Die Grundideen des Verfassungsstaates und der repräsentativen Demokratie
Es waren primär „Staatsmänner, Philosophen und Rechtsgelehrten, die im 18. und 19. Jahrhundert die Grundlagen des neuen politischen Systems schufen“. Zentral waren für sie vor allem vier Gedanken:
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Die Wohlfahrt dient dem gemeinsamen Wohl aller Bürger
Diese Staatsmänner, Philosophen und Rechtsgelehrten ließen sich von der „Vorstellung leiten, dass innerhalb einer Nation alle wohlmeinenden Bürger letzten Endes das gleiche Ziel verfolgen. Dieses gemeinsame Ziel, dem sich alle anständigen Menschen verpflichtet fühlen sollten, ist die Wohlfahrt der ganzen Nation und auch die Wohlfahrt der anderen Nationen.“ Kurz gefasst: Alle Bürger haben nur ein politisches Ziel, nämlich die „Wohlfahrt des ganzen Landes und der ganzen Nation“.
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Menschen mit ähnlichen Vorstellungen bilden eine Partei
Für die Vordenker des modernen Staats war dabei auch selbstverständlich: Die Vorstellungen darüber, wie dem allgemeinen Wohl am besten gedient wird, divergieren. Parlamentsmitglieder mit ähnlichen Ideen über die Regelung der Staatsangelegenheiten sollten sich daher zusammentun und gemeinsam eine Partei bilden. Die Staatsmänner des 18. Jahrhunderts dachten die verschiedenen „gesetzgebenden Körperschaften hätten bestimmte Vorstellungen vom Gemeinwohl.“ Die Struktur einer Partei hing demnach nicht von der gesellschaftlichen Stellung ihrer Mitglieder ab, sondern einzig von ihren Ideen.
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Im öffentlichen Parteienstreit setzen sich die besten Ideen durch
Parteien können ihre Haltung zu bestimmten Fragen ändern, wenn sie auf Irrtümer in ihren bisherigen Ansichten stoßen. Großen Stellenwert nehmen daher Debatten in den Wahlkämpfen und in den gesetzgebenden Versammlungen ein. Das war der Ort, wo man die anderen Parteien von den Vorzügen der eigenen Position überzeugen konnte: „Politische Reden, Leitartikel in den Zeitungen, Flugblätter und Bücher wurden geschrieben, um zu überzeugen. Sofern jemand die richtigen Ideen hatte, gab es keinen Grund daran zu zweifeln, dass es ihm gelingen würde, die Mehrheit von der Richtigkeit seiner politischen Haltung zu überzeugen.“
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Der Staat mischt sich nicht in die wirtschaftlichen Bedingungen des Marktes ein
Die Einmischung in die Bedingungen des Marktes gehörte demnach eindeutig nicht zu den Aufgaben des Staats.
Der Interventionismus führte zum Niedergang des konstitutionellen Systems
„Das konstitutionelle System, das am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkam, hat viele enttäuscht.“ Ein Beispiel dafür ist etwa der „Zerfall der Dritten Republik“ (1870 – 1940) in Frankreich. In den gesetzgebenden Körperschaften dominierten verschiedene Interessenverbände, die unter sich wechselnde Koalitionen schmiedeten. Doch mit einem solchen System kann eine große Nation nicht erfolgreich regiert werden.
Viele Autoren befassten sich mit dem Niedergang des Parlamentarismus. Jedoch haben sie dabei nie den Zusammenhang zwischen den politischen und den wirtschaftlichen Gründen für den Niedergang bedacht. Beide Seiten hängen aber miteinander zusammen: „Der Verfall der Freiheit, des Verfassungsstaates und der repräsentativen Demokratie, ist in Wirklichkeit die Folge des tiefgreifenden Wandels im wirtschaftlichen und politischen System.“ Die liberale „Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie wurde vom Interventionismus verdrängt“.
