Nutzen und Kosten können nur individuell festgestellt werden, Entscheidungen werden von Individuen getroffen, Absichten gibt es nur verankert im Einzelmenschen: Die Österreichische Schule der Nationalökonomie – in den USA: „Austrian Economics“ – betont das Individuelle. Doch ist für eine Lehre, die einen so starken Akzent auf das Individuum setzt, auffallend, wie stark ihre Anhänger auf Netzwerke, also auf Gruppen, setzen.
Ein Widerspruch? Muss nicht sein.
Was überhaupt ist diese Österreichische Schule der Nationalökonomie? Der Name impliziert eine Homogenität, die es vermutlich außerhalb des Privat-Seminars von Ludwig von Mises, im 20. Jahrhundert einer ihrer wichtigsten Vertreter, nie gegeben hat. Denn die Österreichische Schule entstand ohne Absicht und Planung. Sie keimte im Wien des letzten Drittels des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts und entwickelte sich später – wegen der Emigration fast aller ihrer Vertreter – vor allem in den USA weiter. Heutzutage beginnt sie auch in Europa wieder vermehrt Anhänger zu gewinnen.
Die Schule kennt seit Anbeginn viele Varianten. Ja, gerade weil sie das Individuum betont, gibt es verschiedene, individuelle Österreichische Theorien.
Der einzelne…
Die Österreichische Schule entwickelte sich über einen langen Zeitraum hinweg. Sie war geprägt von Einzelpersönlichkeiten, die dezentral wirkten, aber ähnliche Grundsätze teilten – und sich auch kontrovers über sie stritten. Einige dieser Grundsätze sind:
In der Wirtschaftswissenschaft geht es gänzlich um die Analyse des Handelns von Individuen. Privateigentum und Eigentumsrechte sind unentbehrliche Grundlage des individuellen Lebens. Handlungen haben Konsequenzen – sowohl positive als auch negative, kurzfristige wie langfristige, offensichtliche und weniger offensichtliche: Sie alle unterliegen gewissen Gesetzmäßigkeiten, die zu entdecken Aufgabe des Ökonomen ist. Der ökonomische Wert eines Gutes beruht auf der subjektiven Einschätzung eines Individuums darüber, inwieweit dieses Gut der Befriedigung seiner Bedürfnisse dient. Preise spiegeln auf freien Märkten die Wertschätzungen der Akteure wider, signalisieren sowohl Knappheit als auch Überschüsse und sind unerlässlich für die effiziente Zuteilung von Ressourcen. Geld ist nicht neutral, das heißt die Vermehrung oder Verminderung seiner Menge beeinflusst die innere Struktur und den Gang der Wirtschaft und zeitigt Umverteilungseffekte zugunsten jener, deren Tätigkeit näher bei den Quellen der Geldschöpfung situiert ist. Gleichgewichtstheorien, vor allem solche mit hoher mathematischer Komplexität, sind wirklichkeitsfremd, denn Gleichgewichte gibt es in der Realität nicht oder selten. Gerade Ungleichgewichte ermöglichen unternehmerisch-kreatives Handeln, dessen Innovationseffekte in der Mainstreamökonomik weitgehend unberücksichtigt bleiben. Denn Märkte sind offene Prozesse, in denen neue Information und damit Innovation geschaffen wird, Wettbewerb ist ein Entdeckungsverfahren. Zentral dabei ist immer die Kreativität des Individuums.
Nicht alle Grundsätze waren von Anfang an da. Einige kamen mit der Zeit hinzu, die Gewichte wurden oft verlagert. Differenzierung und Nuancierung begleitete die «Schule» von Anfang an. Denn als sich Ökonomen wie Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk, Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek (Wirtschaftsnobelpreis 1974) und viele andere mehr aufgrund solcher Grundsätze zu arbeiten begannen, waren sie sich nicht bewusst, dass sie eine eigene Schule etablieren würden.
… und die Gruppe
Was aber auffallend ist: Trotz dieser Tendenz zur Individualität und Individualisierung der theoretischen Ansätze entwickelten die «Österreicher» ihre Positionen erstaunlich oft in Gruppen und Netzwerken. Drei Beispiele sollen das verdeutlichen:
Eins: Ludwig von Mises entwickelte seine Gedanken in einem Privatseminar. Regelmäßige Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren etwa Martha Steffy Browne, Friedrich Engel-Jánosi, Walter Froehlich, Gottfried Haberler, Friedrich August von Hayek, Fritz Machlup, Oskar Morgenstern, Paul Rosenstein-Rodan, Alfred Schütz, Richard von Strigl und Eric Voegelin. Zeitweise verzeichnete Mises bis zu 50 Besucher. Dort wurde diskutiert und „es flogen die Fetzen“, wie Friedrich August von Hayek es formulierte. Aber man fand sich immer wieder zusammen und zog – teils singend – durch die Wiener Gastroszene.
