So wie die Sonne über dem Hafen von Melbourne untergeht, könnte sie auch über der langen Periode von Freihandel untergehen. Werden Geopolitik und die Verfolgung nationaler Machtinteressen an die Stelle der wohlstandsfördernden Globalisierung treten? (Bild esmehelit auf RF123)
Mit seinem Vortrag „Globalisierung, Freihandel und Wohlstand in einer Welt geopolitischer Spannungen“ im Rahmen der Austrian Academy 2025 wählte Prof. Dr. Gabriel Felbermayr, Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), ein Thema, das aktueller nicht sein könnte. Damit griff er ein schmerzliches Dilemma auf, dem man sich auch als Verteidiger der Globalisierung und überzeugtem Anhänger des Freihandels gegenwärtig nur schwer entziehen kann und dessen Logik es zu erklären gilt.
Die Grundzüge einer nicht nur militärische, sondern auch wirtschaftliche Instrumente einsetzenden Machtpolitik sind als Teil der internationalen Ordnung aus dem Blick geraten. Während nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Glaube an eine regelbasierte Ordnung der internationalen Beziehungen unerschütterlich schien, zeigen sich jetzt erneut die Tendenzen einer machtbasierten Ordnung.
Bereits vor der Corona-Pandemie war weltweit ein Anstieg protektionistischer Maßnahmen zu verzeichnen. Das Jahr 2025 weist jedoch ein Rekordmaß an neuen tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen auf. Es ist ein beunruhigendes Zeugnis, beruht doch der Wohlstand der Europäischen Union – insbesondere von Ländern wie Deutschland und Österreich – auf genau diesem Freihandel, der inmitten der geopolitischen Spannungen immer stärker unter Beschuss gerät. Auch wenn die Weltwirtschaft aktuell eine beachtliche Resilienz aufweist und der globale Güterhandel nach wie vor wächst, ist eine zunehmende Instrumentalisierung der Wirtschaftspolitik erkennbar.
Kann die Weltwirtschaft in einer Zeit von kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa, wechselseitiger Exportbeschränkungen und Zolldrohungen des US-Präsidenten Trump gegen einstige europäische Partner überhaupt ohne eine politische Dimension gedacht werden?
Freihandel und Systemwettbewerb im Kalten Krieg
Professor Felbermayr geht zur Beantwortung dieser zentralen Frage auf die Grundlagen des Außenhandels zurück: So zeigt er, dass es in David Ricardos Außenhandelstheorie mit dem Prinzip des komparativen Vorteils im Kern um die Freiheit geht. Sie ist die grundlegende Voraussetzung, dass der Warenaustausch, welcher die Entwicklung eines komparativen Vorteils ermöglicht, freiwillig ist.
Blickt man auf das vergangene Jahrhundert zurück zeigt sich, dass der Freihandel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Auftrieb erhielt. Während der Merkantilismus lange Zeit zentrale Doktrin vieler Staaten war, führten die Veränderungen des Zweiten Weltkriegs zu einer Stärkung des Freihandels, angefeuert durch den Kalten Krieg als ein Systemwettbewerb zwischen dem westlichen Freihandel und der sowjetischen Planwirtschaft. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erstarkte der Freihandel zusehends.
Die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im April 1994 mit der Harmonisierung der Handelsregeln im Rahmen des GATT-Vertrags sowie die langsame Öffnung und wirtschaftliche Einbindung Chinas verstärkten den Glauben an eine unerschütterlich positive Erfolgstendenz.
Die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im April 1994 mit der Harmonisierung der Handelsregeln im Rahmen des GATT-Vertrags sowie die langsame Öffnung und wirtschaftliche Einbindung Chinas verstärkten den Glauben an eine unerschütterlich positive Erfolgstendenz. Das Aufblühen des Freihandels in den 1990er und 2000er Jahren fiel zudem in eine Phase der geopolitischen Entspannung in der einige Politikwissenschaftler, wie Francis Fukuyama, bereits ein „Ende der Geschichte“ im Sinne einer weltweit friedlichen und gewaltfreien Zukunft proklamierten, flankiert von Rufen des „Wandel durch Handel“.