Der Interventionismus vertritt eine „ganz anders geartete Philosophie. Nach interventionistischen Vorstellungen ist es die Pflicht der Regierung, bestimmte Gruppen zu unterstützen, zu subventionieren und ihnen gewisse Vorteile zu gewähren.“
„Pressure groups“ vertreten nur Partikularinteressen und verändern die Parteien
Es entstanden sogenannte „Pressure groups“, d.i. Gruppen, „die für sich selbst einen bestimmten Vorteil auf Kosten aller anderen erlangen möchte. Dieses Privileg mag aus einem Schutzzoll gegen konkurrierende Importe bestehen, es mag eine Subvention sein oder es können Gesetze sein, die andere Leute davon abhalten sollen, mit den Mitgliedern dieser ‚pressure group’ in Wettbewerb zu treten. Auf jeden Fall gibt es den Mitgliedern dieser Interessensgruppe eine besondere Stellung.“
Jeder dieser Interessensverbände – ob Farmer, Viehzüchter, Silber- und Ölinteressen – vertritt Minderheiten. „Minderheiten haben niemals eine Chance, erfolgreich zu sein, wenn sie nicht mit anderen, ähnlichen Minderheiten, ähnlichen Interessensverbänden zusammenarbeiten. Deshalb versuchen sie in den gesetzgebenden Körperschaften, eine Koalition zwischen den verschiedenen Interessensverbänden zustande zu bringen, um eine Mehrheit zu erhalten.“
Durch diese Entwicklung veränderte sich die Parteienlandschaft. „Die Begründer des modernen Verfassungsstaates im 18. Jahrhundert stellten sich vor, dass ein Abgeordneter die ganze Nation vertritt“. Doch es kam anders: „Heute sehen wir in der Praxis des politischen Lebens …, dass es keine politischen Parteien im klassischen Sinne gibt, sondern fast nur sogenannte ‚pressure groups’.“ Sämtliche Interessen von Verbänden werden in Koalitionen gestützt. „Nur eines ist nicht in der Legislative vertreten: Die Nation als Ganzes. Es gibt nur wenige, die die Partei des ganzen Volkes ergreifen.“
Vorteile für Minderheiten werden auf Kosten der Mehrheit durchgesetzt
„Parlamentarier, deren einziges Ziel es ist, den Wunsch der Wähler zu erfüllen, die z.B. einen höheren Preis für Zucker, Milch und Butter und einen niedrigeren Preis für Weizen (subventioniert durch die Regierung) möchten, repräsentieren das Volk nur in einer sehr fragwürdigen Weise; sie werden niemals der gesamten Wählerschaft gerecht.“ Beispiele:Mises bringt damalige Beispiele aus den Vereinigten Staaten:
- Über Jahrzehnte hinweg haben die USA „eine beträchtliche Summe auf Kosten der Steuerzahler ausgegeben, um Silber zu einem Preis zu kaufen, der über dem Marktpreis lag.“ Das lag einzig im Interesse der weniger dicht besiedelten Staaten.
- Ebenso wurden die landwirtschaftlichen Erzeugnisse über dem Marktpreis gehalten, obwohl nur eine kleine Minderheit in der Landwirtschaft tätig ist. Der große Rest sind die Verbraucher.
- Durch Zölle und andere Maßnahmen steigt der Preis für Zucker. Hier hat der Interventionismus auch Auswirkungen auf die Außenpolitik, denn andere Staaten würden gerne noch mehr Zucker an die USA verkaufen.
Innerhalb einer Gruppe gibt es viele Sonderinteressen, die nicht miteinander kompatibel sind. So will zum Beispiel der Bauer, dessen Milch über dem Marktpreis verkauft wird, andererseits lieber einen niedrigeren Getreidepreis zahlen. Die Idee, „dass ein Abgeordneter die ganze Nation vertritt“ wird durch den Interventionismus, der die Sonderinteressen bedient, zerstört.
Steigende Staatsausgaben, wachsende Inflation, schwächer werdender Widerstand
„Dieses System führt auch einerseits zu einer dauernden Zunahme der öffentlichen Ausgaben und macht es andererseits immer schwieriger, Steuern zu erheben. Denn die Vertreter solcher Interessensgruppen fordern zwar bestimmte Privilegien, wollen aber ihren Anhängern keine zu große Steuerlast aufbürden.“
Wegen der „pressure groups“ können Regierungen kaum noch das Problem der Inflation in den Griff bekommen: „Sobald die gewählten Volksvertreter versuchen, die Aufgaben zu beschränken, kommen die Vertreter von Sonderinteressen, die an bestimmten Haushaltsansätzen interessiert sind und erklären, dass man dieses Projekt nicht durchführen könne oder jenes unbedingt notwendig sei.“
„Dieser politische Wandel, herbeigeführt vom Interventionismus, hat die Kraft der Völker und ihrer Repräsentanten, dem Ehrgeiz von Diktatoren und dem Druck von Tyrannen zu widerstehen, beträchtlich geschwächt.“
Das Römische Reich ging unter vergleichbaren Vorzeichen unter
