Politik ist nicht die Unterscheidung von Freund und Feind, sondern Streit um die Herrschaft des Rechts

Während langer Zeit verstand sich westliche Politik als eine Art Wohltätigkeitsveranstaltung, bei der die Staaten für Soziales und allerlei Rettungsaktionen Unsummen ausgaben. Dank der künstlich niedrig gehaltenen Zinsen häuften die Staaten praktisch zum Nulltarif Schulden über Schulden an. Die Europäische Zentralbank war zur willfährigen Dienerin der Politik geworden und verschleierte mit Tricks ihre an sich verbotene monetäre Staatsfinanzierung. Die Folgen dieser inflationären Schwemme billigen Geldes zeigt sich nun schmerzhaft und immer bedrohlicher in der äusserst unsozialen Erosion der Kaufkraft unserer Einkommen und Vermögen.

Nicht weil sich Putins Russland als unser Feind offenbart hat, sind wir jetzt in der Lage, das Politische wiederzuentdecken, sondern umgekehrt: weil das Politische im Verständnis Europas auf dem Recht beruht, vermögen wir Putin, den grossen Verächter des Rechts, als unseren Feind zu erkennen.

Doch dann plötzlich dies: Krieg in Europa! Man begann von Zeitenwende, Aufrüstung, europäischen Abwehrschirmen und dergleichen zu sprechen. Selbst sozial tiefbewegte und grünste Politiker unterstützen nun Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet und beissen gar, wenn auch widerstrebend, in den für sie sauersten aller Äpfel: die Nutzung der Kernenergie. Denn Menschen mit geringem Einkommen schaffen es nicht mehr, die Strom- und Heizkosten zu bezahlen, deren Erhöhung nun zur geldpolitisch verursachten Inflation hinzukommen, und man will ja seine Wähler im Winter nicht frieren lassen.

Habermas’ Realitätsverweigerung und Carl Schmitts verkürzter Realismus

Das alles geschieht, weil wir – ganz neu – wieder einen klaren Feind mit einem Namen haben: Wladimir Putins Russland. Der Name Putin steht jetzt für alles, was westlichen Werten und Idealen widerspricht. Der russische Präsident bedroht Friede, Sicherheit und unseren Wohlstand. Er ist der klassische Feind, nicht nur des ukrainischen Volkes und der ukrainischen Nation, sondern – wie man zu früheren Zeiten sagte – des freien Westens schlechthin. Politik ist nun plötzlich keine Wohltätigkeits- und Wohlfühlveranstaltung mehr, sie wurde zum bitteren Ernstfall. Der Aufruf eines Jürgen Habermas zur Aktivierung kommunikativer Vernunft und zum Dialog mit dem Aggressor erscheinen in diesem Kontext weltfremd.

Als Alternative zur Habermasschen Realitätsverweigerung und klarerer Kompass erscheint einigen dagegen Carl Schmitts Definition des Politischen als «Unterscheidung von Freund und Feind». Auf diese Unterscheidung könne «alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden», auch die Motive dieses Handelns seien davon geprägt, schrieb der als juristischer Apologet des NS-Terrors in Verruf geratene deutsche Staatsrechtler 1932 in seiner berühmten Schrift «Der Begriff des Politischen».

Deshalb, so der Philosoph Konrad Paul Liessmann vor kurzem in der Neuen Zürcher Zeitung (20.8.2022), gehe es jetzt «um die Wiedergewinnung der Einsicht, dass es keine Politik, die diesen Namen verdient, gibt, ohne zwischen Freund und Feind zu unterscheiden». Das stimmt natürlich in einem trivialen Sinn, in Zeiten des Krieges liegt es gar auf der Hand. Doch braucht Politik, um Politik zu sein, die Unterscheidung von Freund und Feind? Drückt diese Unterscheidung wirklich das eigentliche Wesen des Politischen aus? Und ist ein solches Politikverständnis die liberale Alternative zu Habermas’ herrschaftsfreier kommunikativer Vernunft? Oder anders gefragt: Verkörpert ein Staat, der durch einen äusseren Feind in seiner Existenz bedroht ist, das Politische mehr, besser und reiner als einer, der in rechtlich geordnetem Frieden und im Handelsaustausch mit seinen Nachbarn lebt?

Der Bestimmungsgrund des Politischen liegt im Recht

Solche Fragen deuten bereits an, dass Schmitts Wesensbestimmung des Politischen defizitär ist. Wie es auch die Ansicht ist, erst dank Putins Russland wüssten wir nun endlich wieder, was Politik eigentlich ist. Denn Schmitts Politikbegriff hängt im Leeren. Das Wesen von Politik bestimmt sich nicht aufgrund der Unterscheidung von Freund und Feind, ihr Bestimmungsgrund liegt vielmehr im Recht. So sah es zumindest die gesamte europäische Tradition und so sahen es auch noch Neuzeit und Aufklärung, nicht erst Kant, sondern schon Thomas Hobbes, den Carl Schmitt zu Unrecht als Kronzeugen für seine Position reklamiert.

