Der (untere) Mittelstand unserer wohlhabenden westlichen Nationen sei Opfer der Globalisierung – diese Behauptung haben Links- wie Rechtspopulisten erfolgreich zu ihrem Mantra gemacht. Und tatsächlich könnte man behaupten: Zum ersten Mal seit langer Zeit muss eine Generation in gewissen Bereichen auf Annehmlichkeiten verzichten, von denen ihre Mütter und Väter noch profitiert haben. Allen voran: das Eigenheim. Wenn es um den Immobilienkauf geht, stehen die Millennials schlechter da als die Babyboomer.
Erstens vermochte die Lohnentwicklung nicht mit dem Anstieg der Immobilienpreise mitzuhalten, was daran liegt, dass das langjährige Tiefzinsumfeld jenen, die schon ein wenig Geld auf der Seite hatten – also eben den Babyboomern –, den Eigenheimkauf geradezu aufdrängte, was die Nachfrage und damit die Immobilienpreise in die Höhe trieb. Zweitens machen genau diese Babyboomer auch keinerlei Anstalten, so zu sterben wie ihre Eltern. Das heißt: Ihr Geld wird immer später vererbt. Mit 35 und dem Erbe der Eltern mit der Familie in ein eigenes Haus ziehen? Ist nicht mehr! Zu allem Übel steht die Altersvorsorge aufgrund der großen in Rente gehenden Babyboomer Jahrgänge in vielen Ländern auf wackligen Beinen. Die Jungen füttern also die Alten durch, haben aber berechtigte Zweifel, ob sie einst in denselben Genuss großzügiger Rentenleistungen kommen werden.
Doch gemach. Das ist nicht die ganze Geschichte. Zunächst muss festgehalten werden, dass die Kaufkraft der Mittelstandslöhne bezogen auf einen durchschnittlichen Güterkorb innerhalb der letzten 25 Jahre gemäß Daten der Luxembourg Income Study (LIS) durchaus zugenommen hat. In den USA beispielsweise um 32 Prozent, in Deutschland um 18 und in der Schweiz um 15 Prozent. In Österreich ist die Kaufkraft der Mittelstandslöhne (=Medianlohn) sogar um 29 Prozent gestiegen, also deutlich stärker als in der Schweiz. (Ein Teil davon lässt sich allerdings damit erklären, dass für Österreich der Zeitraum 1987-2011 verwendet wurde, für die Schweiz dagegen 1992-2013; die LIS erhebt die Daten für einzelne Länder leider für ungleiche Zeiträumen. Es wurde jeweils das am nächsten bei 1990 liegende Jahr gewählt.)
Doch wenn wir wirklich wissen wollen, wie es um die Annehmlichkeiten steht, die dem heutigen Mittelstand zugute- oder eben nicht zugutekommen, dann ist die ganze Prozentklauberei – basiere sie auf LIS-Daten oder auf Elefantenkurven – irreführend, denn sie zeichnet ein viel zu pessimistisches Bild der Lage: Der Güterkorb, der zur Berechnung der Kaufkraft der Löhne herangezogen wird, kann den technologischen Fortschritt nämlich nur unzureichend wiedergeben!
Zur Veranschaulichung: Im Güterkorb war und ist ein Mittelklasseauto ein Mittelklasseauto. In Wirklichkeit sieht das aber 2019 völlig anders aus als 1990. 1990 setzten sich langsam ABS und Airbags durch, sonst war da nichts. Heute stecken darin diverse elektronische Assistenzsysteme, Systeme zur aktiven und passiven Sicherheit, der Fahrkomfort ist gestiegen, die Motorleistung hat sich fast verdoppelt, der Verbrauch fast halbiert. Auch ohne Anstieg der „Kaufkraft“ kann sich ein Mitglied des Mittelstands heute also ein viel besseres Auto leisten als 1990. Dasselbe gilt sogar noch ausgeprägter für TV-Geräte (1990: klobiger Röhren-TV mit 50 cm Diagonale und 0,3 Mio. Bildpixeln – 2019: eleganter Flatscreen mit 165 cm Diagonale und 8 Mio. Bildpixeln –), für die TV-Konsummöglichkeiten (1990: lineares Fernsehen auf 15 Sendern, VHS-Kasetten – 2019: beliebige Auswahl der während der letzten 7 Tage ausgestrahlten Sendungen auf über 100 Sendern, Streamingdienste, YouTube).
Vom Smartphone brauchen wir wohl gar nicht erst zu sprechen: Was man 1990 noch für Science-Fiction hielt, ist heute für jede und jeden erschwingliche Realität. Das Multifunktionsgerät ersetzt viel einzelne, teure Hard- und Software und erleichtert z.B. den günstigen Zugang zu nahezu unendlich vielen Kulturgütern. 1990 wurden alte Tonbänder von CDs abgelöst. Das Album „Nevermind“ (1991) der Grunge-Band Nirvana kostete ca. CHF 20 und die meiste andere Musik aus jener Zeit war leider Schrott, kostete aber trotzdem genauso viel. Heute können Sie für CHF 12.95 im Monat bei Spotify und Co. unbeschränkt Millionen von Liedern streamen – auch die guten von damals. Last but not least: Recherche und Wissensmanagement: Stellen Sie sich vor, wie hoch 1990 die Zahlungsbereitschaft gewesen wäre, um die heutigen Recherchemöglichkeiten, also jenen unbeschränkten und barrierefreien Zugang zu Daten und Informationen, zu haben, die das Internet heute ermöglicht! Was hatten wir damals? Bibliotheken, Fotokopierer, Faxgeräte.
