Ideen und Marken statt Maschinen – der neue Kapitalismus

Arbeit und Realkapital waren seit der Industriellen Revolution die beiden wichtigsten Produktionsfaktoren. Je mehr in diese beiden Faktoren investiert wurde, desto mehr stieg die Arbeitsmarktproduktivität und desto höher war der Zugewinn an Wohlfahrt. Das Produktionskapital bestand aus Maschinen, Gebäuden, Fahrzeugen, Computern und aus Infrastruktur. Der 1884 geschaffene Dow-Jones-Index diente ursprünglich dem Vergleich des materiellen Eigentumsmaterials. Doch diese Zeiten sind nun vorbei, meinen die beiden britischen Ökonomen Jonathan Haskel und Stian Westlake. Wie sie in ihrem neuen Buch Capitalism without Capital. The Rise of the Intangible Economy aufzeigen, verlieren materielle Kapitalgüter in entwickelten Ländern relativ zunehmend an Bedeutung. Gerald Mann, Professor für Volkswirtschaftslehre an der FOM Hochschule in München, stellte am vergangenen Montag im Rahmen einer Veranstaltung des Austrian Institute die Kernthesen des Buchs vor und löste damit eine angeregte Diskussion unter den Teilnehmern aus.

Haskel und Westlake zufolge fließt immer mehr Kapital in immaterielle Produktionsgüter. Dieser Trend setzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung findet er jedoch bis heute keinen Niederschlag. Beispiele für immaterielle Güter sind Forschung und Entwicklung (F&E), Design, Organisationsentwicklung, Training der Mitarbeiter, Markenentwicklung und Prozessverbesserung. In den entwickelten Ländern investieren Unternehmen mittlerweile sogar mehr in immaterielle, als in materielle Produktionsgüter, was aber die Unternehmensbilanzen nicht widerspiegeln.

Microsoft ist ein „modernes Wunder“

Als Beispiel führen die Autoren unter anderem Microsoft an:

„Der Marktwert von Microsoft lag 2006 bei rund 250 Milliarden Dollar. Wenn man sich Microsofts damalige Bilanz, die die Vermögenswerte erfasst, ansieht, findet man eine Bewertung von rund 70 Milliarden Dollar, davon 60 Milliarden Dollar in Form von Bargeld und verschiedenen Finanzinstrumenten. Die traditionellen Vermögenswerte von Betriebs- und Geschäftsausstattung beliefen sich hingegen auf nur 3 Milliarden US-Dollar, was 4 Prozent von Microsofts Vermögenswerten und 1 Prozent seines Marktwerts entspricht. Nach der herkömmlichen Bilanzierung von Vermögenswerten war Microsoft damals ein modernes Wunder.“

Diese Divergenz zwischen traditionellen Vermögenswerten und Marktwert wurde immer größer. Die gleichzeitig wachsende Bedeutung immateriellen Produktionskapitals zeigt sich etwa bei Google, wo vor allem die Algorithmen, die Software und die Gesamtheit an Daten das immaterielle Produktionskapital ausmachen. Apple wiederum investiert Unmengen in Forschung und Entwicklung, aus der neue Produkte wie das iPhone hervorgehen. Auch Design und Marke sind für ein Unternehmen wie Apple unerlässlich. Nicht anders verhält es sich bei Unternehmen wie Uber oder Airbnb. Zwar besitzt Airbnb kein einziges Hotel, dennoch ist es für die meisten Übernachtungen weltweit zuständig.

Immaterielle Produktionsmaterialien waren schon früher wichtig. So benötigte man für den Schiffsbau etwa Wissen. Nun übernahmen die immateriellen Produktionsgüter damals noch keine dominierende Rolle. Das tun sie den beiden Autoren zufolge erst seit den 1980er Jahren. Ihre Relevanz stieg seither kontinuierlich an, um erst mit der Finanzkrise 2008 einzubrechen. In jüngerer Zeit stieg ihr Stellenwert wieder.

Haskel und Westlake illustrieren den Wandel an einem alltäglichen Beispiel: Zweifelsohne waren bereits im Jahr 1980 immaterielle Produktionsfaktoren für ein Fitness-Studio wichtig, jedoch nicht annähernd in dem Maße wie es für ein anspruchsvolles Fitness-Studio heute der Fall ist. Nicht nur erwarten die Kunden mittlerweile professionelle und eingeschulte Mitarbeiter, die ihnen Auskunft geben. Die Geräte sind darüber hinaus bereits digitalisiert und geben Auskunft über Kalorienverbrauch und anderes, weshalb ebenfalls mehr Know-How – also mehr Humankapital – nötig ist.

Hohe Skalierbarkeit, hohe Risiken

Materielle und immaterielle Investitionsgüter sind von unterschiedlicher Beschaffenheit. Die beiden Autoren nennen vier Unterschiede. Zunächst ist die Skalierbarkeit bei immateriellen Investitionsgütern viel höher: Die Vernetzung von Menschen – etwa über die sozialen Medien – ist leicht skalierbar. Es entstehen dabei Netzwerke, die sich eventuell als hartnäckiger entpuppen könnten als bisherige Monopole. Die leichte Skalierbarkeit ist mit geringen zusätzlichen Kosten verbunden.