Zwei: Die nach dem zweiten Weltkrieg initiierte Mont Pèlerin Society umfasst nicht nur „Österreichische“ Ökonomen. Aber die Denkfabrik wurde im Wesentlichen von Österreichern gegründet und ein Vertreter der Österreichischen Schule, Peter Boettke, präsidiert sie heute. Sie ist ein 1947 von Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises und anderen ins Leben gerufener Zusammenschluss von Akademikern, Geschäftsleuten und Journalisten, der das Ziel verfolgt, zukünftige Generationen vom Liberalismus zu überzeugen. Sie organisiert regelmäßig Konferenzen und andere Gruppenaktivitäten.
Drei: Die in Freiburg in Breisgau im Jahr 1998 gegründete Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft widmet sich der Förderung der wirtschafts-, rechts- und gesellschaftswissenschaftlichen Forschung und Erkenntnis im Geiste Friedrich A. von Hayeks sowie deren Verbreitung. Dabei geht es nicht um eine ewige Wiederholung des Hayek-Canons, sondern um seine Weiterentwicklung. Sie organisiert auch regelmäßige Stammtische und Roadshows: alles Gruppenaktionen.
Kein Widerspruch
Dass die Österreichische Schule das Individuum betont und die Österreicher gleichzeitig den Zusammenhang der Gruppe suchen, ist alles andere als ein Widerspruch. Das gilt sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene.
Theoretisch betont die Österreichische Schule, es gehe ihr um das Individuum in der Gesellschaft bzw. darum zu zeigen, dass Gesellschaften aus Interaktionen von Individuen bestehen. Eine Volkswirtschaft ist ja nichts anderes als der gesellschaftliche Austausch von Gütern und Informationen. Es ist also geradezu eine Vorbedingung des ökonomischen und sozialen Verhaltens des Individuums, dass es die Gruppe gibt. Aber – und das ist jetzt das spezifisch Österreichische –, damit es überhaupt eine funktionierende Gruppe gibt, müssen individuelle Freiheit und Verantwortung im Mittelpunkt stehen.
Auf der praktischen Seite sind Österreicher der Meinung, Wissenschaft und Meinungsbildung seien an sich Gruppenprozesse. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Ideen können einzelne Forscher und Forscherinnen ihre Ideen verbessern. Schließlich sind Wissenschaft und Meinungsbildung auch Märkte – Märkte für Begriffe, Methoden und Theorien. Und Märkte sind notwendigerweise Gruppenprozesse. Also ist es gerade für jene, die ihre Ideen „vermarkten“ wollen, unerlässlich in Gruppen zu agieren.
Dazu kommt noch etwas Anderes: Österreicher sind der Meinung, Ökonomik sei das Studium des menschlichen Handelns. Deshalb wehren sich sie sich gegen das mathematische Modellbrüten im entrückten Elfenbeinturm der Universität. Sie wollen die Freiheit des Individuums in die Praxis umsetzen und brauchen dafür „inneres Feuer“. Auch hier gilt: Das innere Feuer in einer Gruppe zu befeuern und die Individuen als Multiplikatoren zu gewinnen, ist die beste Art, Meinungsbildung zu betreiben.
Lebendige Gruppe – aktive Individuen
Damit lässt sich die Vielfalt von privaten Organisationen erklären, die sich immer schon, aber auch heute der Verbreitung der Ideen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie verschrieben haben. Diese Gruppen gibt es weltweit: in den USA, in Europa, in Lateinamerika und sogar in China schließen sich Individuen zusammen, um das gegenseitige innere Feuer zu stärken und die Österreichische Lehre auf dem Markt der Ideen zu bekannt zu machen.
Freie und verantwortungsvolle Individuen, die in einer lebendigen Gruppe aktiv sind, ist also für die Österreichische Schule alles andere als ein Widerspruch. Vielleicht ist gerade diese Verbindung des Einzelnen mit der Gesellschaft sogar ihre eigentliche Botschaft und der Kern ihrer Wahrheit.
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