Freiheit und Eigentum – eine sozialphilosophische Analyse

Von jeher war „Freiheit und Eigentum“ der Ruf des internationalen Liberalismus. Und seit eh und je stellt diese Verbindung keine Selbstverständlichkeit dar. Der Ruf „Eigentum ist Dieb­stahl“ und die Ansicht, daß privates Eigentum der Feind der Freiheit sei, sind heute im­mer noch beliebt.[1]

Das Privateigentum als Feind der Freiheit: J.-J. Rousseau und H. Laski

Jean-Jacques Rousseau schrieb bereits im 18. Jahrhundert die oft zitierten Worte: „Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, es sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: Dieses ist mein, und einfältige Leute fand, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürger­lichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie­viel Elend und Greuel hätte der dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle her­ausgeris­sen, den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen ge­hören, der Boden aber nieman­dem!«“[2] Für Rousseau stellt der ursprüngliche Diebstahl von Grund und Boden den Ursprung für die Ungleichheit unter den Menschen dar. Es handelt sich um eine Ungleichheit, die mit der Entwicklung des seßhaften Ackerbaus vor ungefähr 10.000 Jahren, die auch die Erste Wirtschaftliche Revolu­tion genannt wird,[3] entsteht und die auf die Ungleichheit in der Eigentums- oder Vermögens­verteilung abhebt. Wenn nun Eigentum der Feind der Freiheit ist und wenn große Freiheit nur ohne großes Eigentum mög­lich sein sollte, dann bildet diese Ungleichheit zu Recht den bevor­zugten Angriffspunkt auf die Verfassung der bürgerlich-liberalen Gesellschaft.

Mit Blick auf die Neuzeit hebt Harold J. Laski auf der einen Seite die Verdienste des Li­be­ralismus hervor, wenn er ausführt, daß das liberal gesonnene Bürgertum in sei­nem Kampf um die volle Beteiligung an der Staatsgewalt jene überlieferten Schranken durchbrochen hatte, die in allen Bereichen des menschlichen Lebens sichergestellt hatten, daß Privi­legien vom je­weiligen Stand abhängig waren und daß Rechte mit dem Besitz von Land gekop­pelt zu sein hätten.[4] Der Liberalismus sei ein Feind der Privilegien gewesen.[5] Der Liberalismus habe die Freiheit jedes Individuums schützen wollen, und dazu ge­hörte das Recht für jedermann, Ei­gentum zu erwerben und akkumulieren zu dürfen. Auf der an­de­ren Seite kritisiert Laski je­doch, daß die liberale Praxis aufgrund der engen Verknüpfung von Eigen­tum und Freiheit nur den mit Eigentum ausgestatteten Individuen Vorteile gebracht  hätte,[6] – heute würde man sa­gen, den Besserverdienenden zum Vorteil gereichte. Obwohl der Liberalismus in direk­ter Be­ziehung zur Freiheit stand, hätte er aufgrund der Eigentumsorientierung in der Praxis keinen univer­sellen Geltungsanspruch entwickeln können. So stand und in der Besserverdie­nen­den-Sichtweise steht das Eigentum der allgemeinen Freiheit, der gleichen Freiheit für alle, im Wege.

Privateigentum als Voraussetzung von Freiheit: F. A. von Hayek

Mit genau entgegengesetzter Perspektive argumentiert Friedrich August von Hayek. Für Hayek ist Eigentum „die einzige von der Menschheit bisher entdeckte Lösung des Pro­blems, individuelle Freiheit mit der Vermeidung von Konflikten zu vereinbaren.“[7] Unter in­dividueller oder persönlicher Freiheit versteht Hayek einen Zustand, in dem ein Mensch nicht dem willkürlichen Zwang durch den Willen eines anderen oder anderer unterworfen ist, also Freiheit als Unabhängigkeit von der Willkür anderer.[8] Willkürlicher Zwang kann nur ausgeübt werden, wenn derjenige, der Zwang aus­üben will, die grund­legenden Bedingungen für das Handeln der anderen in seiner Gewalt hat. Ver­hindert wer­den kann daher willkürlicher Zwang und geschützt wird die persönliche Freiheit durch die Ermögli­chung und Sicherung eines pri­vaten Bereichs, der es nicht zuläßt, daß grundlegende Bedingungen für das Handeln der ein­zelnen Menschen in die Gewalt an­derer fallen.[9] Zu diesem privaten Bereich ge­hört nach Hayek die Anerkennung von Privat- oder Sondereigentum als eine wesentliche, jedoch nicht als einzige Bedingung für die Verhinderung von Zwang.[10] Die Anerken­nung von Ei­gentum sei jedoch der erste Schritt zur Bestimmung des vor Zwang schützenden priva­ten Be­reichs, und Hayek zitiert Lord Acton und Sir Henry Maine, wenn er ausführt, daß „einem Volk, das Eigentum nicht an­erkennt, die ersten Voraussetzungen der Freiheit mangeln“ (Acton) und daß „niemand das Sonderei­gentum angreifen darf und gleichzeitig behaupten, daß er die Zivili­sation schätzt. Die Geschichte dieser beiden ist nicht zu trennen.“ (Maine).[11]

