Unter Presseleuten sind Liberale rar. Dass viele liberale Geister resignieren, die Hände in die Hosentaschen stecken und lieber stänkern, anstatt öffentlich das Wort zu ergreifen, liegt, wie es scheint, an drei Irrtümern, die man bei ihnen in Zeiten wie diesen immer wieder antrifft.
Drei hartnäckige Irrtümer hemmen viele Liberale
Da ist erstens ein lähmender Pessimismus, der alles im Niedergang und die Sache des Liberalismus auf verlorenem Posten sieht. Wenn Liberale diese Grundhaltung einnehmen, geraten sie aber in Widerspruch zu ihrer Grundüberzeugung. Gerade Liberale halten den freien Wettbewerb für unerlässlich. Deshalb sollten sie nicht davor zurückschrecken, auch selbst zum Wettkampf um die besten Ideen anzutreten. Die Fähigkeit lebendig und emotionalisierend zu formulieren, dürfen sie daher nicht nur Anderen zutrauen.
Jede Generation muss sich ihre Freiheit stets von neuem erkämpfen – gerade deshalb müssten Liberale in diesem Kampf immer in der ersten Reihe stehen.
Allen Rückschlägen zum Trotz gibt die bisherige Menschheitsgeschichte auch Anlass zur Hoffnung. Die Ideen eines Cicero, einer Schule von Salamanca, der vielen britischen Liberalen und der Österreichischen Schule verhallten nicht im Nirgendwo. Einige ihrer wichtigen Grundeinsichten gingen sogar in das sogenannte „allgemeine Bewusstsein“ ein. Zwar ist der Fortgang der Menschheit keine Selbstemanation eines Weltgeistes zu immer mehr Freiheit im Sinne Hegels. Jede Generation muss sich vielmehr ihre Freiheit stets von neuem erkämpfen – doch gerade deshalb müssten Liberale in diesem Kampf immer in der ersten Reihe stehen.
Ludwig von Mises wurde nicht müde zu betonen: „Alles, was heute im sozialen und wirtschaftlichen Leben geschieht, das Gute und das Schlechte, ist das Ergebnis von Ideen. Was nottut, ist der Kampf gegen schlechte Ideen“ (siehe hier). Die falschen Ideen zu erkennen, ist der erste Schritt, sie zu überwinden. Sie zu widerlegen, ist kein Ding der Unmöglichkeit. Allerdings ist es hier eben hilfreich, sich auch die Fähigkeit zu öffentlichkeitswirksamem Schreiben anzuzeigen.
Den politischen Erlöser gibt es nicht
Ein weiterer Fehler besteht darin, insgeheim auf eine neue Lichtgestalt auf der politischen Bühne zu hoffen, eine zweite Margaret Thatcher. Dieses Warten wird sich irgendwann als Warten auf Godot entpuppen. Gut möglich, dass es gerade die Enttäuschung darüber ist, die manche danach zu Pessimisten werden lässt. Wenn es aber um die Politik geht, dann braucht es zuerst einmal Realismus.
Die meisten Politiker werden nie auf die Idee kommen, die politische und wirtschaftliche Freiheit ihrer Bürger auszuweiten, sofern es keine kritische Öffentlichkeit gibt, die sie dazu auffordert.
Den meisten Politikern ist ein Mehr an Freiheit für die Bürger vollkommen egal. Sie sehen hier nicht einmal Nachbesserungsbedarf. Skepsis und bis zu einem gewissen Grad Pessimismus sind in diesem Punkt also durchaus angebracht. Die meisten Politiker werden nie auf die Idee kommen, die politische und wirtschaftliche Freiheit ihrer Bürger auszuweiten, sofern es keine kritische Öffentlichkeit gibt, die sie dazu auffordert. Man sieht: Kritische Journalisten und liberale Denker sind und bleiben eben unerlässlich.
