Chinesischen Wissenschaftlern sei es zum ersten Mal gelungen, zwei Affen zu klonen, so las man vor kurzem in den Schlagzeilen. Als vor zwanzig Jahren auf ähnliche Weise das Hausschaf Dolly erzeugt wurde, verursachte dies noch eine ungleich grössere Aufregung – obwohl Javaneraffen Primaten sind und damit biologisch dem Menschen viel näher stehen als Schafe. Sollen jetzt also bald auch Menschen geklont werden? fragen sich deshalb viele besorgt. Ist es gar das, worauf die Chinesen abzielen?
Dass der chinesische Staat ein politisches Interesse an genetischem und biotechnologischem Knowhow haben könnte, ist keine grundlose Verdächtigung. In China ist jedenfalls das Klonen menschlicher Embryonen zu therapeutischen Zwecken bereits erlaubt und wird praktiziert. Vor allem aber ist die chinesische Führung gerade dabei, ein gigantisches «Social credit system» zu implantieren. Durch digitale Kontrolle des Bürgers, eines ausgetüftelten Sanktionssystems für Sozialsünder bis hin zur öffentlichen Zurschaustellung soll menschliches Verhalten im Dienste grösstmöglicher Effizienz und «sozialer Harmonie» gesteuert werden. Die allgemeine Mentalität spielt mit: Respekt vor der individuellen Freiheit und westliche Sensibilität für Datenschutz und Schutz der Privatsphäre sind in der chinesischen Kultur kaum verbreitet.
Wo bleibt die Freiheit?
An einem kürzlich vom Kölner «Flossbach von Storch Research Institute» veranstalteten Expertensymposium tauchte die Frage auf, ob denn ein solches System nicht früher oder später am Drang der Bürger nach persönlichen Freiheit scheitern müsse. Der Befragte, ein ausgewiesener Chinaexperte, antwortete, das glaube er nicht, denn der chinesische Staat würde nicht davor zurückschrecken, den Menschen notfalls durch genetische oder biotechnologische Eingriffe jeglichen Freiheitsdrang auszutreiben.
Könnte also vielleicht das Klonen einmal das benötigte Knowhow generieren, um Menschen so umzubauen, dass persönliche Freiheit aus ihrem Wertehorizont verschwindet? Kommt es deshalb vielleicht in Zukunft zu einem Zusammenprall zwischen einer von der Hochschätzung des freien Individuums geprägten westlichen Zivilisation mit einer östlichen, in der kollektive Steuerung und Kontrolle zur Schaffung «sozialer Harmonie» als normal gelten, individuelle Freiheit hingegen als Wert gar nicht mehr wahrgenommen wird?
Solche Fragen mögen verwegen klingen, sollten aber nicht leichtfertig beiseitegeschoben werden. Bedenklich ist nämlich: Die öffentliche Sensibilität kreist zurzeit kaum um mögliche Gefahren für die Freiheit des Menschen, sondern nur für seine Gesundheit und Sicherheit und um Gefahren für die «Natur». Die auf immer grössere Akzeptanz stossende Forderung nach Anerkennung von «Tierrechten» – Menschen seien ja nur eine etwas höher entwickelte Art von Tieren – hat symptomatische Bedeutung für eine schleichende Erosion unseres Bewusstseins von Menschenwürde und vom Wert individueller Freiheit.
Nur der Mensch besitzt Rechte
Doch nur Menschen besitzen Rechte, unbeschadet der Tatsache, dass Menschen gegenüber Tieren, ja gegenüber der Natur insgesamt, Pflichten haben – aber nicht der Natur, sondern des Menschen wegen, dessen Lebensraum die Natur ist. Von Aristoteles stammt die Einsicht, Tiere agierten allein aufgrund von Lust und Schmerz, Menschen hingegen hätten Vernunft und Sprache und deshalb kennten sie Recht und Unrecht, worauf alle Zivilisation gründe. Wer für «Tierrechte» plädiert, entmenschlicht die Menschenrechte und den Menschen zugleich. Der Kampf gegen den sogenannten Speziesismus, der den Menschen angeblich auf Kosten anderer Arten privilegiere, ist in Wirklichkeit ein Kampf gegen die Menschenwürde.