„Weaponization of Trade” – Handel als Machtpolitik
Umso größer war der Schock als spätestens die Verhandlungen zwischen der EU und den USA Ende Juli 2025 im schottischen Turnberry diese Phase jäh zu einem Ende kommen ließen. So kann von einer Freiwilligkeit in dem ausgehandelten „Zoll-Deal“ keine Rede sein – stand letztlich nichts Geringeres als die sicherheitspolitisch ruinöse Drohung eines NATO-Austritts der USA im Raum.
Vielmehr kann von einer „Weaponization of Trade“, einer Umwandlung des Handels zur Waffe, gesprochen werden. Und genau diese, so Felbermayr, bringe klassische ökonomische Theorien in Erklärungsnot: Wieso sollten Handelsdrohungen ausgesprochen werden, wenn doch beide Seiten von der Arbeitsteilung profitieren? Wieso sollte man Zölle einführen, wenn die Ziele der Zölle – sei es als verhandlungstaktisches Druckmittel, als Schutzmauer für die heimische Industrie oder als zusätzliche Einnahmequelle – zusammengenommen inkonsistent sind und sich gegenseitig ausschließen?
Wieso stimmte die Europäische Union am 27. Juli 2025 in Turnberry dem ersten Handelsabkommen in ihrer Geschichte zu, das keine Liberalisierung, sondern im Gegenteil eine Benachteiligung europäischer Unternehmen und darüber hinaus einen Bruch des EU- und WTO-Rechts vorsieht?
So geht der Realismus von einer grundlegenden Anarchie in den internationalen Beziehungen aus. Der Staat, als ordnende Einheit, strebt nach dem eigenen Überleben und kann Sicherheit allein durch die Akkumulation von Machtmitteln erreichen.
An dieser Stelle wird die politikwissenschaftliche Theorie des Neorealismus von Kenneth Waltz als Erklärungsstütze eingeführt, als Hilfsmittel, um die blinden, mit volkswirtschaftlicher Theorie nicht vollständig erklärbaren Flecken zu erhellen: die Konvergenz von Handels- und Sicherheitspolitik. Die Theorie des Realismus, mit bekannten Vertretern wie Hans Morgenthau und Edward H. Carr, und des Neorealismus mit Kenneth Waltz erklärten einst die fundamentale Dynamik des Kalten Krieges.
Rückkehr der Machtpolitik
So geht der Realismus von einer grundlegenden Anarchie in den internationalen Beziehungen aus. Der Staat, als ordnende Einheit, strebt nach dem eigenen Überleben und kann Sicherheit allein durch die Akkumulation von Machtmitteln erreichen. Diese Akkumulation soll eine möglichst glaubwürdige Abschreckung gewährleisten. Die Machtmittel – militärische Macht im engeren, aber auch wirtschaftliche Macht im weiteren Sinne – sind stets relativ und fügen sich auf diese Weise in die Logik eines Nullsummenspiels ein. Insofern kann im Realismus selbst ein Handelsdefizit positiv sein – solange der Gegner im Vergleich noch mehr verliert.
Die Grundzüge einer nicht nur militärische, sondern auch wirtschaftliche Instrumente einsetzenden Machtpolitik sind, so Felbermayr, als Teil der internationalen Ordnung zu sehr aus dem Blick geraten. Während in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Glaube an eine regelbasierte Ordnung der internationalen Beziehungen unerschütterlich schien, zeigten sich jetzt erneut die Tendenzen einer machtbasierten Ordnung.
