Soll man ehrfürchtig aufblicken – auf diese blanken Messingschilder an exklusiven Advokaturen, Kanzleien in London, an der Wall Street? Aber kann man übersehen, was Kriminalfilme an Klagewellen, erpresserischen Rekursen solcher Elite-Anwälte uns vorführen, alles eingetunkt in Whisky-Schwaden auf Landsitzen mit weißen Gartenmöbeln?
Ja doch, setzen wir die kritische Lupe beim Konkurs der Lehman Brothers am 15. September 2008 an. Mehrere hundert Milliarden Guthaben der Kunden waren gefährdet oder schon weg. Doch seither haben genau solche Anwälte um die 40% des vermeintlich verlorenen Geldes eingeklagt, eingetrieben und den Kunden zugestellt. 19 Verteilungsrunden haben stattgefunden, die letzte im vergangenen September, und für Ende März 2020 ist die zwanzigste angekündigt. Irgendwie fällt das marktwirtschaftliche System immer mal wieder in ein Loch – ein großes bei Lehman – aber dieses System hat auch ein Rechtsgerüst dahinter, das funktioniert. Dies einmal vorweg.
Das alles kann ganz konkret, ganz kapillar an einem erlebten Beispiel verfolgt werden. Eine gute Bekannte hatte ihr Geld der Crédit Suisse zur Verwaltung übergeben, und die Bank fand eine erstklassige Adresse für die Anlage von 50.000 US-Dollar – bei Lehman Brothers. Die Finanzkrise machte aber einen großen Strich durch die Rechnung, die Bekannte dachte, alles ist gestrichen, verloren. Sie starb darnach, glücklicherweise nicht aus Kummer deswegen, sondern in hohem Alter. Und nun sind seither 19 Mal Rückflüsse an die in der ganzen Schweiz verstreuten Erben erstattet worden. Der Weg, den die Rückflüsse nahmen, ist eindrücklich: Lehmans Bankruine an der Wall Street – klagende Advokaturen – rückzahlende Schuldner der Lehman – einkassiert durch die Konkursbehörden – überwiesen an die Crédit Suisse – zugeteilt an deren Filialkonten im Ostschweizer Dorf – ausbezahlt an die Erben, in der letzten Runde noch je ein paar Dutzend Dollar.
Sicherlich haben einige der beauftragten Anwälte aus ihren Tarifen nochmals ein paar gediegene Gartenmöbel für den Landsitz kaufen können. Aber das sind die Spesen eines privatwirtschaftlichen Systems, dessen Eigentumsrechte funktionieren. Diese Eigentumsrechte können über ganze Kontinente hinweg geltend gemacht werden. Sie laufen über den Tod hinaus an die Rechtsnachfolger weiter. Sie verlaufen, wie in diesem Fall, sogar bis zum letzten Berechtigten, ohne dessen Wissen, Auftrag und Zutun.
Diese Rechte laufen nicht bloß für die Reichen. Nur schon dieses Guthaben von 50.000 Dollar kam zu seinem Recht, was für die Sicherheit auch der kleinen Sparer – nicht nur der Millionäre – spricht. Sodann gilt diese Rechtssicherheit auch für Pensionskassen – nochmals ein Gut eher der kleinen Leute.
Der Liberale räumt gerne ein, dass diese Garantie der Grundrechte, hier des Eigentums, durch den Staat und seine Behörden – Polizei, Gerichte, Prozessrecht, Rekursmöglichkeiten – angeboten und durchgesetzt werden. Zwar gab es zu allen Zeiten, und gibt es auch heute, privat unter Vertragspartnern bestellte Schiedsgerichte. Doch wenn sie schließlich nur mit der Faust durchgesetzt werden könnten, würden Anarchie und Rechtsunsicherheit ausbrechen. Wir haben uns in modernen, republikanischen Zeiten auf diese öffentliche Rechtsordnung geeinigt. Und dies wiederum heißt – an Nörgler gerichtet – dass die Grundrechte, also auch das Eigentum, ganz sein müssen. Die vielen Regelungen, Einschränkungen, Amputationen durch Besteuerung haben die „Bestandesgarantie“, also den Kern dieses Rechts, in vielen Staaten ernsthaft gefährdet, ja beseitigt. Der schwammige Begriff in der deutschen Verfassung „Eigentum verpflichtet“ lädt die Gerichte zu vielen Umwegen und Abwegen der Sozialisierung ein. Unvoreingenommene Leser könnten hingegen, wie Alfred Rappaport in seiner Lehre vom Shareholder Value, auch zur Frage kommen: «„Eigentum verpflichtet – zu akkumulieren? Zu teilen?“»
Der Liberale muss mit Adam Smith auch beim Arbeitenden ein schützenswertes Eigentum sehen: „Das Erbe eines armen Mannes liegt in der Kraft und dem Geschick seiner Hände, und ihn daran zu hindern, beides so einzusetzen, wie er es für richtig hält, ohne dabei seinen Nächsten zu schädigen, ist eine offene Verletzung dieses heiligsten Eigentums“ (in: Der Wohlstand der Nationen, Buch 1, Kap. X, „Lohn und Gewinn“, Zweiter Teil). Doch heute ist nicht nur das Recht des Vermögenden, des Erben, des Sparers durch Eingriffe verletzt, sondern auch jenes des Arbeitenden. Er darf nicht so lange arbeiten, wie er will, nicht für mehrere Arbeitgeber, ihm wird Überzeit durch Gewerkschaften und Arbeitsämter verboten, er braucht oft Bewilligungen aller Art – wie die Uber-Fahrer – er wird mit festem Altersjahr zwangspensioniert.
Zum Schluss gilt gerade auch beim Fall Lehman Brothers, und für die Finanzkrise ganz allgemein, die Lehre, dass Verluste genauso zum System gehören wie Gewinne und Eigentumsrechte. Man kann bei Scheitern nichts einfordern. Das Eigentum ist oft ein flüchtiges Reh. Die Rechtsordnung als Gerüst hinter dem Markt, dem Eigentum, der Arbeit, ist leider ein noch flüchtigeres Gut geworden als die Lehman-Milliarden. Doch an ihr hängt die Freiheit. Zu dieser soll man ehrfürchtig aufblicken, auch wenn ihre gelegentlichen Verteidiger wohlgenährte Anwälte sind.