stickstoffeintrags in der Landwirtschaft sind in den letzten Jahrzehnten kaum Erfolge erzielt worden.
Außerdem macht das Direktzahlungssystem, kombiniert mit den zahlreichen Grenzschutzmaßnahmen, innovatives Unternehmertum unattraktiv – und das trotz staatlichen Bestrebungen, dieses in der Landwirtschaft zu fördern. Der Bauer wird immer mehr zu einem passiven Empfänger von Staatsgeldern für die Durchführung von selektiven Maßnahmen auf dem Betrieb, die aber auf aggregierter Ebene kaum zu substanziellen Verbesserungen im Umwelt- und Sozialbereich führen (Aerni et al. 2011). Für viele junge, innovative und unternehmerisch denkende Landwirte ist die Landwirtschaft daher weniger attraktiv geworden, während sie für idealistische Hobbylandwirte, die von den Direktzahlungen profitieren möchten, attraktiver geworden ist. Dies führt zu einer Entprofessionalisierung der Landwirtschaft, die weder im Sinne der Umwelt noch der Gesellschaft sein kann.
Die Alternative: Unternehmerisches Denken in der Landwirtschaft
Junge und unternehmerische Bauern und Bäuerinnen wollen nicht bloß vor dem Markt geschützt werden, sondern diesen durch Innovation erneuern. Von der Integration in die globale Wissensökonomie erhoffen sie sich mehr Möglichkeiten, von anderen zu lernen wie man durch Innovation die Umwelt, die Erträge, die Wirtschaftlichkeit und zugleich auch die Qualität der Nahrungsmittel verbessert. Viele der größten und am meisten skalierbaren Umweltverbesserungen werden nämlich heute nicht durch Zahlungen für Umweltdienstleistungen, sondern durch Innovation etwa im Bereich der Präzisionslandwirtschaft erzielt (Aerni 2015). Da das Subventionssystem jedoch den Selektionsdruck eliminiert, lohnt es sich einfach nicht, mehr zu tun, als was verlangt wird.
Dass Agrar-, Entwicklungs- und Umweltökonomen das Potenzial der Wissensökonomie für die nachhaltige Landwirtschaft nicht zu erkennen scheinen, deutet auf ein zentrales Problem der Wohlfahrtsökonomie hin: die Wohlfahrtseffekte, die durch Unternehmertum und Innovation für die Gesellschaft und die Umwelt in einer Region entstehen, werden in komparativ-statischen Gleichgewichtsmodellen der Wohlfahrtsökonomie nicht abgebildet. Es werden dort zwar die möglichen negativen Effekte des wirtschaftlichen und technologischen Wandels untersucht und wie diese internalisiert werden könnten; doch die positiven Effekte, die durch Unternehmertum und Innovation entstehen, werden nicht erfasst.
Paul Romer hat dieses Manko bereits in einer Publikation 1994 aufgezeigt (Romer 1994). Seit dem 21. Juli 2016 steht nun fest, dass er der neue Chefökonom der Weltbank sein wird. Dies könnte ein Signal sein, dass nun auch die Weltbank für einen Paradigmenwechsel in Umwelt-, Agrar- und Entwicklungspolitik bereit ist. Eine neue Politik, die auf den Einsichten seiner endogenen Wachstumstheorie basiert, wird sich stärker auf die Ermöglichung des Wandels und weniger auf die Regulierung des Wandels konzentrieren. Es geht dabei weniger um staatliche Korrekturmaßnahmen, die Marktversagen beheben sollen, sondern vielmehr um Anreize für die Schaffung von neuen innovativen Märkten, welche das Risiko des Staatsversagens verringern.
Dieser neue Fokus wird insbesondere Entwicklungsländern nützen, die wegen der defensiven und protektionistischen Agrarpolitik in Wohlstandsländern wenig Möglichkeiten haben, durch Agrarexporte zu wachsen. Ein bisheriger Kollateralschaden der subventionierten multifunktionalen Landwirtschaft.
Ermöglichung statt Regulierung des Wandels: Das Beispiel Neuseeland
Nicht nur die Schweiz, auch viele andere Länder mit ähnlichen Problemen – wie etwa Deutschland oder Österreich – könnten von einem Umdenken in der Agrar- und Umweltpolitik profitieren. Neuseeland illustriert wie eine Agrarpolitik aussehen könnte, die sich nicht auf die Regulierung, sondern die Ermöglichung des nachhaltigen Wandels fokussiert. Dort wurde die Landwirtschaft in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nämlich mit der Unterstützung des neuseeländischen Bauernverbandes liberalisiert. Es bedeutete das Ende einer Subventionspolitik, die auf der neoklassischen Wohlfahrtsökonomie basierte, und der Beginn einer Innovationspolitik, die im Einklang steht mit der endogenen Wachstumstheorie von Paul Romer. Statt die Bauern bloß zu bemuttern, wurde der Staat zum ‚Innovations-Coach‘.
