Die Regierung des Exportweltmeisters Deutschland sieht ihr Land technologisch abgehängt. Um China und den USA Paroli zu bieten, propagiert sie eine neue Industriepolitik.
Der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier tingelt derzeit durch Europa, um für einen „Airbus für künstliche Intelligenz“ und eine eigene Fertigung von Batteriezellen für Elektroautos zu werben. In beiden Fällen soll der Staat tüchtig nachhelfen. Der Flugzeughersteller Airbus gilt Altmaier als Vorbild, weil er auf staatliche Initiative hin entstand und sich mittlerweile mit dem amerikanischen Konkurrenten Boeing ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert. Zeigt das nicht, was geht, wenn Konzerne und der Staat zusammenspannen?
Merkels Vertrauter appelliert denn auch an die Wirtschaft, ein Konsortium zu bilden, um die besten Batterien weltweit zu entwickeln und zu bauen. Kürzlich hat Berlin bereits eine „Agentur für Sprunginnovationen“ ins Leben gerufen, die „disruptive Technologien“ entdecken und fördern soll.
Der „KI-Airbus“ soll es mit Google oder Uber aufnehmen. Gleichzeitig schwebt dem Wirtschaftsminister vor, dass Europas Autohersteller „mehrere zehn Milliarden Euro“ an Kapital mobilisieren, ergänzt mit „Anstrengungen“ – sprich: Subventionen – der EU und der Mitgliedstaaten.
Furcht vor der Deklassierung
Die Angst der Deutschen vor dem technologischen Abstieg ist keineswegs neu. In einer Publikation vom Juni 1989, also kurz vor dem Fall der Mauer, wird die Besorgnis wie folgt geschildert: Ein Abrutschen in dauerhafte Abhängigkeit gelte es zu verhindern. Nötig sei bei den Hochtechnologiegütern eine Aufholjagd, die ohne gesamtgesellschaftliche Anstrengung und ohne Mitwirkung der öffentlichen Hand nicht gewonnen werden könne.
Damals ging in Deutschland nicht die Furcht vor der Konkurrenz aus China oder den USA um. Vielmehr sah man sich in den 1980er Jahren von Japan wirtschaftlich deklassiert. Die „Wirtschaftsweisen“ adelten damals „Japans Wettbewerbsfähigkeit“ sogar mit einem Kapitel in einem ihrer Jahresgutachten. Im Fokus der Politik stand die Produktion von Halbleitern. Die Fabriken standen größtenteils in Japan und den USA. Nur jeder zehnte Chip kam aus Europa. Zeigte Europas Rückstand bei Fotoapparaten und in der Unterhaltungselektronik nicht, dass es die „sichtbare Hand“ des Staates braucht, um nicht den Anschluss zu verlieren?
Das Airbus-Beispiel ist von Altmaier geschickt gewählt, denn längst ist vergessen, dass das Unternehmen über Jahre mit Milliarden-Transfusionen aus der damaligen Hauptstadt Bonn versorgt wurde. Amerikaner und Europäer streiten sich vor der Welthandelsorganisation seit langem über unerlaubte Beihilfen für ihre Flugzeugkonzerne. Der Aufbau war also mitnichten „gratis“. Zur Wahrheit gehört auch, dass industriepolitische Bemühungen meist misslingen – sogar in derselben Branche: Das britisch-französische Überschallflugzeug Concorde wurde mit hohen Subventionen garniert und flog doch nur Verluste ein. Und wer erinnert sich nicht an die Magnetschwebebahn Transrapid, die mit 1,2 Milliarden Euro aus deutschem Steuergeld entwickelt wurde, kommerziell aber ein Flop war?
Deutsche Konsumenten brachten auch Milliarden an Fördergeldern für erneuerbare Energien auf, um dem Land einen Vorsprung bei der Fertigung von Solarzellen zu verschaffen. Doch die Herstellung von Panels ist längst nach China abgewandert, vom „Cluster“ ist nicht viel übrig geblieben.
Zurück zu den Batteriezellen für Elektroautos: Gewiss, heute prägen die Hersteller aus China, Japan und Südkorea den Markt. Deutsche Autokonzerne haben sich einen Einstieg jedoch gut überlegt. Daimler hat es in Sachsen sogar versucht und zusammen mit dem Chemiekonzern Evonik ein Werk errichtet. Doch 2015 musste man die Segel streichen. Die Produktion war ein Zuschussgeschäft, die Wettbewerber sind einfach besser. Erst vor kurzem hat sich der Autozulieferer Bosch nach reiflicher Überlegung ebenfalls gegen eine eigene Fertigung entschieden. Drei Viertel der Wertschöpfung steckten in den Materialkosten und Rohstoffen, also bleibe nur ein Viertel, um sich zu profilieren – für Bosch zu wenig.
Es stimmt, dass die „unsichtbare Hand“ des Marktes manchmal die falschen Hebel betätigt. Unternehmer erkennen die Chancen einer Innovation nicht immer. So wurde der MP3-Standard zwar in Deutschland erfunden, aber das große Geld verdiente nicht Siemens damit, sondern Apple mit seinem iPod. Aber wäre denn die „sichtbare Hand“ des Staates in solchen Zukunftsentscheiden treffsicherer? Haben Altmaiers Beamte im Wirtschaftsministerium einen sechsten Sinn für Innovationen?
