Der Wohlfahrtsstaat steht in der Kritik. Liberale, Ökonomen und Teile der Bevölkerung weisen auf zu hohe Steuern und Abgaben hin, auf Geldverschwendung, falsche Anreize, die Schwächung des freien Unternehmertums und Schäden für künftige Generationen. Um einen konstruktiven Dialog mit Verteidigern des Wohlfahrtsstaates bemüht sich der junge Wirtschaftswissenschaftler Roland Fritz von der Universität Siegen. Ihm geht es nicht nur um Kritik, sondern vor allem um Vorschläge zur Verbesserung des Wohlfahrtsstaates. Interessanterweise beruft er sich dabei gerne auf den Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899 – 1992), der freilich bis heute zu den bekanntesten Kritikern überbordender Wohlfahrtsstaaten zählt. Mit bestimmten Elementen des Wohlfahrtsstaates habe sich Hayek aber anfreunden können, unterstreicht Roland Fritz. Welche Elemente das sind, welche Reformen aus hayekianischer Sicht am dringendsten wären und warum das Hauptproblem des Wohlfahrtsstaates nicht primär dessen Finanzierbarkeit ist – über all das sprach Fritz am Rande der diesjährigen Regionalkonferenz der internationalen liberalen Studentenorganisation „Students for Liberty“ in Wien mit dem „Austrian Institute“.
Roland Fritz (1988) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen. Zuvor hatte er Soziologie und Sozioökonomie an der Universität Graz, der Universität Genf und der Wirtschaftsuniversität Wien studiert. Seine wissenschaftlichen Interessen sind u.a. Public Choice, New Institutional Economics, die Österreichische Schule der Nationalökonomie, Theoriegeschichte sowie Kulturökonomie.
Austrian Institute: Im Gegensatz zu anderen Liberalen kritisieren Sie weniger pauschal den Wohlfahrtsstaat, sondern fordern viel mehr dessen Reform. Dabei berufen Sie sich auf Friedrich August von Hayek. Gibt es aus Hayeks Sicht auch vorbildliche Wohlfahrtsstaaten?
Roland Fritz: Man muss auch konstruktive Wege des Dialogs mit Befürwortern von derzeitigen Wohlfahrtstaaten finden. Der hayekianische Wohlfahrtsstaat ist auf jeden Fall ein schmaler Wohlfahrtsstaat. Er geht sparsam mit den Ressourcen um und lässt sehr viele Freiheiten für die Bürger offen. Er versucht nicht zu regulieren, sondern schützend einzugreifen, und zwar dort, wo es Menschen gibt, die sich wirklich nicht selbst versorgen können. Im US-amerikanischen und angelsächsischen System sind die Wohlfahrtsstaaten generell nicht so ausgeprägt. Sie sehen nur eine sehr geringe Absicherung vor. Diese Wohlfahrtsstaaten sind dafür mit anderen Problemen behaftet: Teilweise bestehen dort sehr große Unterschiede zwischen dem Zugang zum Wohlfahrtsstaat, sodass sich manche Bürger viel schwerer tun, Leistungen des Staats zu erhalten; und dann greifen auch dort die Wohlfahrtsstaaten durchaus regulierend ein, was Hayek nicht gefallen würde. Wir können aber auch in kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland und Österreich Elemente ausfindig machen, die Hayek nicht komplett abgelehnt hätte. Das wäre mein zentraler Punkt.
Welche Elemente sind das?
Fritz: Zuerst einmal eine sehr generelle Form der sozialen Absicherung, wie zum Beispiel die staatliche Mindestsicherung in Österreich oder das Arbeitslosengeld II in Deutschland, wonach ein Mensch, der sich nicht selbst versorgen kann, momentan in der Regel so zwischen 800 und 900 Euro erhält. Dem hätte Hayek sicher zugestimmt. Viel ist das freilich nicht, aber man kommt wohl irgendwie über die Runden. Ich würde auch sagen, dass gewisse Maßnahmen zur Gesundheits- und Pensionsversicherung durchaus im Hayek’schen Sinn wären. Freilich hätte er dem Umlageverfahren, wonach die derzeitigen Pensionen aus dem momentan Erarbeiteten bezogen werden, nicht zugestimmt. Dass Menschen in die Richtung gedrängt werden, sich gegen die Risiken des Lebens abzusichern, hätte ihn aber nicht sonderlich gestört.
