Freie Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, Liberalismus oder Sozialismus – das ist die Schlüsselfrage unserer Zivilisation, seit jeher, unterstrich Prof. Dr. Peter J. Boettke, Universitätsprofessor für Wirtschaft und Philosophie an der George Mason University, bei einem Vortrag in Wien. Noch vor wenigen Jahrzehnten schien infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion der Kapitalismus als Sieger festzustehen. 34 Jahre später ist das alles andere als sicher. Neuerlich befinden wir uns an einer Weggabelung, meinte Boettke. Krisen in Politik und Wirtschaft, die mit einem wachsenden Vertrauensverlust in zentrale Institutionen einhergehen, drängen zurzeit zu Reformen. Dabei ist jedoch ungewisser denn je, welche Richtung wir dabei einschlagen werden. Denn antikapitalistisches und planwirtschaftliches Denken erlebt ein Revival – Stichwort: Millennial Socialism, Generation Bernie Sanders und ökosozialistische Trends.
Für den 8. Mai 2023 lud das Austrian Institute in Kooperation mit der Diplomatischen Akademie Wien zu einem öffentlichen Vortrag von Prof. Peter J. Boettke im Haus der Industrie ein. Erst kurze Zeit vor dem Termin erfuhren wir, dass Prof. Boettke seine vorgesehene Reise nach Wien aus gesundheitlichen Gründen absagen musste. Dank der Unterstützung der Technik am Veranstaltungsort konnte der Vortrag samt Gespräch mit Prof. Dr. Hansjörg Klausinger (WU Wien) als Präsenzveranstaltung mit anschließendem Buffet durchgeführt werden. Der Hauptreferent wurde via Videokonferenz auf der Großleinwand zugeschaltet. Die gesamte Veranstaltung wurde gefilmt und steht auch als Video-Aufzeichnung zur Verfügung .
Boettkes zentrale These lautet: Die Wirtschaftswissenschaft hat die Antwort auf die jetzigen Krisen, und sie weist den richtigen Weg in die Zukunft, der nur ein wirtschaftsliberaler sein kann. Entstehung der modernen Wirtschaftswissenschaft und Ursprung des Liberalismus sind nämlich untrennbar miteinander verbunden, beide entwickelten sich Hand in Hand. Diese Überzeugung teilt Boettke mit dem österreichischen Ökonom Ludwig von Mises, der in seinem Werk „Liberalismus“ schreibt: „Man kann Liberalismus nicht ohne Nationalökonomie verstehen. Denn der Liberalismus ist angewandte Nationalökonomie, ist Staats- und Gesellschaftspolitik auf wissenschaftlicher Grundlage“.
Das war auch das Kernthema des Vortrags „Kapitalismus, Sozialismus und unsere Zukunft“, den Boettke am 8. Mai auf Einladung des Austrian Institute im Haus der Industrie hielt. Prof. Peter J. Boettke, der an der George Mason University überdies Direktor des F. A. Hayek-Programms für fortgeschrittene Studien ist, stützte seine Überlegungen auf Mises, Friedrich August von Hayek, Adam Smith, die Public Choice Theorie und namhafte liberale Denker der Gegenwart. Von 2016 bis 2018 war er überdies Präsident der Mont Pèlerin Society.
Liberalismus und freie Marktwirtschaft mehrten den Wohlstand – immer und überall
Industrielle Revolution und Liberalismus bescherten der Menschheit ein beispielloses Wohlstandswachstum. Eindrucksvolle Grafiken und Daten aus aller Welt veranschaulichen dies. Man findet sie unter anderem auf der bekannten Website „Our World in Data“, auf die Boettke zu Beginn seines Vortrags verwies. Die Daten belegen: Wohlstandswachstum – verdeutlicht durch einen enormen BIP-Anstieg – hat „nichts mit Geographie oder mit den Menschen zu tun, sondern mit Regeln“, wie Boettke festhielt. Wo immer sich liberale Rahmenbedingungen etablierten, ob zuerst in Europa und den Vereinigten Staaten, oder später in Asien, wuchs der Wohlstand in historisch einzigartigem Ausmaß.
Gegenwärtig macht sich im Westen jedoch Unzufriedenheit breit. Ungleichheit aufgrund von fehlender sozialer Mobilität, Instabilität infolge der Finanzkrise und Ungerechtigkeit durch Polizei-Brutalität brachten in den USA zahlreiche Menschen auf die Straße. Viele sehen ausgerechnet im Kapitalismus das Problem, nicht die Lösung. US-Senator Bernie Sanders erklärt in seinem gleichnamigen Buch gar: „Es ist in Ordnung, auf den Kapitalismus wütend zu sein“.
