Der Fortschritt findet vor unseren Augen statt, doch keiner sieht hin

Wir sind „Zeugen der größten und umfassendsten weltweiten Verbesserung von Lebensstandards“ – und wissen es nicht. Das Ausmaß des zurzeit stattfindenden Fortschritts ist historisch beispiellos, doch ausgerechnet dort, wo das Wohlstandswachstum begann – in der sog. „westlichen“ Welt – ist man sich dessen in absolut keiner Weise mehr bewusst – wider alle Fakten.

In Großbritannien äußerte die Hälfte aller Befragten in einer Umfrage der Gapminder Foundation die Meinung, die Armut sei in den vergangenen 20 Jahren gestiegen. Nur 10 Prozent optierten für die Antwort, sie sei zurückgegangen. In den USA wiederum waren sich nur 5 Prozent der Befragten bewusst, dass sich die Armut in den vergangenen 20 Jahren nahezu halbiert hat. Wiederum eine deutliche Mehrheit, 66 Prozent, war überzeugt, sie sei gestiegen. Umfragen und Studien mit ähnlichen Ergebnissen gibt es zuhauf. Die dabei zutage tretenden allgemeinen Annahmen bezüglich unserer Welt sind aber grundfalsch.

Aussagekräftige Statistiken, überraschende Fakten

Das belegt der schwedische Autor und Historiker Johan Norberg, bekannt geworden durch sein Buch „Das Kapitalistische Manifest“, in seinem kürzlich ins Deutsche übersetzten Werk „Fortschritt. Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer“. Herausgegeben wurde es von der Berliner Denkfabrik „Prometheus – Das Freiheitsinstitut“ in ihrer Edition Prometheus. Die zahlreichen darin zusammengetragenen Daten kombiniert mit gut recherchierten, erstaunlichen Berichten und Reportagen aus aller Welt machen es zu einer wahren Fundgrube eindrucksvoller Belege für einen historisch einzigartigen Fortschritt, in dem sich die Menschheit seit mehr als 200 Jahren befindet, zuerst in Europa, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der gesamten Welt.

Über Jahrtausende hinweg, bis vor 200 Jahren, war Armut der Normalzustand des Menschen.

Norbergs kurzes Buch kontert allen Pessimisten mit einer endlos scheinenden Anzahl von Fakten. Im Jahr 1820 etwa lag das Pro-Kopf-Einkommen in den damals reichsten Ländern Westeuropas bei zirka 1500 bis 2000 Dollar (kaufkraftbereinigt in Dollar des Jahres 1990). Heute erwirtschaften selbst die Menschen in Mosambik oder Pakistan mehr. Der durchschnittliche Weltbürger von damals lebte in tiefem Elend, vergleichbar dem Leben eines heutigen Durchschnittsbürgers in Haiti, Liberia oder Simbabwe: „Im frühen 19. Jahrhundert waren die Armutsraten selbst in den reichsten Ländern höher, als sie es heute in den armen Ländern sind. In den USA, Großbritannien und Frankreich lebten 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung in Zuständen, die wir heute als extreme Armut bezeichnen. Heute sind solche Zahlen nur noch in Subsahara-Afrika vorzufinden. In Skandinavien, Österreich-Ungarn, Deutschland und Spanien lebten ungefähr 60 bis 70 Prozent in extremer Armut.“

Über Jahrtausende hinweg, bis vor 200 Jahren, war Armut der Normalzustand des Menschen. In der Zeit von 1820 bis 1870 begann erstmals in den westlichen Ländern ein nachhaltiges Steigen der Pro-Kopf-Einnahmen, und zwar jedes Jahr um ein Prozent. Zwischen 1870 und 1913 steigerte sich diese Rate noch auf 1,6 Prozent, und nahm erneut Fahrt nach den beiden Weltkriegen auf. „Seit 1820 hat sich in der westlichen Welt das Pro-Kopf-Einkommen um mehr als das 15-Fache vergrößert. In Westeuropa und Nordamerika war in den frühen 1900er-Jahren die extreme Armut auf etwa 10 bis 20 Prozent reduziert worden.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte der zweite große Aufbruch ein, beginnend in Ostasien mit Japan, Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur, ab 1979 auch in China und zu Beginn der 1990er Jahre schließlich in Indien, immer ab dem Zeitpunkt, als diese Staaten beschlossen, sich der globalen Wirtschaft zu öffnen und sich in sie zu integrieren. „Seit 1950 hat das Pro-Kopf-Einkommen in Indien um das Fünffache zugenommen, in Japan um das Elffache und in China beinahe um das Zwanzigfache.“