„Sozialpolitik muss für alle Bürger gleich sein“
Das Arbeitslosengeld wird bei uns an das Einkommen angepasst. Wie bei der Pension finanziert das die Allgemeinheit. Beides könnte man aus ökonomischer Sicht – hinsichtlich der Kosten – oder mit Hinweis auf die Gerechtigkeit kritisieren. Was ist für Hayek entscheidend?
Fritz: Hayek schreibt nicht sehr viel über die Kostenfrage. Auch ich sehe hierin das geringere Problem. Wir werden laufend wohlhabender und haben größeren Wohlstand als je zuvor. Dessen sind sich vor allem die Jüngeren kaum bewusst. Ich denke, selbst unter Berücksichtigung der gesamten impliziten Staatsverschuldung wird die Finanzierung bei weiterhin positiver wirtschaftlicher Entwicklung und vernünftiger Ordnungspolitik nicht das Problem sein. Hayek hat sich über Gerechtigkeit Gedanken gemacht, und zwar dahingehend, dass Sozialpolitik für alle Bürger gleich sein muss. Sozialhilfe ist aus dieser Perspektive viel annehmbarer als eine Arbeitslosenversicherung, die festlegt, dass Menschen mit vormals unterschiedlichen Einkommen auch unterschiedliche Leistungen aus der Arbeitslosengeldkasse erhalten. Natürlich haben Besserverdiener vorher auch mehr eingezahlt. Nur schreibt der Staat damit den vormaligen Status, den jeder erreicht hat, gesetzlich fest. Das ist für Hayek das Problem. Er sieht hier eine unterschiedliche Behandlung von Menschen.
Gerechtigkeit ist also Hayeks Hauptargument für eine Reduktion des Wohlfahrtsstaates?
Fritz: Wohlfahrtsstaaten sind – Hayek hat das auch so gesehen – eine relativ geniale Erfindung auf gewisse neue Probleme und Nöte, die Menschen in individualisierten Gesellschaften erfahren. Allerdings sind manche Politiken des Wohlfahrtsstaates unvereinbar mit dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Warum sollen gewisse Politiken für manche gelten und für andere nicht – siehe die Beamtenpensionen oder die unterschiedliche Höhe des Arbeitslosengeldes. Auch die progressive Besteuerung ist sicher sehr effizient in der Kumulierung von Steuern, missachtet aber gewisse Gleichheitsgrundsätze. Warum zahlt eine gewisse Person einen höheren Steuersatz? Sie würde ja schon bei dem gleichen Steuersatz mehr Steuern abführen, zahlt aber sozusagen als Draufgabe auch progressiv höhere Steuersätze. Für Hayek ist das aus einer Gleichheitsperspektive schwer zu argumentieren.
Aber man muss auch sagen, dass es Hayek nicht darum geht, zu sagen was gerecht und ungerecht ist. Er ist sich bewusst, dass Gesellschaften ohnehin eigene Maßstäbe dafür haben. Sein Ziel ist es, aufzuzeigen, welche Formen von Sozialstaatlichkeit mit der Gleichheit vor dem Gesetz kompatibel sind, und für welche dies nicht behauptet werden kann.
„Hayeks Kritik würde beim Mindestlohn beginnen“
Welche Reformen würde Hayek am heutigen Sozialstaat in Deutschland vornehmen?