Mit diesen Beispielen sollte klar werden: Sogar der italienische Mittelstand – der als einziger auf dem Papier 9 Prozent an Kaufkraft verloren hat – nutzt heute ganz selbstverständlich technologische Errungenschaften, von denen 1990 sogar die obersten Einkommensprozente nicht zu träumen wagten. Das soll nicht heißen, dass es dem italienischen Mittelstand heute besser geht als den reichsten Deutschen, Österreichern oder Schweizern 1990 – subjektives Wohlbefinden ist vor allem vom Abgleich von Erwartung und Wirklichkeit sowie vom Vergleich mit Zeitgenossen abhängig –, aber es zeigt doch deutlich, dass die bloße Kaufkraftbetrachtung nur unzureichend wiedergibt, in welchem Ausmaß technologische Innovation – und damit indirekt auch die Globalisierung – den allermeisten von uns zugutekommt und Ungleichheit in gewissem Masse nivelliert, ohne dass das in den Vermögens- und Einkommenszahlen sichtbar wäre.
In einem spektakulären und langen Interview mit dem „Schweizer Monat“ spricht der weltweit führende Ungleichheits-Spezialist Branko Milanovic, zuletzt bekanntgeworden durch sein Buch „Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht“ (2016) über die Ergebnisse seiner Forschungen zur Ungleichheit und ihre Ursachen, rückt aber auch alarmistische und pessimistische Fehlinterpretationen seiner Aussagen zurecht. Der obige Text von Lukas Rühli ist ein dem Interview hinzugefügter Kommentar, den wir mit minimalen Anpassungen und freundlicher Genehmigung des „Schweizer Monat“ hier abdrucken, weil er einen wichtigen Aspekt erläutert: die Wohlstandsgewinne durch technologischen Fortschritt, die in den nur die quantitativen Einkommensaspekte messenden Statistiken nicht erfasst werden. Das gilt natürlich auch für die armen Länder: Auch sie profitieren gewaltig vom technologischen Fortschritt.
Dazu Branko Milanovic im Interview mit dem „Schweizer Monat“:
„Heute ist oft generalisierend von «zunehmender globaler Ungleichheit» die Rede, obwohl sie eigentlich in vielen Bereichen stark abnimmt. Bis in die 1980er Jahre hinein konnte man dazu nur mutmaßen, weil niemand die entsprechenden Zahlen zur Verfügung hatte: China führte erst 1984 die erste moderne Erhebung durch, viele Länder in Afrika bis etwa 1985 gar keine. Seither aber haben wir tatsächlich sehr gute Gründe anzunehmen, dass die globale Ungleichheit stark zurückgegangen ist.“
Über die zentralen Aussagen des Interviews mit Prof. Milanovic werden wir zu einem späteren Zeitpunkt ausführlich berichten.
Nachfolgend ein weiterer Kurzkommentar zum Thema von Chefredakteur Michael Wiederstein.
Die politische Instrumentalisierung der Ungleichheit
von Michael Wiederstein
„Our economy is broken, with hundreds of millions of people living in extreme poverty while huge rewards go to those at the very top“, steht im neuen Oxfam-Bericht. Das Narrativ der „Superreichen“ und der „Multis“, die auf Kosten der Ärmsten ihre Bankkonten füllen, ist längst zum „Passepartout“-Door-Opener immer neuer sozialpolitischer Forderungen einer Fülle von NGOs, Parteien und Wählergruppen geworden. Dabei werden verschiedenste Ungleichheiten und damit angeblich verbundene Ungerechtigkeiten munter in einen Topf geworfen.
Kein Wunder, sind immer weniger Menschen bereit zu akzeptieren, dass eine freie Gesellschaft untrennbar mit gewissen Ungleichheiten verbunden ist. Das heißt nicht, dass wirtschaftliche, soziale oder sonstige Ungerechtigkeiten einfach hinzunehmen wären – im Gegenteil: Die Gerechtigkeitslehre hat in der liberalen Tradition einen prominenten Platz, aber im Hinblick auf menschliche Rechte, nicht auf ihre Einkommen und Vermögen. Wie auch? Wenn wir davon ausgehen, dass jedes Individuum unabhängig von seinem Geschlecht, seiner sozialen oder ethnischen Herkunft eigenständig, wertvoll, zu respektieren und zu achten ist, also mit denselben Rechten und Pflichten ausgestattet und damit auch in der Lage sein soll, sein Leben selbstverantwortlich zu führen, so können wir nicht erwarten, dass der Output am Schluss bei allen derselbe ist – oder durch irgendeine Macht der Welt ohne triftigen Grund gleichgemacht würde.
Implizit zu behaupten, etwas sei unverdient, wie das etwa die Jahresberichte von Oxfam tun, „außer es gebe eine gute Rechtfertigung dafür, ist nicht weniger willkürlich, als zu behaupten, etwas sei verdient, außer es gebe einen guten Grund dagegen“, schrieb der liberale Philosoph Anthony de Jasay. Und ergänzt: „Eine Vielzahl der die soziale Gerechtigkeit umgebenden doktrinellen Ungereimtheiten sind einem mangelhaften Verständnis des Gleichheitskonzepts zuzuschreiben. Komplexe Gleichheiten, die Verteilungen erklären, werden ignoriert, beiseite gewischt oder zu Ungleichheiten erklärt. Da sich die soziale Gerechtigkeit auf keine allgemein akzeptierte, klare Norm stützen kann, ist sie dazu verdammt, konstruierte Ungerechtigkeiten ins Feld zu führen, um dann für sie Abhilfe durch Umverteilung zu verlangen.“