Boettke macht für die beachtliche Probleme und Herausforderungen der Gegenwart eine Reihe von Fehlentwicklungen verantwortlich, die man jedoch schwerlich der freien Marktwirtschaft ankreiden kann. Er erwähnte in Wien etwa den „monetären Unfug“ der Zentralbanken, und verwies dabei auf die Bilanz der Federal Reserve infolge ihrer ultralockeren Geldpolitik. Ein weiteres Problem sieht er in der „fiskalischen Verantwortungslosigkeit“ der Politik nach 1945, durch die eine generationenübergreifende Gerechtigkeit mittlerweile ungewiss geworden ist: „Sind wir in der Lage, die künftige Generation zu versorgen?“, fragte Boettke. Eine weitere Schwierigkeit sei die „Pathologie der Privilegien“. Verzerrungen im System hätten dazu geführt, dass die US-Wirtschaft eher „auf Beziehungen, als auf Verträgen basiert“.
Die Ökonomie darf Rahmenbedingungen einer freien Marktwirtschaft nicht aus dem Blick verlieren
Die Ökonomie hat die richtigen Lösungsansätze für all diese Probleme, sagte Boettke. Allerdings wurden sie auch von nicht wenigen Ökonomen vergessen. Die Wirtschaftswissenschaft sollte sich hier also auf ihre Wurzeln besinnen. In der Nachfolge von Adam Smith gingen Nationalökonomie und Liberalismus Hand in Hand, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Die damaligen Ökonomen wussten um die „Bedeutung des Rechtsrahmens“ für das Funktionieren einer freien Marktwirtschaft, unterstrich Boettke in Wien. Dieser entscheidende Gesichtspunkt sei allerdings später zunehmend aus dem Blickfeld geraten und müsse daher nun wiedergewonnen werden.
Eine freie Marktwirtschaft basiert auf Eigentum, Vertrag und wechselseitiger Zustimmung. Sie benötigt dafür entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen, und die sind nicht vom Himmel gefallen. „Das ist von hoher Wichtigkeit und muss untersucht werden“, erklärte Boettke. „Man darf nicht Institutionen als gegeben betrachten, sondern muss mit den Mitteln des wirtschaftlichen Denkens studieren, wie sie zustande gekommen sind“. Nur wenn die Rahmenbedingungen stimmen, können sich auch wirtschaftliche Prozesse und Tauschbeziehungen entfalten.
Die institutionellen Voraussetzungen und wichtige ökonomische Kategorien kamen nicht aus dem Nichts. Sie sind nicht selbstverständlich, auch wenn sie heute für selbstverständlich gehalten werden. Eine liberale Einstellung war entscheidend für ihre Entstehung. Boettke zitierte die berühmte US-Ökonomin Deirdre McCloskey, die in ihrem Buch „Bourgeois Dignity: Why Economics Can’t Explain the Modern World“ festhält: „Die liberale ‚Rhetorik‘ erklärt viele der guten Eigenschaften der modernen Welt im Vergleich zu früheren und illiberalen Regimen – den wirtschaftlichen Erfolg der modernen Welt, ihre großartigen Künste und Wissenschaften, ihre Freundlichkeit, ihre Toleranz, ihre Inklusivität, ihren Kosmopolitismus und vor allem ihre massive Befreiung von immer mehr Menschen aus gewaltsamen Hierarchien der Antike und der Moderne.“
Seit Beginn ist die moderne Wirtschaftswissenschaft für soziale Fragen nicht blind, im Gegenteil
Aber kann die Ökonomie Antworten auf brennende soziale Probleme und politische Fragen geben, etwa auf Not, Unwissenheit, Krankheit, Elend und Arbeitslosigkeit? „Die Ökonomik ist für diese Leiden nicht blind“, unterstrich Peter J. Boettke und verwies auf Adam Smith, den Vater der modernen Wirtschaftswissenschaft. Dessen Erforschung wichtiger ökonomischer Gesetze war stets begleitet von seinem Kampf gegen den Merkantilismus und für die Überwindung des Elends.