Fritz: Vermutlich würde Hayek als erstes das Arbeitslosengeld und das Pensionssystem reformieren. ALGI, die Arbeitslosenversicherung, würde er ersatzlos streichen. Dann müsste man sich überlegen, was man mit den Leistungen macht, die die Menschen in der Zwischenzeit einbezahlt haben, aber nie in Anspruch genommen haben – also ob man hier eine Kompensation einführt und wie diese ausgestaltet wäre.
Die Umstellung eines Pensionsversicherungssystems ist hochgradig kompliziert. Bernd Raffelhüschen, ein Ökonom in Freiburg, hat sich durchgerechnet, wie die Umstellung von einem Umlagesystem zu einem Kapitaldeckungsverfahren ablaufen könnte. Er sagt: Wir enden an einem Stichtag und ab diesem Tag verlieren ein paar Menschen, die ein paar Jahre eingezahlt haben, alles. Sie bekommen eine monetäre Kompensation dafür, die man jahrelang über eine Extrabesteuerung abgleichen müsste. Ab dem Stichtag zahlen Menschen nach einem Kapitaldeckungsverfahren ein. Wie machbar das ist, ist eine andere Frage. Alternativ dazu hätte der deutsche Ökonom Jakob von Weizsäcker eine so genannte „Hayek-Pension“ modelliert, wo ein Kapitaldeckungsverfahren für Gutverdiener mit einer staatlich zugesicherten Pension für Bezieher kleinerer Einkommen kombiniert wird.
Noch viel schädlicher als diese absichernden Elemente des Sozialstaates sind für Hayek aber Regulierungen. Seine Kritik würde hier sicherlich beim Mindestlohn beginnen, der den Marktmechanismus ein Stück weit außer Kraft setzt. Ein Dorn im Auge wären ihm sicherlich auch bestimmte reglementierte Berufe, die es Menschen schwerer machen, Auskommen und Aufgabe im Leben zu finden: Hayek hätte wohl nichts dagegen, dass Chirurgen und Sprengmeister einer staatlichen Zertifizierungspflicht unterliegen, bei Beleuchtungstechnikern, Tanzlehrern oder Kupferschmieden – in Österreich allesamt reglementierte Berufsgruppen – ist das schon viel schwerer einzusehen.
Hayek kam oft auf das „Wissensproblem“ zu sprechen. Kann man daraus ableiten, dass föderale Wohlfahrtsstaaten zentralistischen vorzuziehen sind?
Fritz: Ja, auf jeden Fall würde ich das ableiten. Auch hier wäre nicht so sehr die Finanzierbarkeit oder die Implementierbarkeit der Sozialhilfe ausschlaggebend, denn im Sinne Hayeks benötigte die ohnehin keinen großen Aufwand. Relevanter scheint mir das Wissensproblem in der Akzeptanz der Sozialpolitik zu sein. Auf kommunaler Ebene ist es wahrscheinlich viel einfacher Sozialpolitik zu machen. Wenn die Gelder für Sozialhilfe lokal erhoben und ausgezahlt werden, entstehen möglichweise sogar Unterschiede in der Höhe zwischen den einzelnen Bundesstaaten bzw. Bundesländern. Von den Bürgern wird das eher akzeptiert, denn sie wissen, dass das Geld, das sie einzahlen, an einen Menschen in ihrem Umfeld geht, und nicht an jemanden, der weit entfernt, zum Beispiel in Wien, wohnt. Natürlich entstehen dann auch Probleme in kleinräumigen Gebieten, die von großer sektoraler Arbeitslosigkeit betroffen sind. Da wird es schwierig, das Geld lokal aufzutreiben.
„Viele erfolgreiche Staaten unterhalten nicht unbeträchtliche Wohlfahrtsprogramme“
Der späte Hayek – er starb 1992 – äußert sich kritischer zum Wohlfahrtsstaat als der mittlere Hayek, der Hayek der „Verfassung der Freiheit“ (1960). Resignierte Hayek aufgrund der damaligen Zustimmung zum Wohlfahrtsstaat und war er daher vorübergehend „nachgiebiger“?