Aus der Gegenüberstellung der Positionen von Laski und Hayek läßt sich unschwer able­sen, daß jeweils von unterschiedlichen Freiheitsbegriffen aus argumentiert wird, wes­halb Laski und Hayek auch in bezug auf die Ungleicheit in der Eigentums- oder Vermögensver­teilung zu unterschiedli­chen Bewertungen gelangen.[12] Es ist deshalb sinn­voll und notwendig, den Streit zwi­schen den Losungen „Freiheit und Eigentum“ und „Eigentum ist Diebstahl“, welcher als Streit um das Verhältnis von „Freiheit und Gleich­heit“ geführt und auf dem Kampfplatz der ungleichen Vermögensver­teilung ausge­fochten wird, von den Freiheitsbegriffen her aufzu­rol­len.

Freiheit als Vielheit von Handlungsmöglichkeiten und die Forderung nach Umverteilung

Hinter der Kritik von Laski steht ein Freiheitsbegriff, den man als Freiheit im Sinne ei­nes Be­reichs oder einer Anzahl von Möglichkeiten bezeichnen kann. Wer mehr Möglich­keiten zu handeln hat, ist nach diesem Freiheitsverständnis freier als andere mit weniger Handlungs­mög­lichkeiten. Gleiche Freiheit für alle (allgemeine Freiheit) ist in dieser Sicht­weise notwen­diger­weise von gleichen materiellen Bedingungen abhängig. So kritisiert Laski, daß bei­spielsweise Ver­tragsfreiheit nie wirklich frei sei, so­lange die vertragschließenden Par­teien nicht die gleiche Verhand­lungsmacht hätten, wo­bei die gleiche Verhandlungsmacht notwen­digerweise von glei­chen ma­teriellen Bedingungen abhängig sei.[13] In diesem Freiheitsver­ständnis ist das Verhältnis von Frei­heit und Gleichheit so angelegt, daß glei­che Freiheit für alle nur bei sozialer Gleichheit ein reales Fundament erhält. Die Forderung nach Umvertei­lung von Einkommen und Vermö­gen zum Zwecke einer Einkommens- und Vermögensnivel­lierung ist damit logisch notwendig, wenn man eine freiheitliche Ordnung auf diesem Fei­heitsverständnis errichten will.

Betrachten wir die Konsequenzen dieses Freiheitsverständnisses anhand eines ein­fa­chen Bei­spiels: Angenommen ein Gemeinwesen besteht aus 2 Personen A und B, die von Natur aus mit identischen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet sind und die beide jeweils ein Ver­mögen von 100 Einheiten besitzen. In diesem Ausgangszustand zum Zeitpunkt t(0) haben beide annahmege­mäß die gleichen materiellen Möglichkeiten, auf deren Betrachtung wir uns beschränken können, da ja beide von Na­tur aus mit identi­schen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet sein sollen. In die­sem Ausgangszu­stand herrscht im Sinne der Bedeutung „Frei­heit als Möglichkeiten“ ein Zustand allgemeiner, weil gleicher Freiheit.