Dass es Smith dabei um die „Erhöhung des Wohlstands der am wenigsten Begünstigten“ ging, zeigte Boettke unter Verweis auf eine berühmte Passage in „Der Wohlstand der Nationen“. In Kapital acht des ersten Buches über den Arbeitslohn hält der britische Denker fest: „Ist nun diese Verbesserung in den Umständen der niederen Volksklassen als ein Vorteil oder als ein Nachteil für die Gesellschaft anzusehen? Die Antwort scheint beim ersten Anblick außerordentlich einfach. Dienstboten, Tagelöhner und Arbeiter aller Art machen den bei weitem größten Teil jeder Staatsgesellschaft aus. Was nun aber die Umstände des größten Teils verbessert, kann nicht als ein Nachteil für das Ganze angesehen werden.“
Es folgen zwei zentrale Sätze, in denen sich ebenso Smiths Gerechtigkeitsvorstellungen widerspiegeln: „Es kann sicherlich eine Gesellschaft nicht blühend und glücklich sein, deren meiste Glieder arm und elend sind. Überdies ist es nicht mehr als billig, dass diejenigen, welche den ganzen Körper des Volkes mit Nahrung, Kleidung und Wohnung versorgen, an dem Erzeugnis ihrer eigenen Arbeit so viel Anteil haben, um selbst erträglich wohnen, sich kleiden und nähren zu können.“
Peter J. Boettke wird nicht müde zu unterstreichen: Die systematische Wirtschaftswissenschaft, die Adam Smith begründet hat, war zugleich eine Kritik an den damaligen Privilegien. Wirtschaftsliberalismus und politischer Liberalismus wollten beide gemeinsam willkürliche Hindernisse beseitigen, die von den Mächtigen und Privilegierten geschaffen worden waren. Ihr Ziel war der Aufstieg der Handelsgesellschaft und die Befreiung der Menschheit aus Armut und Unterwerfung unter unkontrollierte Autorität. Adam Smith verfolgte einen Plan für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.
Es geht um den effektivsten Weg zur Überwindung des Elends
Die Wirtschaftswissenschaft befasste sich auch mit der Verwirklichung einer freien und wohlhabenden Gesellschaft, dabei suchte sie den „effektivsten Weg, menschliches Leid zu minimieren und menschliches Wohlergehen zu maximieren“, sagte Boettke. Ihre Untersuchung geschah im Lichte der Zwänge der Natur und der Knappheit von Ressourcen, sowie mit Blick auf die „Koordinierung von weit voneinander entfernten und ungleichen Individuen“, zwecks „Sicherstellung der Zusammenarbeit zwischen einer Vielzahl von Fremden“, die einen „Austausch zum gegenseitigen Nutzen“ ermöglicht.
Was die Wirtschaftswissenschaft ebenfalls demonstriert hat: Der Sozialismus kann nicht die Antwort auf soziale Not sein, denn er funktioniert nicht und kann niemals funktionieren. Ludwig von Mises zeigte die Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung, sowie die Zerstörung des Preisbildungsprozesses und die ungenügende Organisation der Produktion im Sozialismus auf. Ein sozialistischer Herrscher wird – selbst wenn er die besten Absichten haben sollte – überfordert sein, aus der Menge technisch machbarer Projekte jene herauszusuchen, die wirtschaftlich tragfähig sind.
Auch das Problem der Machtkonzentration und der Harmonie zwischen den Völkern im Sozialismus wurde von der Ökonomie herausgearbeitet, unter anderem von Friedrich August von Hayek in „Der Weg zur Knechtschaft“.
Fazit: Ökonomik in der liberalen Tradition wäre gegenwärtig der richtige Ratgeber. Man bräuchte sie vor allem für einen Institutionenkritik und notwendige Institutionenreformen. Eine Besinnung auf und Relektüre von Adam Smith wäre dabei sehr hilfreich. Wichtige Impulsgeber wären auch Mises, Hayek und James M. Buchanan.
Wie man Markwirtschaft und Liberalismus vermittelt
Boettkes Vortrag mündete in praktischen Fragen. Denn die entscheidenden Impulse des klassischen ökonomischen Denkens und des Liberalismus müssen nicht nur verstanden, sondern auch vermittelt und weitergegeben werden, damit sie von neuem Früchte tragen, wie schon in der Vergangenheit. Das müsste etwa in Schulen und Universitäten geschehen. „Man muss die Schüler dort abholen, wo sie sind“, meinte Boettke, etwa indem man ihr Mitgefühl anspricht und aufzeigt: Es geht um die Verbesserung des Wohlergehens der am wenigsten begünstigten Menschen und um die Beseitigung von Privilegien mit Hilfe der Macht des Marktes.