Johan Norberg beschränkt sich nicht auf Armut. Ob bei Ernährung, Hygiene oder Lebenserwartung – seine Belege für den Wohlstandsfortschritt bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum sind augenöffnend. Er nennt auch einige, einer breiteren Öffentlichkeit weniger bekannte Persönlichkeiten, denen die Menschheit viel verdankt, wie etwa den Agrarwissenschaftler Norman Borlaug, dem die Züchtung von Saatgut gelungen ist, das parasitenresistent und weniger abhängig von Sonneneinstrahlung ist. Die Ernten in trockenen Regionen wie Mexiko versechsfachten sich in der Folge. Damit rettete Borlaug vermutlich Milliarden Menschen das Leben, aber ebenso unzählige Tiere und Pflanzenarten, da ohne sein Saatgut wohl Millionen von Hektar Wald abgeholzt worden wären. Auch bei Themen wie Umwelt oder Gewalt macht Norberg auf überraschende Verbesserungen aufmerksam, die keinesfalls selbstverständlich sind.

Falsche Mythen: Beispiel Kinderarbeit

Die Vorurteile über das 19. Jahrhundert und die Zeit der Industrialisierung sind sämtlich falsch. Das zeigt Norberg etwa am in der Öffentlichkeit kolportierten Bild auf, wonach Kinderarbeit in Folge der industriellen Revolution entstanden sei. Vielmehr wurde während der industriellen Revolution Kinderarbeit erstmals überhaupt thematisiert. Im Merkantilismus war es ein Ideal, Kinder frühestmöglich in die Arbeit zu bringen. Unter dem französischen König Ludwig XIV. wurden Geldstrafen für Eltern eingeführt, die ihre Kinder nicht in einem der besonders geschätzten Industriezweige arbeiten ließen. Oft wurden auch Kinder an andere Großfamilien oder kleine Betriebe als Dienstpersonal vermietet. „Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass diese Art der Kinderarbeit sehr viel intensiver und ausbeuterischer war als diejenige zur Zeit der Industrialisierung. In den schlimmsten Fällen mussten Kinder in Kamine klettern und in Minen arbeiten. Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts war es für Kinder aus der Arbeiterschicht völlig normal, ab dem Alter von sieben Jahren zu arbeiten.“ Kinderarbeit wurde die längste Zeit überhaupt nicht als Problem begriffen, sondern eher als eine Form der Ausbildung. Die Kindheit galt noch nicht als Zeit der Unschuld.

Die strengeren Gesetze zum Verbot der Kinderarbeit waren nicht Ursache, sondern vielmehr Ergebnis des Rückgangs der Kinderarbeit im Laufe des 19. Jahrhunderts

Anders als oft angenommen waren die strengeren Gesetze zum Verbot der Kinderarbeit nicht Ursache, sondern vielmehr Ergebnis des Rückgangs der Kinderarbeit im Laufe des 19. Jahrhunderts. Solange Eltern auf das Einkommen ihrer Kinder zum eigenen Überleben angewiesen waren, ignorierten sie häufig Verbote. Erst als die Einkünfte der Kinder für die Familie nicht mehr überlebensnotwendig waren, verzichteten sie auf Kinderarbeit, selbst wenn ihnen diese zunächst ein höheres Einkommen sicherte. Doch dank steigender Löhne, allgemeiner Bildung und technischer Innovationen sanken Angebot und Nachfrage nach Kinderarbeit. Es lohnte sich zunehmend für Eltern, in die Bildung ihrer Kinder zu investieren. „Der Anteil der Kinderarbeit in England und Wales wurde von 28 Prozent im Jahr 1851 auf 21 Prozent im Jahr 1891 reduziert und auf 14 Prozent im Jahr 1911, um dann bald ganz zu verschwinden.“