Fritz: Das ist eine spannende Interpretation. Ich bin mir nicht sicher, ob sie hundertprozentig stimmt. Bis zu einem gewissen Grad muss man „dem Volk immer aufs Maul schauen.“ Ökonomen und Politiker geben zwar den Diskurs vor, aber am Ende ist dennoch die Bevölkerung der letzte Souverän in der Entscheidung über die soziale Ordnung. Die Gesellschaften entschieden sich damals für einen Wohlfahrtsstaat – wie sich unter anderem an der Wahlurne zeigte. Das hat Hayek als Faktum hingenommen und ganz einfach gesagt: So ist es. Ich weiß nicht, ob das Resignation ist. Ich würde es eher eine sehr tiefgehende Erkenntnis nennen. Dass der späte Hayek seine Meinung geändert hat, damit haben Sie vollkommen Recht. Er wird im Alter kritischer gegenüber allen staatlichen Politiken, auch in der Geldpolitik. Ich glaube aber nicht, dass er per se staatsfeindlicher wird. Er versucht nur zu unterscheiden, was Gesellschaften historisch erfolgreich gemacht hat und sah wirtschaftliche Entwicklung – gekoppelt mit der gesellschaftlichen – als „evolutorischen Prozess“. Hayek vertritt die Überzeugung, dass Gesellschaften mit einem limitierten Staat und sicheren Eigentumsrechten in der Regel erfolgreicher waren und es noch immer sind. Dass besser funktionierende Staatswesen langfristig wirtschaftlich erfolgreicher sind, würde man auch heute so sehen. Diese evolutorische Perspektive kann uns aber auch erklären, warum viele der heute erfolgreichen Staaten durchaus nicht unbeträchtliche Wohlfahrtsprogramme unterhalten.
Manche wirtschaftlich erfolgreiche Staaten mit relativ hoher wirtschaftlicher Freiheit haben einen sehr stark ausgebauten Wohlfahrtsstaat. Nun könnte man sagen: Sie sind erfolgreich trotz des Wohlfahrtsstaates, ohne den sie noch erfolgreicher wären, oder: Es gibt gewisse Wohlfahrtsstaatsmodelle, die dem Wirtschaftswachstum nicht schaden.
Fritz: Ich würde eine dritte Option anbieten: Manche wirtschaftlich erfolgreichen Staaten haben einen großen Wohlfahrtsstaat, weil sie erfolgreich sind. Sie können es sich leisten, wie etwa Norwegen und Schweden. Inwiefern sie dieser Wohlfahrtsstaat wirtschaftlich zurückhält verstehen wir vermutlich noch nicht vollkommen. Ich glaube aber, dass es für die Entwicklung eines Landes Wichtigeres gibt als nur den Wohlfahrtsstaat. Dazu gehören die rechtliche Sicherheit und die ökonomische Freiheit. Gemäß dem „Index of Freedom“ stehen auch Staaten mit großen Wohlfahrtsstaaten oft nicht schlecht da, weil nämlich ihre Rechtssicherheit sehr hoch ist.
Der Umkehrschluss, wonach Staaten mit gut ausgebautem Wohlfahrtsstaat auch ein gutes Wirtschaftswachstum haben, ist wohl ebenfalls falsch. Sind somit überhaupt andere Faktoren als der Wohlfahrtsstaat relevanter für das Wirtschaftswachstum?