Die Person A entscheidet sich nun in t(0), ihr Vermögen vollständig in alkoholaus­schen­kenden Gaststätten und Etablissements zweifelhaften Rufs auszugeben,[14] so daß ihr Vermö­gen zu Beginn der Periode t(1) auf 0 Einheiten geschrumpft ist. Person B hat sich in t(0) ent­schie­den, nur 10 Ein­heiten in den erwähnten Gaststätten auszugeben und 90 Einheiten so an­zule­gen, so daß B zu Beginn von t(1) wieder ein Vermögen von 100 Einheiten zur Verfügung hat. Zu Beginn von t(1) herrscht aber nun kein Zustand allgemeiner, weil gleicher Freiheit im Sinne von gleichen Handlungsmög­lichkeiten, da die Handlungsmöglichkeiten von A geringer sind als die von B. In einem Gemeinwesen, welches auf allgemeiner Frei­heit im Sinne von gleichen Handlungsmöglichkeiten als unbedingtem Wert aufbaut, muß aber Möglichkeits­gleichheit her­gestellt werden, wenn der unbe­dingte Wert Frei­heit ver­wirklicht werden soll. Das heißt, es werden von B 50 Einheiten Vermögen zu A umverteilt. Ein Zustand allgemeiner Frei­heit ist wie­der hergestellt.

Letztlich besteht diese Sicherstellung gleicher Möglichkeiten darin, daß zu Beginn jeder Pe­riode alle Vermögensgegenstände innerhalb dieses Gemeinwesens in einen gemein­schaftli­chen Fonds ein­gebracht werden müssen, der anschließend an alle Mitglieder des Ge­meinwe­sens zu glei­chen Anteilen ausgeschüttet wird, so daß zu Beginn jeder Periode eine gleiche Anfangs­verteilung existiert. Das Ergebnis lautet: Eigentum im Sinne der umfas­send­sten Herr­schaft über eine Sache unter Einschluß des Ausschlußprinzips, also der Be­rechtigung andere von der Nutzung dieser Sache auszuschließen,[15] existiert in einem Gemeinwesen, in dem Freiheit als Möglichkeiten definiert wird und das auf gleicher Freiheit für alle gegründet ist, nicht. Um mit Rousseau zu reden, jeder, der aus welchen Gründen auch immer Vermö­gens­gegen­stände „umzäunte, es sich in den Sinn kommen lassen würde zu sagen: Dieses ist mein“ usw., um dieses Vermögen der Einbeziehung in den gemeinschaftlichen Fonds oder der di­rekten Um­vertei­lung zu entziehen, wäre ein Dieb und ein Betrüger: „Glaubt diesem Betrü­ger nicht; ihr seid ver­loren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören, der Boden aber nie­mandem!“[16] Das Bild von Rousseau geht unter dem betrachte­ten Freiheitsbegriff wunder­bar auf. B hat nur 10 Einheiten seiner Anfangs­ausstattung konsumiert und 90 Einheiten so ange­legt, daß er zu Beginn der Periode t(1) wieder 100 Einheiten besitzt. Sein Ertrag von 10 Ein­heiten gehört aber offensichtlich allen. Dürfte er ihn behal­ten, so müßte er in der Periode t(1) zumindest 10 Einheiten mehr zur Verfügung haben als der A. Damit hätte er aber mehr Frei­heit im Sinne von mehr Möglichkeiten. Eigentum darf deshalb nicht existieren, da sonst keine allgemeine Freiheit im Sinne von Möglichkeitsgleich­heit hergestellt werden könnte. Eigen­tum ist der Feind dieser Freiheit.

Wie sich die Modellsituation zu Beginn von t(2) darstellen wird, wenn A und B wieder ent­spre­chend ihren Präferenzen aus der Vorperiode handeln, ist jedem unmittelbar ein­sichtig: A ist zu Be­ginn der Periode t(2) wieder bei 0 Einheiten Vermögen, Handlungsmöglichkeiten und Freiheit. B hat hingegen 50 Einheiten Vermögen, Handlungsmöglichkeiten und damit Freiheit zur Verfügung. Es herrscht kein Zustand allgemeiner, weil gleicher Freiheit. Wenn allgemeiner Freiheit im Sinne von Möglichkeitsgleichheit unbedingte Geltung verschafft werden soll, hat B 25 Einheiten abzu­treten usw., bis zu Beginn der Periode t(¥) die beiden Personen A und B beide bei nähe­rungsweise 0 Ein­heiten Vermögen, Handlungsmöglichkeiten und Freiheit ange­kommen sind. Der Möglichkeits­raum sinkt über die Perioden kontinuierlich. Diese Entwick­lung könnte man als konsequente Selbstver­nichtung der Freiheit im Sinne von Möglichkeiten bezeichnen.

