Gemäß einem gängigen Narrativ war es die moderne Sozialpolitik, die den Massen erst ermöglichte, an den Früchten der kapitalistischen Wertschöpfung teilzuhaben. Ohne den umverteilenden Eingriff und ständigen Ausbau des Sozialstaates wären diese Früchte in den Händen der Reichen verblieben. Das ist falsch, weil der Kapitalismus gerade durch seine ökonomische Logik – Massenproduktion – Massenwohlstand schafft. Er ist eine „Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen“ (W. Plumpe), die Reichen brauchen den Kapitalismus nicht. Im Verbund mit technologischer Innovation ermöglichte er für alle einen Lebensstandard, der frühere Ungleichheit der Lebensverhältnisse zunehmend einebnete. Wer nur auf Einkommens- oder gar Vermögensunterschiede schaut, hat das Wesentliche aus dem Auge verloren. Der Kapitalismus brachte ehemaligen Unterschichten nicht nur die alltägliche Nutzung des technischen Fortschritts – einstiger Luxuskonsum wurde zum Massenkonsum –, er ermöglichte allen auch Bildung, Zugang zu den Gütern der Kultur und ein mehr oder weniger selbstbestimmtes Leben.
Nicht dass es zum Zustandekommen dieses Erfolges nicht des Staates bedurft hätte. Aber seine Aufgabe war und ist vornehmlich, die Herrschaft des Rechts sicherzustellen, Leben und Eigentum zu schützen, Mörder, Diebe, Betrüger und Rechtsbrecher aller Art zu bestrafen, Sicherheit nach innen und nach außen zu gewährleisten sowie subsidiär jene öffentlichen Güter bzw. Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen, die der Markt nicht zu liefern vermag – wobei heute der Markt sehr viele öffentliche Güter besser, billiger und effizienter bereitzustellen vermag als der Staat. Klar ist: Allgemeiner Wohlstand entsteht nicht aus Umverteilung, sondern ist Folge des Wachstums der Arbeitsproduktivität. Massenwohlstand ist eine Leistung der Wirtschaft, nicht der Politik.
Soziale Netze – bürgernah und subsidiär
Doch was ist mit den Zurückgebliebenen? Jenen, die sich nicht selbst helfen können? Den durch disruptive technologische Innovationen aus dem Arbeitsmarkt Gedrängten? Der Staat als regierender Teil der bürgerlichen Gesellschaft wird – zweckmäßigerweise auf möglichst bürgernaher Stufe, z.B. auf Gemeindeebene, und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips – dafür sorgen, dass es ein soziales Netz zur Absicherung der größten Lebensrisiken gibt. Menschen in einer hocharbeitsteiligen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft brauchen Strukturen der wirtschaftlich-materiellen Sicherheit, insbesondere gegen Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Altersarmut usw., die nicht gleicher Art wie in vorindustrieller Zeit sein können. Damals, auf dem Lande oder in den städtischen Gilden und Zünften, existierte soziale Sicherheit nur in der Form sozialer Abhängigkeitsverhältnisse. Individuelle Freiheit wie heute gab es nicht.
In einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft müssen Strukturen sozialer Absicherung Formen annehmen, in denen der Staat nicht zuletzt zum Schutz der Schwächsten eine gesetzgeberische Aufgabe wahrnimmt. Das hatten die liberalen Ökonomen des 19. Jahrhunderts, obwohl sie die Dinge ökonomisch richtig sahen, nicht erkannt. Dass es neben karitativer Hilfe sowie zivilgesellschaftlichen und, etwa im Versicherungswesen, marktwirtschaftlich organisierten Sozialnetzen eine soziale Grundsicherung geben sollte, bei der auch der Staat subsidiär, das heißt vor allem gesetzgeberisch und regulierend beteiligt ist, steht heute selbst für prinzipiell „staatsminimalistische“ klassisch-Liberale in der Tradition von F. A. von Hayek außer Frage.
Etatistische Sozialpolitik
Die deutsche Sozialpolitik hat jedoch von Anfang an einen anderen, grundsätzlich staatsorientierten, d.h. etatistischen Weg eingeschlagen. Sie wollte den Arbeiter vom Staat abhängig machen, um ihn so auch politisch an diesen zu binden. Dieser Weg machte, aus ganz verschiedenen Gründen, auch in anderen Ländern Schule und prägt heute einen Typus von Sozialstaat, der nicht nur an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit stößt, sondern sich auch zunehmend als wachstumshemmend und damit wohlstandsverhindernd erweist. Die von ihm geschaffene Anspruchsmentalität führt zudem zur effektiven Entsolidarisierung der Gesellschaft. Das ist Gift für die Zivilgesellschaft und das in ihr liegende Potential an schöpferischen Kräften.