Im Jahr 1950 lag die Kinderarbeitsrate in China noch bei etwa 48 Prozent, in Indien bei 35 Prozent, in Afrika bei 38 Prozent und selbst in Italien bei 29 Prozent. Auch hier hat sich die Lage seither deutlich verbessert. 1987 arbeiteten in Indien nur mehr 25 Prozent der Kinder, und nachdem sich Indien der Weltwirtschaft öffnete, sank die Rate bis 1999 auf 14 Prozent. Im Jahr 2000 lag weltweit der Anteil an 5- bis 17-jährigen Kindern, die arbeiten müssen, noch bei 16 Prozent. Bis 2012 sank er auf 10,6 Prozent. Dafür gibt es eindeutige Ursachen: „Untersuchungen haben gezeigt, dass sich das Volumen des Außenhandels eines Landes entgegengesetzt proportional zu der Ausbreitung von Kinderarbeit verhält, weil durch Handel neue Stellen entstehen und dadurch höheres Einkommen generiert wird.“

Wissenschaft und Liberalismus

Norberg benennt die Quellen des Fortschritts. Ab dem 17. und 18. Jahrhundert profitierte Europa einerseits von Wissenschaft und Innovation, andererseits vom politischen Liberalismus. Beides in Kombination führte zu einem Austausch und einer permanenten Vermehrung von Wissen. Beides musste sich auch gegen Widerstände durchsetzen, denn zu allen Zeiten waren die jeweiligen Eliten darauf bedacht, ihre eigene Machtstellung gegen alle Erneuerungen zu verteidigen, die ihre eigene Position in Frage stellten: „Die Ursachen menschlichen Fortschritts sind zwar fest verankert: das Wachstum der Wissenschaft und des Wissens, die Ausweitung von Kooperation von Handel und die Freiheit, all dies auszuführen. Doch in der Geschichte wurde all dies immer wieder durch Kräfte blockiert und zerstört, die keinen Wandel akzeptieren, weil sie ihn fürchten oder weil er ihre Position bedroht.“

Die Globalisierung ist Ursache der weltweiten Ausbreitung von Fortschritt und Wohlstand im 20. Jahrhundert.

In Europas politischer Zersplitterung sieht Norberg einen entscheidenden Grund für die erstmalige Etablierung dieses Erfolgsmodells. Demnach waren es „nicht anderen Regionen gegenüber überlegene Denker, Erfinder und Geschäftsmodelle, die Europa reich machten. Es geschah vielmehr dadurch, dass die europäischen Eliten weniger erfolgreich darin waren, diese Menschen und Ideen zu behindern. Ideen, Technologien und Kapital konnten sich zwischen den verschiedenen Staaten hin und her bewegen, wodurch diese gezwungen waren, miteinander in Wettbewerb zu treten und voneinander zu lernen. Dadurch bugsierten sie sich gegenseitig in Richtung Modernisierung.“

Segensreiche Wirkung der Globalisierung

Die Globalisierung wiederum ist, wie jedes Kapitel dieses Buches belegt, Ursache der weltweiten Ausbreitung von Fortschritt und Wohlstand im 20. Jahrhundert. Das Wohlstandswachstum, das zunächst in Europa geschah, fand dank ihr in der gesamten Welt statt: „Mit der Globalisierung im späten 20. Jahrhundert, als sich diese technischen Errungenschaften und Freiheiten auf dem Rest der Welt ausbreiteten, wiederholte sich dies in größerem Ausmaß und schneller als jemals zuvor.“ Die Zeit des Liberalismus im Europa des 19. Jahrhunderts „ähnelt in gewisser Weise der heutigen Epoche der Globalisierung. Mehr Länder an mehr Orten der Welt haben inzwischen Zugang zur Gesamtheit menschlichen Wissens und sind offen für die besten Innovationen von anderswo. In einer solchen Welt hängt der Fortschritt nicht mehr vom Willen eines Kaisers ab. Wenn der Fortschritt an einem Ort blockiert wird, werden viele andere die Reise der Menschheit fortsetzen.“