Andererseits steigt zweitens die Gefahr von versunkenen, irreversiblen Kosten: Wenn ein Unternehmen scheitert, ist alles, was in immaterielle Güter investiert wurde, kaum oder gar nicht mehr verkäuflich. Sobald etwa ein besseres Produkt als Facebook auf dem Markt ist, ist Facebook wertlos. In der alten Industriewelt war die Gefahr versunkener Kosten wesentlich geringer. Bei immateriellen Produktionsgütern gibt es somit zwar keine Abnutzung wie bei Maschinen, dafür aber einen kompletten Wertverlust durch neue Konkurrenz.

An dritter Stelle nennt das Autoren-Duo Synergien: Die Effizienz durch Kombination steigt bei immateriellen Produktionsgütern, alle haben zusammen mehr Wert. Würden beispielsweise Google, Facebook und Amazon gemeinsam eine Bank eröffnen, hätten sie aufgrund ihres umfassenden Wissens über ihre Kunden u.a. einen enormen Vorsprung. Viertens weisen die Autoren auf das Phänomen der Übertragung hin: Die Nutzung in anderen Bereichen und Branchen schafft neue Netzwerkeffekte.

Wachsende Ungleichheit könnte die Folge sein

Haskel und Westlake sehen Gewinner und Verlierer dieser Entwicklung. Wer als erstes einen Bereich erschlossen hat, wird dort in der Regel zum führenden Unternehmen und hat ein Monopol. Auch gut qualifizierte Personen, die findig neue Ideen aufgreifen und in Ballungszentren gut vernetzt sind, werden profitieren. Daher befürchten die zwei Ökonomen die Zunahme von Ungleichheit, speziell zwischen Ballungszentren und der Peripherie. Abgehängte Gebiete dürften weiter zurückfallen. Verstärkt werde dies durch die wachsende Bedeutung guter Kontakte zu Politikern, um über neue Gesetze rechtzeitig informiert zu sein. Die Ungleichheit werde sich besonders in der Entlohnung, dem Vermögen und in der Wertschätzung niederschlagen. Auch die Vermögenskonzentration werde sich verschärfen: Das Vermögen in den Ballungszentren wird demnach noch mehr wachsen. „Meines Erachtens sind das bestenfalls Tendenzunterschiede“, merkte hierzu Gerald Mann kritisch an.

Haskel und Westlake sehen auch Veränderungen für Anleger. Immaterielle Investitionen werden nicht bilanziell erfasst, außer im Firmenwert. Bilanzen sagen daher immer weniger über den wahren Wert eines Unternehmens aus.

Der Politik empfehlen beide Autoren eine stärkere Förderung von Bildung, also mehr Investition in Humankapital, speziell im IT-Bereich. Darüber hinaus soll für schnelles Internet und schnelle Telekommunikation gerade in jenen Gebieten gesorgt werden, die ansonsten leicht abgehängt werden. Gerade hier sieht das Autorenduo den Staat in der Pflicht, weil sich solche Investitionen für Private nicht rentieren.

Europas Rolle als Nachzügler

In der anschließenden Diskussion wurde zunächst der Blickwinkel des Buchs auf Monopole in Frage gestellt. „Monopole bedeuten ja nicht, dass es keinen Wettbewerb gibt.“ Darüber hinaus werden heutige Monopole, deren Geschäftsmonopol sich auf Werbung stützt, in nicht mehr so ferner Zukunft wohl der Vergangenheit angehören. Die Autoren, entgegnete Gerald Mann, würden dazu vermutlich anmerken, dass ein Monopol wie jenes von Facebook aber nur schwer zu knacken ist. Denn gerade hier haben Nachzügler fast keine Chance. Deshalb stellte der Referent eine bewusst provokante Frage im Hinblick auf Europa, das den USA hinterherhinkt, in die Runde: Solle Europa die vom deutschen Ökonom Friedrich List (1789 – 1846) entwickelte Idee des Erziehungszolls wieder aufgreifen? Im 19. Jahrhundert „schützte“ sich Deutschland mittels solcher Zölle vor den neuen Lokomotiven aus Großbritannien, um zuerst selbst welche zu entwickeln, die gegen ihre britischen Konkurrenten nicht konkurrenzfähig gewesen wären. Ob ein solcher Erziehungszoll zum Schutz junger Industrien für Europa hilfreich sein könnte, ist zu bezweifeln. Schutzzölle seien auf lange Sicht immer kontraproduktiv, wurde dazu geäußert.

Dass ein Staat Monopolisten zumindest auf seinem Territorium völlig beseitigt, wie es detwa China bei Facebook oder Google tut, wurde in der Diskussion als nicht wünschenswert bezeichnet. Hier greift der Staat in die freie Entscheidung der Bürger ein, die Produkte mit hohem Nutzen nicht mehr verwenden können. Über Zölle würden darüber hinaus in Europa gesetzlich geschützte Monopole entstehen, die weniger effizient wären als jene, gegen die sie auf dem freien Markt nicht bestehen könnten. Gesetzliche Monopole mit schlechterer Dienstleistung sind aber alles andere als begrüßenswert. Auch Prognosen des Buchs wurden angezweifelt. Schließlich weiß ja keiner, wo die Reise hingehen wird, und zu behaupten, dass man es weiß – ist das nicht eine Anmaßung von Wissen im Sinne Friedrich August von Hayeks?

Man muss mit den Schlussfolgerungen der Autoren von Capital Without Capitalism nicht einig gehen, um den Wert und die Aktualität dieses Buches zu honorieren Zweifellos handelt es sich um ein äußerst anregendes und lehrreiches Werk, dessen Grundthesen Wirtschaftsliberale kennen sollten, weil sie teilweise auch zum Widerspruch und damit zum selbständigen Weiterdenken einladen.

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