Falls – bei Aufrechterhaltung des unbedingten Wertes der Möglichkeitsgleichheit und daraus folgend der Ablehnung von Eigentum – diese Selbstvernichtung der Freiheit im Sinne von Möglichkeiten verhindert werden soll, verbleibt letztlich nur eine Lösung: Der A muß ge­zwungen werden, nicht nach seinen eigenen Präferen­zen, Plänen oder Absichten zu handeln und zu leben.

Die Alternative: Individuelle Freiheit als Freiheit von Zwang

Der Freiheitsbegriff, von dem Friedrich August von Hayek ausgeht, ist der der individuel­len oder persönlichen Freiheit. Dieser Freiheitsbegriff kenn­zeich­net immer eine Beziehung von Menschen zu Menschen, weshalb der einzige Eingriff in diese Freiheit im Zwang durch andere Menschen besteht.[17] Hayek beschreibt individu­elle Freiheit deshalb als einen Zustand, in dem ein Mensch nicht dem willkürlichen Zwang durch den Willen eines anderen oder anderer Men­schen unterworfen ist, also Freiheit als Unabhän­gigkeit von der Willkür anderer.[18] Gemeint ist damit, daß jeder Mensch sein Handeln nach seinen eigenen Plänen und Absichten ge­stalten kann, daß er es auf Ziele richten kann, die er selbst anstrebt.[19] Ob ein Mensch frei ist oder nicht, hängt nach Hayek deshalb nicht von der Anzahl von Mög­lichkeiten ab, die ein Mensch hat, sondern davon, „ob er erwarten kann, den Lauf seiner Handlungen nach seinen gegen­wär­tigen Ab­sichten zu gestalten, oder ob jemand anderer die Macht hat, die Umstände so zu mo­difizieren, daß er nach dem Willen des anderen und nicht nach seinem eigenen Willen handeln wird.“[20]

Dieser Freiheitsbegriff liegt Hayeks wichtigstem Betrachtungsgegenstand zugrunde: der freiheit­li­chen Gesellschaft, die Hayek auch als „Große Gesellschaft“ oder in Anlehnung an Karl R. Popper als „Offene Gesellschaft“ bezeichnet.[21] Um zu verstehen, warum für Hayek das Eigentum „die ein­zige von der Menschheit bisher entdeckte Lösung des Problems [ist], individuelle Freiheit mit der Ver­meidung von Konflikten zu vereinba­ren“,[22] ist es erforder­lich, den Zusammenhang zwischen der konsequenten Anwendung von allgemeinen Regeln, ohne die freiheitliche Gesellschaften nicht ent­stehen und nicht fortbestehen können,[23] und dem Begriff der individuellen Freiheit zu verdeutli­chen.

Wenn Freiheit als Unabhängigkeit von der Willkür anderer bedeutet, daß ein Mensch seine eige­nen Ziele oder Zwecke verfolgen kann, und wenn in einer Gesellschaft ein Zustand all­ge­meiner, weil gleicher Freiheit existieren soll, dann ist niemand berechtigt, ei­nem anderen  Ziele und Zwecke zu setzen und den anderen auf die Verfolgung dieser Ziele gegen seinen Willen zu verpflichten. In einer freien Gesellschaft besteht das Gemeinwohl nach Hayek des­halb prinzi­piell darin, die Verfol­gung unbekannter indivi­dueller Zwecke zu ermöglichen.[24] Das Gemein­wohl besteht damit in dem, was wir einen Zustand allgemeiner Freiheit genannt haben, der gleichen Freiheit für alle. Im Unter­schied zur geschlossenen Gesellschaft[25] kennt die freie Ge­sellschaft keine gemeinsamen materialen Zwecke und ist insofern Selbstzweck, als daß ihr le­diglich der formale Zweck der Ermöglichung allgemeiner Frei­heit zugrunde liegt.[26]  Wenn der Gesellschaft materiale Zwecke vorgegeben werden, nach denen sich jeder zu richten hat, dann ist kein Zustand allgemeiner Freiheit möglich, weil es nicht jedem Men­schen möglich ist, seine eigenen Zwecke zu verfolgen, sondern er gezwungen wird, sich dem vorge­gebenen materialen Zweck zu unterwerfen. Letzteres würde dazu führen, daß eine freie Gesell­schaft, die Hayek auch als spontane Ordnung bezeichnet, den Charakter einer ge­plan­ten Organi­sation annimmt, was notwendigerweise als Weg in die Knechtschaft zu be­zeich­nen ist.[27]