Fritz: Das Problem ist: Wenn Sie das erforschen wollen, dürfen Sie nur eine sehr kleine Gruppe hernehmen, nämlich Staaten, die momentan reich sind und einen großen Wohlfahrtsstaat haben. Es gibt ja sehr viele arme Staaten ohne großen Wohlfahrtsstaat. Sicher haben die USA einen Wohlfahrtsstaat, der sehr untypisch ist für die westliche Welt. Auch Südkorea hat einen der geringsten Sozialstaaten mit diesbezüglichen Ausgaben von unter zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn man das vergleicht mit Österreich, ist das natürlich ein Wahnsinn. Den Menschen in Südkorea geht es aber sehr gut. Sie scheinen keine großen Probleme zu haben, das Wachstum geht schnell voran. Wir finden auf jeden Fall, dass scheinbar beides möglich ist: Wohlfahrtsstaaten, die nicht stagnieren, und gering ausgebaute Wohlfahrtsstaaten, die sich gut entwickeln. Die ökonomische Theorie legt nahe, dass Wohlfahrtsstaaten nicht zu groß werden sollen. Daher würde ich hier jetzt natürlich auch nicht zu übertriebener Wertschätzung von Sozialstaatlichkeit ausrufen wollen. Wichtiger als die kurzfristigen Auswirkungen auf Produktivität und Wachstum sind aber aus meiner Sicht die kulturellen Muster, die der Wohlfahrtsstaat bewirken könnte: Etwa wenn sich Menschen zu sehr daran gewöhnen, dass es eine Absicherung gibt, die vielleicht sogar relativ generös ist. Wenn sich aufgrund eines über eine sehr lange Zeit hinweg existierenden Wohlfahrtsstaates die Moral einer Gesellschaft so sehr verändert, dass es schließlich für Jahrzehnte unmöglich wird, gutes Wirtschaftswachstum zu erreichen, dann ist das viel problematischer als die kurzfristigen Effekte einer schlechten Policy-Entscheidung.
«Mein Appell ist daher, sich anzusehen, was der Wohlfahrtsstaat mit unseren Werten macht. Wenn man das mit einbezieht, wird man wieder ein Stück weit kritischer gegenüber jenen Menschen, die dem Wohlfahrtsstaat eine zu große Rolle zuweisen, gewisse Bürger aus der Verantwortung nehmen wollen, eine Gesellschaft anstreben, in der niemand vollständig für sich selbst verantwortlich ist und in der Werte wie Privatbesitz, Eigeninitiative und Unternehmertum nichts zählen.»
„Wirtschaftlicher Erfolg hängt auch davon ab, wie Menschen denken und fühlen“
Diese langfristigen Effekte wären auch aus liberaler Sicht die entscheidenden?
Fritz: Ja. Es wurde sehr oft versucht, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu übernehmen, vor allem in Mittelamerika und Südamerika. Diese Versuche sind alle gescheitert, weil es offensichtlich nicht geht, dass man ein formales Regelwerk eines erfolgreichen Staates eins zu eins übernimmt. Wirtschaftlicher Erfolg hängt nicht nur von den Gesetzen ab, sondern auch von dem, wie Menschen denken und fühlen, wie sie die Welt sehen. Mein Appell ist daher, sich anzusehen, was der Wohlfahrtsstaat mit unseren Werten macht. Wenn man das mit einbezieht, wird man wieder ein Stück weit kritischer gegenüber jenen Menschen, die dem Wohlfahrtsstaat eine zu große Rolle zuweisen, gewisse Bürger aus der Verantwortung nehmen wollen, eine Gesellschaft anstreben, in der niemand vollständig für sich selbst verantwortlich ist und in der Werte wie Privatbesitz, Eigeninitiative und Unternehmertum nichts zählen.
Sie fordern Liberale auf, mit den Politikern in einen Dialog über einen effizienteren Wohlfahrtsstaat zu treten. Mit welchen Argumenten kann man Politiker überzeugen? Dass ihr Land in 30 Jahren besser dasteht oder dass sie die nächste Wahl gewinnen?
Fritz: Der Widerstreit zwischen dem kurzfristigen Interesse eines Politikers und dem langfristigen Interesse des Landes ist ein Dilemma. In den vergangenen 20 Jahren wurden tiefgreifende Reformen des Wohlfahrtsstaates und großer Sozialrückbau fast ausschließlich von linken Regierungen umgesetzt: das gilt für Bill Clinton in den USA, die Douglas-Reform in Neuseeland, die Agenda 2010 von Gerhard Schröder in Deutschland oder die Reformen in Schweden in den 1990er Jahren. Scheinbar konnten sie diese Einschnitte besser verkaufen als konservative Regierungen.