Erinnert sei an den Titel des neuen Buches von Nassim Taleb, „Skin in the Game“ – genau daran mangelt es Staatsbediensteten: Sie riskieren nichts. Unternehmen wie Bosch wägen vielmehr Alternativen gegeneinander ab: Soll man 20 Milliarden Euro – um diese Summe wäre es langfristig gegangen – in die Fertigung von Batteriezellen stecken oder doch lieber in Projekte, von denen man sich eher Wettbewerbsvorteile verspricht?
Firmen als Subventionsjäger
Altmaier erklärt, es gebe Entwicklungen, die durch die Summe der betriebswirtschaftlichen Entscheidungen nicht in die richtige Richtung gelenkt würden. Es komme für den Standort Deutschland dann nicht das heraus, was man dringend brauche. Er scheint somit genau zu wissen, welcher Technologien Deutschland bedarf. Dabei hat die Marktwirtschaft genau dort eine besondere Stärke, wo die Unsicherheit groß ist: Sie sammelt das dezentral bei den Marktteilnehmern vorhandene Wissen und verarbeitet es. Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek bezeichnete den Wettbewerb nicht umsonst als Prozess der Meinungsbildung, der einem zentralen Planer überlegen ist.
Diese Kritik muss sich auch Kanzlerin Angela Merkel gefallen lassen, die der Industrie unlängst eine neue Partnerschaft angeboten hat. Sie sagte, es gebe Zeiten, in denen die Wirtschaft und die Politik wieder enger zusammenarbeiten und schauen müssten, wo die gemeinsamen strategischen Pfade lägen. Das habe damit zu tun, dass es viele Akteure weltweit gebe, bei denen Politik und Wirtschaft sehr eng verflochten seien. Das ist zwar gut gemeint, aber ein solches Zusammengehen ist gefährlich, auch wenn Merkel betont, es gehe ihr nicht um die Vereinnahmung der Wirtschaft.
Ein Vorteil der Marktwirtschaft liegt gerade darin, dass sie nicht „gesamtwirtschaftliche Ziele“ vorgibt. Vielmehr kann über Märkte jeder selbst seine eigenen Ziele verfolgen und im besten Fall verwirklichen. Das, was Altmaier und Merkel dagegen vorschwebt, ist eine Art Renaissance des Korporatismus, in dem Staat und Wirtschaft verbandelt sind.
Die 68er Linke hat seinerzeit über den militärisch-industriellen Komplex, also die Verbindung von Militär, Politik und Industrie, geschimpft. Wenn nun Europa auf die Herausforderung aus China seinerseits mit stärkerer Koordination antwortet, schafft man neue „politisch-ökonomische Komplexe“. Firmen werden dann zu Subventionsjägern, statt sich an den Bedürfnissen der Nachfrager auszurichten – die Erfahrung mit den Solarzellen lässt grüßen. Fabriken werden aufgestellt, wenn der Staat genügend Geld einschießt. Dies schafft gegenseitige Abhängigkeiten und ist ungerecht gegenüber all denjenigen Branchen, die die Regierung nicht für matchentscheidend hält.
Wenn China oder andere Länder Branchen staatlich unter die Arme greifen, könnte man doch auch den folgenden Gedanken haben: Deutschland oder auch die Schweiz profitieren davon, wenn sie Güter importieren, in die Peking öffentliche Mittel gesteckt hat. Jedenfalls hat sich die deutsche Exportindustrie – im Gegensatz zur amerikanischen – in den letzten Jahren sehr gut geschlagen, weil sie diejenigen Investitionsgüter herstellt, die im asiatischen Raum stark gefragt sind. Deutschland und die Schweiz profitieren vom lebhaften Außenhandel wie nur wenige andere Staaten. Der große Nachbar hat derzeit sogar eine niedrigere Erwerbslosenquote als die Schweiz.
Doch Politiker wollen gestalten. Mit der Eröffnung eines Werks für Speicherchips oder Solarzellen – und vielleicht in Bälde für Batteriezellen – empfiehlt man sich für höhere Ämter oder sorgt zumindest für eine weiche Landung in der Privatwirtschaft vor. Wie viel schwieriger ist stattdessen das Gewährenlassen.
Dabei passt zu einem Land, das viele „hidden champions“ hat, also mittelgroße Firmen, die in ihrer Nische Weltmarktführer sind, eine Industriepolitik im Stile Pekings ohnehin nicht. Die Erfahrung seit der Wiedervereinigung zeigt gerade, dass man es gut hinbekommen kann, wenn man sich beim Subventionswettlauf zurückhält und stattdessen mit Reformen an Wettbewerbsfähigkeit gewinnt. Europas Länder haben eigentlich genug damit zu tun, ihre Infrastruktur auf einem ansprechenden Stand zu halten, wozu auch Investitionen in Forschung und Bildung gehören. Von einer Politik, die nationale oder europäische Champions kreiert, sollten sie dagegen die Finger lassen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel „Die fixe Idee vom europäischen Champion“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. 10. 2018 auf S. 12. Wir veröffentlichen den Text mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags. Zur Online Originalversion gelangen Sie hier.
Lesen Sie zum Thema auf unserer Website auch die ausführliche Studie von Alberto Mingardi, Der Staat als Unternehmer? Eine kritische Analyse von Mariana Mazzucatos „Das Kapital des Staates“. Der Text kann auch als Austrian Institute Paper Nr. 15 heruntergeladen werden: Download als PDF hier.