Natürlich stößt man immer wieder, wenn auch deutlich seltener, auf jene Politiker, die antreten, um echte, dringend nötige Reformen durchzusetzen. Doch selbst wenn diese verkündeten Bestrebungen ehrlich gemeint sein sollten, vergessen die meisten antretenden Reformer auf Ziele im Nu, sofern es keine öffentlichen Stimmen gibt, die sie beharrlich daran erinnern. Andernfalls werden im politischen Getriebe die Machtinteressen, die Sorge um die eigene Karriere, das Geschrei der Pressure-Groups, die Angst vor Widerstand und die organisierten Shitstorms in den sozialen Medien ganz einfach zu übermächtig.
Zu guter Letzt gibt es tatsächlich die wenigen wirklich Liberalen, dieses Promille unter den Entscheidungsträgern, das sein Wirken vorrangig in den Dienst an einer Verbesserung der Situation der Menschen stellt, gestützt auf die Prinzipien des Liberalismus, und bereit, hierfür notwendige und schmerzhafte Reformprozesse in Gang zu setzen. Allerdings haben diese Ausnahmen nicht eine Sekunde die Chance, sich mit ihren Bestrebungen durchzusetzen, sofern es keine öffentlich ertönende Stimmen, die ihnen den Rücken stärken. Andernfalls werden sie bestenfalls als politischer Märtyrer enden.
Auch eine Margaret Thatcher ist nicht aus dem Nichts gekommen. Viele Denker haben vorgedacht, was die britische Premierministerin später umgesetzt hat. Eine Denkfabrik wie das Institute of Economics Affairs leistete mehr als 20 Jahre lang Vorarbeit, in erster Linie unter Intellektuellen, nicht Politikern. Nicht zu vergessen: Das Vereinigte Königreich befand sich damals in einer seiner schwersten, mehrere Jahrzehnte anhaltenden Krisen. Vor dem Amtsantritt Lady Thatchers war das Land das Sorgenkind Europas. Aber kein Staatsmann, nicht einmal eine Eiserne Lady, kann etwas erreichen, wenn der Rückhalt in jeder Hinsicht fehlt. Deshalb muss der Druck immer von unten kommen – ohne Unterbrechung.
Der Liberalismus kann emotionalisieren
Der besonders heimtückische dritte Fehler vieler Liberaler, der wie alle Irrtümer auch ein Körnchen Wahrheit enthält, besteht in der Annahme, der Liberalismus sei zu trocken, zu nüchtern, zu kalt, ganz einfach zu intellektuell und zu rational, um die Massen zu begeistern. Die Verführungskraft von Sozialismus, Nationalismus und Konservativismus sei einfach stärker.
Nun ist eines zweifelsohne richtig: Der vermeintliche Kampf zwischen Klassen oder Rassen vermochte zum passenden Zeitpunkt die Menschen weit mehr zu elektrisieren als der Einsatz für einen scheinbar oder tatsächlich kalten Kapitalismus. Auch stützen sich liberale Denker zuerst auf Prinzipien, nicht auf herzerwärmende Werte wie Heimat und Tradition, die Konservativen in der Regel so am Herzen liegen. Die Botschaft des Liberalismus adressiert weniger die Gefühle der Menschen, könnte man meinen, doch das ist ein Irrtum.
Zunächst sollte man nicht vergessen: Alle sozialistischen Autoren waren bürgerlicher Herkunft. Um die Massen zu begeistern, mussten sie sich etwas einfallen lassen, und das war auch für sie nicht leicht. Kein geringerer als Lenin selbst hat im Laufe der 1890er Jahre erkannt, wie vergeblich es ist, die Arbeiter von einer numinosen, undefinierbaren künftigen klassenlosen Gesellschaft zu begeistern. Resigniert hat er dennoch nicht.