Man könnte auch die Hoffnung junger Menschen adressieren, um sie für die ökonomische Lehre zu begeistern. Immerhin kann die freie Marktwirtschaft auf eine beachtliche Erfolgsgeschichte zurückblicken. Eine Verbesserung der Regeln der sozialen Interaktion ermöglicht dem Einzelnen „eine produktive Spezialisierung anzustreben“. Darüber hinaus wird so die „friedliche soziale Zusammenarbeit durch Austausch“ verwirklicht.
Ein gemischter Ausblick, nicht nur erfreulich, aber in letzter Konsequenz optimistisch
In der anschließenden, angeregten Diskussion führte Boettke zunächst ein Gespräch mit Prof. Dr. Hansjörg Klausinger (Wirtschaftsuniversität Wien), dem international bekannten Hayek-Spezialisten und Herausgeber zweier Bände von dessen Gesammelten Schriften . Klausinger ist auch Co-Autor (zusammen mit Bruce Caldwell) der neuen, zweibändigen Biografie Friedrich A. von Hayeks „Hayek: A Life“, deren erster Band im Dezember 2022 in der „University of Chicago Press“ erschienen ist (Band 2 ist in Vorbereitung).
„Anstelle von Rechtsstaatlichkeit haben wir viele Regeln“, kommentierte Boettke die jetzige politisch-gesellschaftliche Situation in vielen westlichen Staaten. Lernen könne man auch vom Beispiel des US-Ökonomen Milton Friedman, meinte er, der ein hervorragender Kommunikator war und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den öffentlichen Diskurs in den USA maßgeblich geprägt hat.
Auch in wissenschaftliche Gefilde führte die anschließende Debatte. Klausingers teilweise kritische Anfragen – etwa hinsichtlich der Boettkes liberalen Ansatz womöglich unterminierenden Logik des kollektiven Handelns – beantwortete Boettke schließlich mit der Empfehlung einer Kombination von Buchanan und Hayek. Die beiden Denker würden sich gut ergänzen. Letztlich helfe aber nicht nur theoretisches Wissen weiter: „Wir brauchen Do-Thanks, nicht Think-Tanks.“
Boettkes Ausblick war weder optimistisch noch pessimistisch, passend zum letzten Kapitel seines jüngsten Buchs „The Struggle for a Better World“ („Der Kampf für eine bessere Welt“), das aus mehreren Aufsätzen und Vorträgen besteht. Dort bezeichnet sich Boettke als „pessimistisch-optimistisch“. Er erläutert: Letztlich glaube er „dass die letzte Ressource die menschliche Vorstellungskraft ist und dass die große Vielfalt des menschlichen Einfallsreichtums und der Kreativität uns helfen wird, einen Weg aus den unzähligen Schwierigkeiten zu finden, die wir uns selbst bereitet haben und bereiten werden. Aber ich bin pessimistisch optimistisch, weil die vorherrschenden Denkmodelle, die die Menschen einsetzen, um ihrer Interaktion miteinander und mit der Natur einen Sinn zu geben, so grundlegend fehlerhaft sind und auf Nullsummen- und Negativsummen-Intuitionen beruhen. Wir unterschätzen systematisch die Kosten, die entstehen, wenn wir Handelsmöglichkeiten untereinander blockieren und die kreativen Kräfte des Unternehmergeistes beschneiden, und wir überschätzen systematisch die Vorteile, die entstehen, wenn wir versuchen, die Exzesse des Eigeninteresses durch kollektive Maßnahmen der Staatsmacht einzudämmen.“
Boettke sieht das Hauptproblem in „moralischen Intuitionen, die den Menschen durch unsere evolutionäre Vergangenheit in kleinen Gruppen und die Tyrannei staatlicher Kontrollen in den Angelegenheiten der Menschen fest eingepflanzt sind.“ In letzter Konsequenz bleibe er aber Optimist „wegen der Kreativität des Einzelnen und der Macht des Marktes“.
Fotogalerie
Nach dem Vortrag lud das Austrian Institute zu einem Buffet ein, das vom Bankhaus Schelhammer Capital gesponsert wurde. Ein Dank geht auch an die Österreichische Industriellenvereinigung für ihre Unterstützung und die technische Ermöglichung des anfänglich nicht vorgesehenen hybriden Formats.
Nachfolgend einige Stimmungsbilder der Veranstaltung.