Zu diesem Zweck schuf er konkrete Anreize für mehr Zusammenarbeit mit dem Privatsektor und der Forschung. Die nationalen Agrarforschungsinstitute, die sogenannten ‚Crown Research Institutes‘, kriegten vom Staat nur noch Geld, wenn sie aufzeigen konnten, wie sie das neue Wissen, das sie über finanzierte Forschungsprojekte generieren, konkret anwenden, indem sie zusammen mit den Bauern und dem Privatsektor neue Produkte entwickeln und kommerzialisieren. Dies führte zu einem Innovationsboom in der neuseeländischen Landwirtschaft, der nicht nur mehr ländlichen und städtischen Wohlstand schuf, sondern auch ein besseres Umweltmanagement erzeugte.
Nirgendwo wird heute eine umweltschonende und qualitativ hochstehende Präzisionslandwirtschaft dermaßen vorangetrieben wie in Neuseeland. Das Land exportiert somit nicht nur physische Agrarprodukte, sondern auch nicht-materielle Güter, indem es zum Beispiel Bauern in der Schweiz gegen eine Lizenzgebühr ihre Kiwi- und Apfelsorten anbauen lässt, oder ihnen Innovationen verkauft, die zu einem besseren Umweltmanagement auf dem Betrieb führen
Niemand bestreitet, dass Neuseeland nach wie vor mit vielen Umweltproblemen im Landwirtschaftssektor konfrontiert ist, da das Land ja in vielen Agrarsparten ein weltweit führender Exporteur ist und somit seine natürlichen Ressourcen ziemlich strapaziert. Dennoch scheint man die Ziele der multifunktionalen Landwirtschaft dort besser durch Unternehmertum und Innovation statt Subventionen zu erreichen. Dies macht die Landwirtschaft auch für die jungen Neuseeländer attraktiv. Sie müssen sich nicht als passive Subventionsbezüger rechtfertigen, sondern schaffen als Unternehmer, die fest integriert sind in die globale Wissensökonomie, Wert für die Gesellschaft als Ganzes (Aerni 2009).
Paul Romer: Um nachhaltig zu sein, müssen sich Investitionen in die Schaffung und Anwendung von Wissen lohnen
Neuseeland hat realisiert, dass Wissen, das nicht konkret genutzt wird, keinen sozialen Mehrwert schafft. Konkret genutztes Wissen zur Schaffung von Innovation ist gemäß Paul Romer ein nicht-rivales und partiell-ausschließbares Gut, das nicht nur für steigende Einnahmen im Unternehmen sorgt, sondern langfristig auch allgemeine Wohlfahrtseffekte schafft (Romer 1990). Wissen ist nämlich die einzige nicht knappe Ressource, deren Wert bei zunehmendem Gebrauch nicht ab-, sondern zunimmt.
Wissen ist somit der zentrale Produktionsfaktor, wenn es um die nachhaltigere Nutzung von knappen natürlichen Ressourcen geht. Wirtschaftswachstum und nachhaltige Ressourcennutzung schließen sich somit nicht mehr gegenseitig aus, was insbesondere in Entwicklungsländern ein Segen wäre, denn dort hat Nachhaltigkeit auch viel mit Investitionen in Humankapital und der Schaffung von neuen Jobs zu tun.
Es bleibt zu hoffen, dass mit der Ernennung von Paul Romer zum Chefökonomen der Weltbank auch ein Umdenken in der Agrar-, Umwelt- und Entwicklungspolitik stattfinden wird. Dies würde jedoch auch bedingen, dass Romer wieder vermehrt an Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten zur Kenntnis genommen wird. Bisher wurde seine endogene Wachstumstheorie in Ökonomielehrbüchern eher stiefmütterlich behandelt, während der Klassiker der neoklassischen Ökonomielehrbücher, Paul Samuelsons ‚Volkswirtschaftslehre‘, mittlerweile die 19. Auflage feiert.
In seinem 2015 erschienen Artikel in der American Economic Review (Romer 2015), kritisiert Romer die Ökonomenzunft, weil die Mathematik in ökonomischen Modellen nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern zum Zweck an sich geworden ist. Kaum jemand würde sich jedoch trauen, die neoklassischen Grundannahmen dieser Modelle in Frage zu stellen. Ein Paradigmenwechsel in der Ökonomie ist jedoch dringend nötig, um auch eine Veränderung in der Politik zu bewirken. Auch eine Theorie kann sich nämlich als ‚nicht-nachhaltig‘ erweisen.
Literatur:
Aerni, P. (2015) The Sustainable Provision of Environmental Services: from Regulation to Innovation. Springer Series on CSR, Ethics and Governance. Springer, Heidelberg (July 2015).
Aerni, P. (2009) What is Sustainable Agriculture? Empirical Evidence of Diverging Views in Switzerland and New Zealand. Ecological Economics 68(6): 1872-1882.
Aerni, P., Rae, A. and Lehmann, B. (2009) Nostalgia versus Pragmatism? How attitudes and interests shape the term sustainable agriculture in Switzerland and New Zealand. Food Policy 34 (2): 227-235.
Bundesamt für Umwelt BAFU (2015) Umweltbericht.
Millennium Ecosystem Assessment (2005) Synthesis report. Island, Washington, DC.
Romer, P. (1990) Endogenous Technological Change. Journal of Political Economy, 98 (5): 71-102.