Tiere haben Würde, insofern sie Menschen nützlich sind – nur deshalb wird ja der Hund der beste «Freund» des Menschen genannt – oder ihr Anblick das menschliche Auge ergötzt. Gerade die rührenden, von menschlicher Dankbarkeit zeugenden Inschriften auf Grabsteinen alter Hundefriedhöfe, wie man sie in Andalusien antreffen kann, zeigen: Ein Hundeleben endet mit dem Tod, der Hund lebt nur in der Erinnerung des Menschen weiter. «Glücklich, die wir hier liegen am Fusse dieses Steins, denn ob wir gut oder schlecht gelebt haben, hier bleiben wir», heisst es da etwa mit feiner Ironie. Ganz anders die Menschen, fährt die Inschrift fort, sie müssen sich um ihr Ende sorgen, denn «im Moment des Todes haben sie eine Rechnung zu begleichen» – ihr Leben geht ja weiter.
Im 13. Jahrhundert machte Thomas von Aquin die bemerkenswerte Aussage: Im Unterschied zum Reich der nichtgeistigen Geschöpfe, die vergänglich sind, zielt die «Absicht der Natur» bei den geistigen Substanzen, die unvergänglich sind, auch auf das Individuum. Als Körperwesen nimmt der Mensch gleichsam eine Mittelposition ein, denn insofern sein Körper durch die geistige Seele lebt, ist er mit der Würde der Unvergänglichkeit ausgestattet. Jedes einzelne menschliche Individuum, nicht nur die Erhaltung der Art, ist hier von Bedeutung.
Die westliche, vom Christentum geprägte Zivilisation zeichnet sich, wie der Oxforder Historiker Larry Siedentop gezeigt hat, gerade durch die «Entdeckung des Individuums» aus. Diese Entdeckung habe unsere freiheitliche, liberale politische Kultur ermöglicht. Grundlage, ja Bedingung der Möglichkeit dieser Entdeckung, war aber gerade die Unterscheidung des Menschen vom Tier. Man liest noch heute in Dudens Universalwörterbuch der deutschen Sprache, ein Tier sei ein «mit Sinnes- u. Atmungsorganen ausgestattetes, sich von anderen tierischen od. pflanzlichen Organismen ernährendes, in der Regel frei bewegliches Lebewesen, das nicht mit der Fähigkeit zu logischem Denken u. zum Sprechen befähigt ist.» Der Mensch ist zwar ebenfalls ein «mit Sinnes- u. Atmungsorganen ausgestattetes Lebewesen», aber eben gerade kein Tier, denn er ist «mit der Fähigkeit zu logischem Denken und zum Sprechen befähigt».
«Logisches Denken und Sprache», die Fähigkeit zur Abstraktion und Begriffsbildung voraussetzen – etwas fundamental anderes als bei Tieren oder auch Maschinen als «Intelligenz» bezeichnet wird –, ermöglichen erst kulturelle Evolution. Sie sind Zeichen der Existenz dessen, was wir «Geist» nennen. Der Mensch ist «animal rationale»: ein animalischer Organismus, dessen Lebensprinzip der Geist ist. Deshalb geht auch beim Menschen nichts ohne das Gehirn.
Geist ist realer als Materie
Es ist wahr: das Gehirn «entscheidet», aber immer nur das durch den Geist lebende Gehirn. Organismus und Geist sind nicht zwei «Dinge», die aufeinander einwirken; sie bilden vielmehr sowohl in ihrem Sein wie auch in ihrem Wirken eine substantielle Einheit. Hat also das Gehirn «bereits entschieden», so haben der menschliche Geist und seine Freiheit das ebenfalls. Das eine gegen das andere auszuspielen, ist sinnlos.