Dass aber der Liberalismus keineswegs so kalt und emotionslos ist, wie seine Vertreter – meistens Intellektuelle – glauben, zeigt eine andere, zunächst erschreckende Wahrheit: Nichts emotionalisiert die Menschen stärker als ein Feind – oder eben ein Feindbild…
Mit Aufklärung kann man auch die Massen erreichen
Kriegstreiber und Ideologen, fast alle davon Kapitalismuskritiker, begreifen die Kraft von Feindbildern am besten. Sie schaffen es die Menschen zu mobilisieren, indem sie ein Feindbild an die Wand malen, das oft nur ein Hirngespinst ist. Ihre demagogischen Methoden sind leider effektiv. Doch bei dieser ernüchternden Feststellung sollte man nicht stehen bleiben. Tatsächliche Feinde der Freiheit gibt es nämlich auch. Nur sind das eben nicht die Sündenböcke oder selbst geschaffenen Vexierbilder rechter und linker Ideologen. In der Regel sind es auch nicht Parteien und schon gar nicht extreme Randgruppen. Es sind schlicht erstarrte Machtstrukturen, institutionalisierte Korruption, wirksam gewordene falsche Ideen und machthungrige Staatenlenker, unter denen die Bürger leiden.
Auf dem Boden der liberalen Ordnung ist die friedlichste Form der Machtkontrolle und des Machtwechsels möglich. Doch auch die liberale Ordnung kann erstarren.
„Ihr wisst, wie die Großen und Mächtigen dieser Welt ihre Völker unterdrücken. Wer die Macht hat, nutzt sie rücksichtslos aus“ (Mt. 20,25). Die Worte Jesu an seine zwölf Jünger sind nie erklärungsbedürftig gewesen. Jeder weiß bis heute sofort, wovon er spricht. Die Unterdrückung durch die Mächtigen ist eine grundlegende Erfahrung und eine der beharrlichsten Konstanten der Menschheitsgeschichte. Und sie hat seit jeher emotionalisiert, deshalb auch erfolglose Aufstände provoziert und erfolgreichere Revolutionen in die Wege geleitet, die in Wahrheit aber nur der Putsch gut organisierter Minderheiten waren, die rechtzeitig die Gunst der Stunde erkannten, und in der Folge eine neue Unterdrückungswelle einleiteten.
Auf dem Boden der liberalen Ordnung ist die friedlichste Form der Machtkontrolle und des Machtwechsels möglich. Doch auch die liberale Ordnung kann erstarren. Sie ist nicht vor Verkrustungen gefeit. Reformen sind immer nötig, nicht zuletzt angesichts der zuweilen umwälzenden Kraft des Kapitalismus, die der Liberalismus ja bejaht. Damit friedliche, aber unbequeme Reformen stattfinden, braucht es Persönlichkeiten, die wissen, dass diese Veränderungen nötig sind, und das auch laut und deutlich sagen. Der Erfolg wird ihnen nicht versagt bleiben.
Was sie zu sagen haben, ist nämlich keineswegs nur trocken und abstrakt. Sie müssen vielmehr den Zusammenhang zwischen politischen Entscheidungen und Machtverhältnissen auf der einen Seite, und ihren nachteiligen Folgen für die Bürger auf der anderen aufzeigen – mit klaren Worten und anschaulich. Diese Arbeit ist unerlässlich, und sie hat eine emotionalisierende Wirkung auf den Bürger, weil er durch sie die konkrete Relevanz existierender Ungerechtigkeit für sein Leben versteht. Oft bleiben besonders schädliche Maßnahmen zunächst unbemerkt, zuweilen betreffen sie auch nur einige wenige Menschen. Das Analysieren von Machtstrukturen ist deshalb das Kerngeschäft des Journalisten, das Aufzeigen ihrer schädlichen Konsequenzen Aufgabe des Liberalen.
Auch jetzt, nach einem Jahr Corona-Krise, ist die Zukunft offen. Zweifelsohne wurden wir in den vergangenen zwölf Monaten Zeugen von noch mehr Schulden, einer expansiveren Geldpolitik und von immer mehr staatlichem Interventionismus. Doch bis zum realen Sozialismus ist es noch ein weiter Weg. Wenn es Vertreter des Liberalismus gibt, die sich öffentlich Gehör zu verschaffen wissen, dann wird man ihre Stimme auch hören und sie wird nicht wirkungslos bleiben – so wie jene von Mises oder Hayek in früheren Zeiten. „Aus taktischen Gründen leise zu treten, hat sich noch immer als Fehler erwiesen“, meinte Johanna Dohnal, die ehemalige sozialdemokratische Frauenministerin Österreichs. Recht hatte sie.