Demzufolge müssen die Beziehungen zwischen den Menschen in einer freiheitlichen Ge­sell­schaft durch Regeln des Rechts und der Moral gestaltet werden, die allgemeine Freiheit er­mögli­chen. Die­ses ist nur möglich, wenn es sich um allgemeine und abstrakte Regeln han­delt, die für alle im glei­chen Maße unabhängig vom Bereich ihrer Möglichkeiten gelten und ohne Rücksichtnahme auf be­sondere Konsequenzen ihrer Anwendung im Einzelfall durch­gesetzt werden. Die Ermögli­chung allgemeiner indivi­dueller Freiheit im Sinne von Unab­hängigkeit von der Willkür anderer beruht dem­nach auf der konsequenten Anwendung allge­meiner Re­geln und auf dem Regelgehorsam als Krite­rium für gerechtes Handeln.[28]

Nach Hayek sind es auch diese allgemeinen Regeln, „die die Bedingungen festsetzen, un­ter de­nen Gegenstände oder Umstände Teil des geschützten Bereichs einer Person wer­den,“[29] also als Eigen­tum zu bezeichnen sind. Die Anerkennung der allgemeinen Regeln ermögliche es je­dem Mit­glied einer Gesellschaft, den Umfang seines privaten Bereichs ab­zugrenzen, so daß jedermann zu erkennen vermag, was zu seinem Bereich gehöre und was nicht.[30] Durch Eigen­tum werde so das Problem gelöst, individuelle Freiheit mit der Vermeidung von Kon­flikten zu vereinbaren.

Bezüglich evtl. Verletzungen des geschützten Bereichs einer Person, die aus der Ungleich­heit in der Vermögensverteilung folgen könnten, betont Hayek, „daß auch ein Mensch, der praktisch kein Eigentum besitzt (außer solchen Dingen wie Kleider – und sogar für diese gibt es Leihanstalten) völlige Freiheit genießen kann, und wir die Betreuung der materiellen Dinge, die unseren Bedürfnissen dienen, anderen überlassen können. Wichtig ist nur, daß der Besitz weit genug verstreut ist, so daß der Einzelne nicht von bestimmten Personen abhängig ist, die allein seinen Bedarf befriedigen oder allein ihn beschäftigen kann.“[31] Eigentums- oder Vermö­gensakkumulationen und eine ungleiche Vermögensverteilung haben also entgegen populären Vorurteilen auch im neoliberalen Paradigma Hayeks Grenzen.

Eigentum als Vorbedingung und Garant äußerer Freiheit gemäß Immanuel Kant

Mit der Skizzierung der beiden strikt zu trennenden Freiheitsbegriffe und ihrer Konse­quenzen für die Beurteilung einer ungleichen Vermögensverteilung ist der Kampf zwischen den Losun­gen „Freiheit und Eigentum“ und „Eigentum ist Diebstahl“ aber noch nicht ent­schieden. Zwar läßt sich festhalten, daß innerhalb des Paradigmas „Freiheit als Möglichkei­ten“ dann erhebliche Probleme entstehen, wenn der Grundsatz „Freiheit und Gleichheit“ nicht verletzt werden soll. Trotzdem kann aus diesen Selbstvernichtungsproblemen und aus einer etwaigen Verwerfung des Begriffs „Freiheit als Möglichkeiten“ nicht ge­schlossen wer­den, daß Rousseaus Diktum „daß die Früchte allen gehören, der Boden aber niemandem“ falsch ist. Es ist deshalb notwendig, eine Lücke innnerhalb der Hayek’schen Argumentation zu schließen, die meines Erachtens darin besteht, daß Hayek nicht klärt, warum ein äußerer Gegenstand überhaupt einer einzelnen Person gehören darf. Sollte nämlich – um mit dem Bild von Rousseau zu sprechen – der Boden niemandem ge­hören dürfen, dann steht der Boden auch auf der Basis des Begriffs „Freiheit als Unabhängigkeit von der Willkür anderer“ a priori nicht für Umzäunungen zum Zwecke der Ab­grenzung von privaten Bereichen zur Ver­fü­gung. Man müßte sich dann nolens volens etwas anderes als Eigentum einfallen lassen, um zu ver­hindern, daß ein Zwingender die wesentli­chen Bedingungen für das Handeln des ande­ren Men­schen in seine Ge­walt be­kommt. Der Streit um die Losungen „Freiheit und Eigen­tum“ und „Eigentum ist Diebstahl“ kann deshalb nur durch die Beantwortung der Frage ent­schieden werden, ob Freiheit ohne die Existenz von Eigentum möglich ist.