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler – dies ergänzend zu Felbermayrs Ausführungen –möchte gar einen eindeutigen Wendepunkt der Entwicklung ausmachen: den Abzug der USA aus Afghanistan im Jahr 2021. So hätten die USA zu diesem Zeitpunkt ihre Rolle als Hüter der Weltordnung und Stabilisator einer regelbasierten Ordnung mit Gratifikationen in Form finanzieller Zuwendungen und Sanktionen bei Verstößen aufgegeben. Dieser Rückzug aus internationalen Regimen würde Akteure wie Russland und China ermutigen, neue Fakten zu schaffen, Grenzen auszutesten.
Gefahren, Abhängigkeiten, Verlust der Wettbewerbsfähigkeit
Die Gefahren dieser Entwicklung, die Brandgefahr mitten in Europa, haben spätestens mit der Häufung der Drohnensichtungen an Flughäfen, Sabotageakten in Osteuropa und Eindringen russischer Kampfflugzeuge in den baltischen Luftraum das öffentliche Bewusstsein in Europa erreicht. Doch nicht allein militärische Bedrohungen, auch strukturelle wirtschaftliche Abhängigkeiten, wie Rohstoffimporte aus China, rücken stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Der genaue Zeitpunkt mag diskutierbar sein, die allgemeine Entwicklung ist jedoch kaum zu leugnen: Die Verschiebung der internationalen Beziehungen von einer regelbasierten hin zu einer machtbasierten Ordnung.
Legt man diesen machtpolitischen Filter über das aktuelle Weltgeschehen erscheinen auch einige wirtschaftliche Entwicklungen in einem anderen, beunruhigenden Licht: So hat China die Europäische Union als Haupthandelspartner eines Großteils der Länder weltweit abgelöst. Während 1995 die EU für rund 104 Länder der Haupthandelspartner war, färbt sich die Weltkarte im Jahr 2024 im chinesischen Rot: Für rund 80 Länder ist China Haupthandelspartner, die EU fällt zurück.
Blickt man auf das Gruppenbild des chinesischen Shanghai Cooperation Organisation (SCO) Summit – oder das „Familienbild hinter der Landkarte“ wie Felbermayr es nennt – ist die machtpolitische Dimension klar erkennbar: In einer Reihe mit Xi Jinping stehen Wladimir Putin, Lukaschenko, Erdogan. Die EU – noch vor 30 Jahre der globale Handels-Hegemon – scheint zurückgedrängt.
Mittlerweile attestieren selbst hochrangige Politiker der EU einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. Die Gründe für die wirtschaftliche Stagnation der Europäischen Union liegen auf der Hand.
Mittlerweile attestieren selbst hochrangige Politiker der EU einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. Die Gründe für die wirtschaftliche Stagnation der Europäischen Union liegen auf der Hand: eine massive Teuerung der Lohnstückkosten, überbordende Bürokratie und hohe Energiekosten sind nur eine Auswahl. Doch auch die geo- und machtpolitischen Gründe tragen dazu bei: die Abhängigkeit von Rohstoffen, die Verwundbarkeit globaler Lieferketten, die zunehmende politische Instrumentalisierung tarifärer und nicht-tarifärer Handelshemmnisse.
Handelspolitik als Sicherheitspolitik
Wie zum Beweis führt Trump die Europäer – zusätzlich zum wirtschaftlichen Schaden durch die US-amerikanischen Zölle – als scheinbar unbedeutende Akteure im Ukraine-Krieg sowie in den Waffenstillstandsverhandlungen im Nahen Osten auch sicherheitspolitisch am Nasenring durch die Manege. Die Frage, ob sich die wirtschafts- und sicherheitspolitischen Dimensionen losgelöst voneinander betrachten lassen – sie scheint obsolet, gar naiv, geht es doch vielmehr darum, aus der gegenwärtigen Untrennbarkeit die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Felbermayr fasst diese unter „Trade Intelligence“ zusammen: Er fordert ein Bewusstsein, wie wirtschaftliche Abhängigkeiten entstehen, um sicherheits- und wirtschaftspolitische Erpressungsversuche vorzubeugen und die Resilienz der europäischen Wirtschaft zu stärken. Gleichzeitig müssten eigene Eskalationsdrohungen in Verhandlungen – ganz im Sinne der Abschreckung in der politischen Theorie des Realismus – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch glaubwürdig untermauert sein. „Si vis pacem, para bellum“ – „Wer Friede will, bereite sich auf den Krieg vor“ – die konkreten Konsequenzen dieser erneut gültigen Formel – seien es Aufrüstung, Diversifizierung der Lieferketten, Schutz der kritischen Infrastruktur – müssten gesellschaftlich diskutiert werden.