So erscheint der Staat heute zunehmend als Heilsbringer in allen Lebenslagen. Folge ist ein zunehmendes Anspruchsdenken und die Tendenz, das Leben von Scharen von Sozialhilfeempfängern auf Kosten ihrer Mitbürger und die ebenfalls aus Steuergeldern finanzierte Sozialbürokratie als Normalität anzusehen. Dieses System lähmt die Kräfte der Freiheit und Selbstverantwortung und verhindert damit Initiativen mitbürgerlicher Solidarität. Ökonomen sprechen von „Crowding out“, einem Prozess der Verdrängung: Was bereits der Staat tut, wird niemand mehr selbst tun oder mitfinanzieren wollen. Es ist nicht mehr rentabel oder es fehlt dazu die Motivation. Man hat ja schließlich seine Steuern bezahlt – der Sozialstaat wird es richten!
Marktwirtschaftliche Alternativen
Der chilenisch-schwedische Ökonom und Politiker Mauricio Rojas – er war ursprünglich Marxist und Anhänger Allendes – hat schon vor Jahren liberale und gezielt marktwirtschaftliche Alternativen zum Sozial- und Wohlfahrtsstaat entwickelt. Er plädiert dafür, dass wir uns daran gewöhnen sollten, das „Soziale“ nicht mit dem, was der Staat mit Steuergeldern machen kann, zu identifizieren. Wohlfahrtspflege der Zukunft solle auf freier Wahl und marktwirtschaftlichen Mechanismen beruhen, auf individualisierte Bedürfnisse abgestimmt sein, an Eigenverantwortlichkeit appellieren und mit unternehmerischer Kreativität rechnen. Die traditionellen, nationalen, zentralistischen, bürokratischen und auf Zwang beruhenden Strukturen des Wohlfahrtsstaates, seien – auch wegen der zunehmenden internationalen Migration und Mobilität – ein Anachronismus und ineffizient.
Diese Strukturen sind aber nur schwer reformierbar, weil ihre Weiterexistenz im Interesse des Staates selbst liegt: im Interesse der Sozialbürokratie, der massiv subventionierten privaten Sozialindustrie, der Politiker und natürlich auch derjenigen, die die Macht über das Geld- und Finanzsystem besitzen. Sie alle profitieren von der inflationären Kultur der öffentlichen Verschuldung, allerdings auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung: der Sparer und (zunehmend) der Älteren. Diese werden dazu gedrängt, das Heil in neuen sozialstaatlichen Maßnahmen und Transferleistungen zu suchen – zu Lasten der kommenden Generationen. Der demokratische, zunehmend überalterte Mehrheitswille trägt dann das Seine dazu bei, das System am Leben zu erhalten. Die Bürger werden immer abhängiger von ihm, ja es wird zum Fetisch, auf den aller Augen und Hoffnungen gerichtet sind.
In der Tat sind der Sozialstaat und in seinem Gefolge wirtschaftspolitische Maßnahmen, die sich als „sozial“ ausgeben – Protektionismus, Unternehmensrettungen, Subventionen – in Wirklichkeit schon längst zu unsozialen Wertvernichtern geworden. Sie bedienen Einzel- Und Gruppeninteressen und sind nicht auf das Gemeinwohl ausgerichtet. Finanzierbar ist der hoffnungslos überschuldete Sozialstaat nur noch dank der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken, die aber zu einer Verminderung der kapitalistischen Wohlstandsdynamik führt, vor allem zu einem Absinken des Produktivitätswachstums. Stichwort: Zombifizierung der Wirtschaft. Diese führt zum sozial kontraproduktiven Ergebnis stagnierender Reallöhne der „Normalverdiener“ und erhöhter Ungleichheit.
Ein Umdenken ist notwendig
Der massiv umverteilende Sozialstaat macht alle, ganz besonders aber die zukünftigen Generationen, ärmer. Zudem schwächt er nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern – durch das falsche Anreize setzende umlagefinanzierte Rentensystem – auch Ehe und Familie als Reproduktions-, Erziehungs- und Vorsorgegemeinschaft. Er macht sie weitgehend funktionslos und denunziert sie schließlich als „Auslaufmodell“. Nicht zuletzt damit zerstört er die Lust an Freiheit und Selbstverantwortung. Genau hier sollte ein dringend notwendiges Umdenken ansetzen.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der Beilage „Schöne neue Welt“ der Zeitschrift Smart Investor, Januar 2020, S. 22-23.