Denn Schmitts Hobbes-Interpretation beruht auf einem Missverständnis. Hobbes steht nämlich für die Begründung des Rechtspositivismus aus dem natürlichen Recht. Er schrieb zwar: «Autoritas, non veritas facit legem» («Die Staatsgewalt, nicht die Wahrheit bestimmt das Gesetz»), doch eben nur das Gesetz, nicht das Recht. Dieses ist zunächst Naturrecht, zu dessen Wahrung die Menschen aus Angst vor einem gewaltsamen Tod und mit Hilfe von vierzehn von der Vernunft gebotenen «natürlichen Gesetzen» auf Gewalt verzichten und eine souveräne Regierungsgewalt mit legitimem Gewaltmonopol autorisieren. Indem diese autoritativ die Gesetzgebung dem Streit der konkurrierenden Wahrheiten entzieht, sichert sie «den Frieden als Mittel zur Selbsterhaltung» (Leviathan, 15. Kap.). Dies geschieht nun aber nicht auf dem Hintergrund eines «normativen Nichts» (Carl Schmitt), sondern eben des natürlichen Rechts eines jedes Menschen, das eigene Leben mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.

Defizitärer Hobbes und zukunftsweisende Juristen des Common Law

Hobbes’ Leviathan ist deshalb in einem zwar äusserst prekären, dennoch aber fundamentalen Sinne ein Rechtsstaat. Das Politische beruht auf dem Recht des Individuums zur Selbsterhaltung und der natürlichen Vernunft, die auf der Grundlage dieses Rechts zum Frieden als den für Selbsterhaltung optimalen Zustand leitet. Das eigentlich Politische ist bei Hobbes also gerade die Überwindung der im «Krieg aller gegen alle» dominierenden Freund-Feind Beziehung, dies allerdings durch die Ermächtigung eines Souveräns, der nun als öffentliche Vernunft im Dienste des Friedens autoritativ festlegt, was als gerecht und ungerecht zu gelten hat – damit aber paradoxerweise genau das gefährdet, wozu er eingesetzt wurde: die Wahrung des Rechts.

Als seine Gegner betrachtete Hobbes’ die englischen Juristen des Common Law. Diese sahen im Politischen ebenfalls eine auf das Recht bezogene und an das Recht gebundene Wirklichkeit, ein Recht jedoch, das Tradition und lebendiges Richterrecht in einem war, eine Institution, die der grosse Chief Justice Edward Coke, Verfasser der berühmten Petition of Right» (1628), als «artificial reason» bezeichnete und deren verfassungsrechtlich ordnende Funktion sich im Rahmen parlamentarischer Gesetzgebung und eines von «checks and balances» bestimmten Machtgefüges entwickelte.

Das moderne, liberale Ordnungsprinzip der Rule of Law – der Herrschaft des Rechts – als ultimative Begründung und als Legitimitätskriterium für politisches Handeln stammt, wenn auch nicht ausschliesslich, aus der verfassungsrechtlichen Tradition des angelsächsischen Common Law. Montesquieus epochemachende Darstellung der Gewaltenteilung findet sich nicht zufällig in einem Kapitel mit der Überschrift «Da la constitution de l’Angleterre» (De l’Esprit des lois, 11,6).

Liberaler Kompass: Politik als Streit um das Recht

Dass die Unterscheidung von Freund und Feind zum Politischen gehört, ihm immer latent innewohnt und in Fällen des äusseren Aggressors oder des inneren Verfassungsfeindes auch faktisch präsent ist, wird damit nicht bestritten. Doch auch in diesen Fällen – und das ist der Kern der Sache – ist die Unterscheidung zwischen Freund und Feind eben nicht die ursprüngliche, sie bleibt auf das Recht bezogen. Dieses ist, will man den liberalen Kompass nicht verlieren, die grundlegende Kategorie. Wladimir Putin ist «öffentlicher Feind», weil er Feind unserer freiheitlichen Rechtsordnung, ja des Rechts überhaupt und genau deshalb auch eine existentielle Bedrohung ist.

Gemäss der fundamentalen Einsicht des Aristoteles am Beginn seiner Bücher über die Politik – sie ist auch bei Habermas noch präsent – beruht das Spezifische des menschlichen Zusammenlebens auf Sprache und Vernunft (beides «logos»), die Recht und Unrecht zu unterscheiden vermögen. Die Verständigung über das Gerechte, so Aristoteles, begründet den Staat, die Polis, deren Ordnung und Leitung «Politik» heisst. In dieser Tradition standen auch die grossen neuzeitlichen Theoretiker des Völkerrechts wie Francisco de Vitoria und Hugo Grotius.

Nicht weil sich Putins Russland als unser Feind offenbart hat, sind wir jetzt in der Lage, das Politische wiederzuentdecken, sondern umgekehrt: weil das Politische im Verständnis Europas auf dem Recht beruht, vermögen wir Putin, den grossen Verächter des Rechts, als unseren Feind zu erkennen. Sonst wäre er ja vielleicht nur der Stärkere, Schlauere, einer, mit dem man vielleicht – mit etwas kommunikativer Vernunft – doch einen Kompromiss schliessen könnte, damit wir im Winter nicht frieren müssen.

 

Dieser Artikel erschien urprünglich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. November 2022, S. 31, unter dem Titel „Es tobt ein Kampf um die Herrschaft des Rechts“, online bei nzz.ch.

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

So halten wir Sie über Neuigkeiten auf unserer Website und die Aktivitäten des Austrian Institute auf dem Laufenden.

Jetzt anmelden