Im Römischen Reich hatte man „den höchsten Grad an Arbeitsteilung, der je vor dem modernen Kapitalismus erreicht worden ist.“ Doch dann kam der Zerfall und bis heute fragen sich einige, ob unserer Zivilisation nun dasselbe Schicksal beschieden ist. „Tatsächlich wurde die antike Zivilisation durch etwas zerstört, was der heutigen Bedrohung unserer Zivilisation sehr ähnelt, ja fast gleichkommt: zum einen durch Interventionismus und zum anderen durch Inflation.“
Das Römische Reich folgte zum einen der griechischen Politik und setzte Preiskontrollen fest. Darin bestand der Interventionismus. Nur blieb er jahrhundertelang folgenlos, weil die Preise nicht unter dem Marktniveau lagen. Das änderte sich erst im dritten Jahrhundert, als der römische Kaiser Diokletian (244 – 311 n. Chr.) mit den damaligen Methoden eine Inflation auslöste, indem er begann Kupfer in die Silbermünzen zu mischen. Er verschlechterte die Münzqualität um ihre Menge zu erhöhen. Das führt zu einer allgemeinen Preissteigerung. Das Ergebnis: Die „von den Behörden gebilligten Preise lagen nun unter dem Niveau, auf das freie Marktpreise infolge der Inflation hätten klettern müssen.“ Mit einem Edikt wurde die Todesstrafe eingeführt, falls sich Händler nicht an die staatliche Preiskontrolle halten wollten, die nun viel zu niedrige Preise vorschrieb. „Dadurch ging natürlich die Nahrungsmittelversorgung in den Städten zurück“. Es gab dort nicht mehr genug zu essen. „Die Menschen in den Städten wurden gezwungen, zurück aufs Land zu gehen und ihr Dasein durch Ackerbau zu fristen.“ Die Märkte verschwanden aus den Städten. Der Verfall des Römischen Reichs und des Systems der Arbeitsteilung wurde eingeleitet:
„So beobachten wir vom 3. Jahrhundert an den Niedergang der römischen Städte und einen allmählichen Rückgang der Arbeitsteilung. Das führte schließlich zum mittelalterlichen System der sich selbst versorgenden Hauswirtschaft, der ‚Villa’, wie sie in späteren Gesetzen genannt wurde.“
Heute besteht die Chance, die schlechten Ideen durch die besseren zu besiegen
Der Vergleich zwischen dem Römischen Reich und der heutigen Situation ist also durchaus naheliegend. Doch der bevorstehende Untergang ist nicht sicher. Kulturpessimistische Einschätzungen wie jene des deutschen Kulturphilosophen Oswald Spengler (1880 – 1936) oder des britischen Historikers Arnold Toynbee, denen zufolge ältere Zivilisationen eines Tages zwangsläufig zugrunde gehen, wie Pflanzen, die zunächst wachsen und irgendwann verenden, führen in die Irre.
Erstens bestehen Zivilisationen nicht, wie Pflanzen, unabhängig voneinander. Darüber hinaus kann der Niedergang des Römischen Reichs auch nicht eins zu eins auf die heutige Situation übertragen werden: „Der große Unterschied zwischen den heutigen und den damaligen Verhältnissen besteht darin, dass die Maßnahmen, die den Zerfall des Römischen Reiches verursachten, nicht vorausbedacht waren. Sie waren nicht das Ergebnis … fragwürdiger Doktrinen.“
Das ist heutzutage anders: „Alle diese schädlichen Ideen, unter denen wir heute leiden und die unsere Politik so irregeleitet haben, wurden von akademischen Theoretikern entwickelt.“ Dieser Umstand verbessert Mises zufolge aber die jetzige Situation, „weil Ideen durch andere Ideen besiegt werden können“.
Auch der „Aufstand der Massen“, von dem der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883 – 1955) in seinem bekanntesten Werk sprach, ging nicht von den Massen aus, sondern von Intellektuellen: „Alle sozialistischen Autoren, ohne Ausnahme, waren bürgerlicher Herkunft“. Hier zeigt sich die Kraft, die von Ideen ausgeht.
„Alles, was heute im sozialen und wirtschaftlichen Leben geschieht, das Gute und das Schlechte, ist das Ergebnis von Ideen. Was nottut, ist der Kampf gegen schlechte Ideen.“ Es gilt, die Ideen verständlich zu erklären und so die Menschen zu überzeugen. „Ideen, und nur Ideen können Licht in die Dunkelheit bringen.“ Es ist die Aufgabe der kommenden Generationen, „bessere Ideen zu entwickeln“. Deshalb gilt: „Unsere Kultur ist nicht zum Untergang verdammt“.
Die hier gebotene, exklusiv für die AUSTRIAN ESSENTIALS erstellte Kurzfassung von „Vom Wert der besseren Ideen“ erscheint mit Erlaubnis des Lau Verlags, bei dem auch die von Gerd Habermann und Gerhard Schwarz herausgegebene deutsche Edition des Originaltextes als Buch erhältlich ist.
Der englische Originaltext ist online zugänglich bei der Online Library of Liberty des Liberty Fund.
HINWEIS
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