Sämtliche junge Menschen können heute mit viel mehr „Perspektiven und Lösungsansätzen experimentieren als je zuvor“. Die Anhäufung von Wissen schreitet weiter voran, und jeder Einzelne kann dazu beitragen. Kein „starker Mann“ oder Herrscher hätte je geschafft, was die Menschen mit vereinten Kräften zuwege gebracht haben. Das freie, nicht zentral geplante Wirken der Menschen und ihre zwangsfreie Interaktion verursachten eben nicht Chaos, sondern Fortschritt. Dieser Fortschritt ist Frucht der Freiheit.

Unbegründete Ängste gefährden den Fortschritt

Doch Norberg vertritt keinen Hurra-Optimismus im Sinne von: Alles wird von selbst immer besser. Im Gegenteil: Er will sein Buch auch als Warnung verstanden wissen. Die Ignoranz gegenüber dem von ihm dokumentierten beispiellosen Fortschritt, die irrige Annahme, er sei selbstverständlich und die Furcht vor Veränderung, die uns dazu bewegt, individuelle Freiheiten wieder zurückzuschrauben, gefährden das Erreichte und damit die Zukunft. „Wenn Menschen glauben, dass ihre Gesellschaft oder ihre Gruppe bedroht wird, fangen sie an, mehr autoritäre und protektionistische Standpunkte zu vertreten, auch in den Fragen, die nicht mit den unmittelbaren Bedrohungen zusammenhängen. … Menschen, die Angst haben, suchen nicht nach Chancen, sondern nach Schutz. Sie stimmen nicht für Offenheit und Freiheit.“

Norberg zitiert Matt Ridley, den Verfasser von „The Rational Optimist“, der auf die Frage, was ihm am meisten Sorgen bereite, antwortete: „Aberglaube und Bürokratie. Aberglaube kann das Ansammeln von Wissen verhindern. Und Bürokratie kann uns davon abhalten, dieses Wissen in neuen Technologien und Unternehmen einzubringen.“ Auch Norberg ortet hier Gefahren für den künftigen Fortschritt – von der Covid-19 Pandemie und den möglichen Auswirkungen ihrer Bekämpfung wusste er bei der Abfassung des Buches noch nichts, man darf aber annehmen, dass diese seine Warnrufe nur noch verstärkt hätten.

Dennoch und trotz aller bereits eingetretenen und noch erwartbaren Verwerfungen: Grundsätzlich deutet alles langfristig auf ein fortgesetztes Wohlstandswachstum im bevorstehenden Jahrhundert hin. Unsicher ist, ob Europa noch weiterhin ein Treiber dieser Fortschritts sein wird, oder auch ob es an diesem Fortschritt zumindest vollumfänglich partizipieren wird. Es wird nicht zuletzt davon abhängen, ob Europa wissensdurstig, offen für Freiheit und Innovation bleibt – auch, was die Eindämmung der CO2-Emissionen betrifft –, oder ob alles, getrieben von diversen dystopischen Aberglauben, in einer überregulierenden Bürokratie und letztlich populistischen Politikkonzepten erstickt werden wird. Dass sich der Fortschritt weltweit fortsetzen wird, dessen ist sich Norberg ganz sicher, bezüglich Europa ist er es nicht ganz.

Johan Norberg

Fortschritt
Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer

Editon Prometheus
Softcover, 272 Seiten
Erschienen: Mai 2020
ISBN: 978-3-95972-287-2
18,99 €

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