«Geist» ist realer als Materie und deshalb kein Gegenstand der Sinne; folglich können wir ihn weder sehen noch messen. Das Geistige wird nur dem Geist offenbar und kann daher nur argumentativ, durch logisches Denken erschlossen werden. Aus diesem Grund ist er auch kein Gegenstand der Naturwissenschaft. Naturwissenschaft, die seine Existenz leugnet, überschreitet ihre Kompetenz und begeht einen Kategorienfehler. Solche Wissenschaft macht keine wissenschaftliche Aussage, sondern stellt eine unbewiesene metaphysische Behauptung auf. Nicht zu übersehen ist: Das menschliche Gehirn hat ohne weitere biologische Evolution – wir haben immer noch das Gehirn von Steinzeitmenschen – die kulturelle Evolution hervorgebracht. Die Entstehung von Recht, Zivilisation, Wissenschaft, Kunst kann durch biologische Evolution nicht erklärt werden. Letztere kann nur die Evolution von Organismen in den Blick bekommen.
Der Mensch ist und bleibt die Krone der Schöpfung, eine Krone, die freilich auch Kriege und Zerstörungen aller Art erzeugt hat. Denn nur Vernunft und Freiheit sind imstande, auch Böses und Unrechtes zu tun. Tieren fehlen dazu schlicht die Voraussetzungen. Was sie können, ist, wozu ihre Instinkte sie treiben: für ihr Überleben sorgen, sich ernähren, sich paaren und fortpflanzen. Nichts ist unter Tieren je bekannt geworden, was über solches, der Erhaltung der eigenen Art Dienlichen hinausgegangen wäre.
In der Überzeugung, der Mensch sei in seiner körperlich-organischen Verfasstheit von einem geistigen und damit «unsterblichen» Lebensprinzip beseelt, in der Wertschätzung des Individuums und individueller Freiheit sowie in der sich daraus ergebenden Vorstellung einer unveräusserlichen menschlichen Würde drückt sich die kulturelle und zivilisatorische DNA des «freien Westens» aus. Neurowissenschaftler und Evolutionsbiologen, die Geist auf Gehirn reduzieren, ihn also zusammen mit der menschlichen Freiheit leugnen, führen, um gegen diese DNA anzukämpfen, in der Regel Argumente an, die keiner logischen und sachlichen Prüfung standhalten.
Das Ende der Zivilisation der Menschenrechte?
Indem sie uns das spezifisch Menschliche, dessen Einzigartigkeit und unsere Freiheit ausreden wollen, versuchen sie, das Interpretationsmonopol über den Menschen zu erlangen. Das ist politisch gefährlich, weil das Überleben einer Zivilisation der Menschenrechte auf einem Menschenbild beruht, für das der Primat des Individuums und seiner Freiheit konstitutiv ist. Sollte dieses Menschenbild aus unserem Bewusstsein, unserer Rechtskultur und unserem öffentlichen Diskurs verschwinden, wäre unsere Zivilisation am Ende.
Die Frage, ob wir einmal Menschen klonen werden können, ist deshalb die falsche Frage. Wir müssen vielmehr die Frage stellen, unter welchen Bedingungen wir überhaupt noch fähig sind zu verstehen, warum diese Frage so wichtig ist. Sind wir dazu nicht mehr imstande, werden wir auch einer Zivilisation, die durch Genmanipulation und raffinierte Biotechniken der Veränderung – «Verbesserung» – des Erbgutes eine «harmonische» und «effiziente» Gesellschaft herstellen möchte, nichts entgegenzusetzen haben und uns ihrer totalitären Logik unterwerfen.
Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Das Ende des Menschlichen“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 23. Februar 2018, S. 38 (Internationale Ausgabe: 24. Februar 208, S. 22). Online ist er auch bei NZZ.CH unter dem Titel Naht das Ende des Menschlichen? erhältlich.