Vertiefter EU-Binnenmarkt als Drohung
Die beste Chance, selbst eine schwerwiegende Drohung aussprechen zu können, sei eine stärkere Vertiefung des EU-Binnenmarktes. So müsse die europäische Einigung weiter vorangetrieben und Binnenbarrieren durchbrochen werden. Dies könne ein bedeutsames Verhandlungsargument und schmerzhaftes Druckmittel im Umgang mit den USA sein – und gleichzeitig eine zusätzliche Absicherung auf europäischer Seite.
Die Sicherstellung der Diversifizierung und Versorgungssicherheit müssen marktwirtschaftlich verfolgt werden. Überbordende staatliche Eingriffe und planwirtschaftliche Vorgaben weichen die wirtschaftliche Resilienz Europas weiter auf.
Zudem kann sich die EU der Industriepolitik, als zentralem Mittel der Geopolitik, nicht vollständig entziehen. Allerdings sei hier die richtige Ausgestaltung entscheidend: Die Sicherstellung der Diversifizierung und Versorgungssicherheit – von Münkler auf politikwissenschaftlicher Seite ergänzend unter dem Begriff „Kritische Resilienz“ zusammengefasst – müssen marktwirtschaftlich verfolgt werden. Überbordende staatliche Eingriffe und planwirtschaftliche Vorgaben weichen die wirtschaftliche Resilienz Europas weiter auf.
Gleichzeitig ist die „Vollkasko-Mentalität“ der Wirtschaft, das Vertrauen auf eine implizite staatliche Absicherung – die staatliche Rettung im Krisenfall – zurückzufahren. Unternehmen sollten stattdessen die Lieferkettenrisiken internalisieren und mit der Diversifizierung der Zulieferer auf die neue geopolitische Lage reagieren.
Neue handelspolitische Koalitionen und sicherheitspolitische Wachsamkeit
Trotz der vielen Herausforderungen endet Felbermayr mit einem positiven Ausblick: Es ist seine hoffnungsvollste und vielleicht wichtigste Botschaft: 85 Prozent des Welthandels finden ohne eine direkte Beteiligung der USA statt. Das Hauptinteresse der EU müsse genau auf diesem Teil der Welt liegen. Während die USA mit ihrer Handelspolitik, zerbröselt in einzelne bilaterale Abkommen, ein „Divide et impera“ par excellence betrieben, ist es, so Felbermayr, für die Europäische Union unerlässlich neue Koalitionen zu schließen und den Freihandel in anderen Teilen der Welt zu stärken.
Andererseits ist die gegenwärtige Situation eine Mahnung, die wirtschafts- und sicherheitspolitische Dimension nicht losgelöst voneinander zu betrachten – ohne jedoch in eine staatliche Übergriffigkeit und Planwirtschaft zu verfallen. Nur so könne die EU einen dringend benötigten, zusätzlichen Spielraum schaffen, der in Zeiten geopolitischer Spannungen unabdingbar ist. Nicht zuletzt die schiere Notwendigkeit und der weiter steigende wirtschaftliche Handlungsdruck, so Felbermayr, würden dies alternativlos machen. Ob diese Botschaft und die Dringlichkeit auch in der EU angekommen sind, wird sich zeigen.