Wodurch wurden die Reformen in Schweden oder die Agenda 2010 motiviert? Wohl durch die Kraft des Faktischen…?
Fritz: Ich glaube, die Arbeitslosenzahlen waren das Problem. Das ist wahrscheinlich kurzfristig das Schlimmere für Politiker, weil man im Zweifelsfall nicht wiedergewählt wird. Was geschieht, wenn sich während einer Amtsperiode solche wirtschaftlichen Indikatoren verschlechtern, sieht man drastisch am Beispiel Deutschlands.
In Österreich arbeiten 98 Prozent aller Arbeitnehmer nach Kollektivvertrag. Im Falle einer großen Wirtschaftskrise mit der auch die Preise radikal sinken, könnten die bestehenden Kollektivverträge zu hoher Arbeitslosigkeit führen. Das wäre dann vermutlich ein Anlass, für drastische Veränderungen?
Fritz: Ein exogener Schock, wie Ökonomen sagen, könnte das sein, was so ein System zum Einsturz bringt. Wir hoffen dennoch, dass das nicht passiert. Ich halte aber das Kollektivvertragssystem für weniger schädlich als den generellen Mindestlohn, der komplett unflexibel ist. Ein Jahr ohne Lohnsteigerung oder ein Lohneinbruch von fünf Prozent lässt sich den Menschen leichter kommunizieren, speziell in einzelnen Industrien, als Kürzungen auf gesamtstaatlicher Ebene. Deswegen bin ich nie so kritisch gegenüber der Tarifautonomie in Deutschland oder dem System in Österreich.
„Es geht um eine Vision, die auch für junge Menschen ansprechend ist“
Die sofortige Umsetzung radikaler Forderungen einzelner libertärer Denker würde in Revolutionen münden, an deren Ende bisher nie mehr Freiheit stand. Setzen Sie eher auf ein positives Leitbild und schrittweise Reformen?
Fritz: Ich würde sagen, das ist der einzige Weg, der irgendwann klappen könnte. Wenn der Staat hingegen rapide zurückgefahren wird, wenn Dinge, die als notwendig wahrgenommen werden, plötzlich wegfallen, hat das meist keine guten Folgen.
Die „Students for Liberty“ zum Beispiel versuchen ja, einen kulturellen Wandel herbeizuführen und den Liberalismus ein Stück weit zum Mainstream zu machen, dem sich die Politiker irgendwann nicht mehr entziehen können. Wenn man die Bevölkerung besser über die Risiken des Wohlfahrtsstaates aufklärt, so wie man das bei den Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten tut, könnte das langfristige Folgen haben, bis die Politik nachziehen muss. Das dauert natürlich.
Sie meinen, so wie linke Gruppierungen mit radikalen Forderungen zuerst auf der Straße gegangen sind um die Politik schrittweise zu neuen Reformen zu drängen?
Fritz: Ich glaube, wir müssen – und sollten – nicht Randale machen. Es geht eher um eine intellektuelle Vision, eine Utopie, die ansprechend ist, gerade auch für junge Menschen. So hat das auch Hayek gesehen. Er meinte – und ich würde ihm zustimmen – dass im liberalen Bereich hier etwas fehlt. Mit irgendwelchen Policy-Analysen begeistere ich auch nicht die Menschen. Sie brauchen eine ansprechende, allumfassende Theorie, die zeigt, dass der Liberalismus eine gute politische Lebensform ist, die die Menschen nicht nur reicher macht, sondern auch glücklicher und selbstbestimmter. Das fehlt aus meiner Sicht. Das wäre ein Ansatz, der langfristig besser funktionieren könnte als zu versuchen, Gesetze zu beeinflussen oder Interessensvertretung zu begründen.