Diese Frage führt unmittelbar zur Rechtslehre von Immanuel Kant.[32] Der Königsberger Philosoph unterscheidet zwischen dem angeborenen und dem erworbenen Recht, wobei das angeborene Recht „unabhängig von allem rechtlichen Akt […] jedermann von Natur zu­kommt.“ Für das erworbene Recht ist jedoch ein rechtlicher Akt notwendig.[33] Kant redet auch vom inneren und vom äußeren Mein und Dein, um diese Formen des Rechts zu unter­schei­den, und führt dann aus, daß das angeborene Recht bzw. das innere Mein und Dein[34] nur ein einziges ist: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“[35] (Kursiv im Original gesperrt).

„Es ist möglich, einen jeden äußeren Ge­genstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d. i.: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür … herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig.“  (Immanuel Kant)

Daß das Eigentum im Sinne des äußeren Mein und Dein ein unabdingbarer Bestand­teil je­der Rechtsordnung als einer a priori gültigen Freiheitsordnung ist[36], legt Kant durch einen zwei­stufigen Gedankengang dar.[37] Als erstes stellt er fest, daß das „Rechtlich-Meine (meum iuris) dasje­nige“ ist, „womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Ein­willigung von ihm machen möchte, mich lädieren würde,“ wobei die „subjektive Bedingung der Mög­lichkeit des Gebrauchs überhaupt (…) der Besitz“ ist (Kursiv im Original gesperrt).[38] Etwas Äußeres kann aber nur dann das Meine sein, wenn der Begriff des Besitzes neben der unmittel­baren sinnlich-körperlichen Inhabung, dem physischen Besitz, auch den intelligiblen oder bloß­rechtlichen Besitz von Gegenständen beinhaltet. Andernfalls könnte ich nämlich nicht behaup­ten, daß eine „ohne meine Einwilli­gung“ durchgeführte Nutzung meines Autos durch den Hausmeister des Walter-Eucken-Instituts „mich lädieren würde“. [Mein Auto steht gerade auf dem Parkplatz vor dem Walter-Eucken-Institut und befindet sich, während ich hier gerade diesen Text vortrage, nicht in meiner Inhabung. Ganz unabhängig von der Frage, ob ich mein Auto nach einer unerlaubten Nutzung durch den Hausmeister des Walter-Eucken-Instituts im unveränderten, unbeschädigten und neubetrankten Zustand genau in dem Moment selbst nut­zen kann, in dem ich es möchte, wäre ich durch die unerlaubte Nutzung lädiert, weil mein Wille, andere von der Nutzung meines Autos auszuschließen, keine Beachtung gefunden hätte. Oder anders formuliert: Kants begriffliche Unterscheidung von physischem und intelligiblem Besitz liegt implizit dem Verfügungsrechtsbegriff zugrunde, der im Property-Rights-Ansatz der Neuen Institutionenökonomik von zentraler Bedeutung ist.]

Kant zeigt nun im zweiten und entscheidenen Schritt, daß die Möglichkeit, „jeden äußeren Gegenstand mei­ner Willkür als das Meine zu haben,“ eine Voraussetzung a priori der prakti­schen Vernunft ist.[39] Würde die Will­kür „brauchbare Gegenstände außer aller Möglichkeit des Gebrauchs“ setzen, was im Bild von Rousseau heißt, daß der Boden niemandem gehören darf, dann „würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Ge­genstandes berauben.“[40] „Da nun die reine praktische Vernunft jedoch keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür zum Grunde legt, … so kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes kein absolutes Ver­bot seines Gebrauchs enthalten, weil dieses ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst sein würde.“[41] Würde sie ein absolutes Verbot enthalten, dann führte dies zur vollstän­digen Vernichtung der Freiheit, da selbst der räumlich-zeitlich gebundene Gebrauch von äußeren Gegenständen, also auch der physische Besitz, untersagt werden müßte. Äußere Frei­heit wäre unmöglich.

Der Ruf „Freiheit und Eigentum“ ist deshalb keine betrügerische Parole. Vielmehr wird die Freiheit durch den Ruf „Eigentum ist Diebstahl“ gänzlich um ihre äußere Existenz betro­gen.

 Dieser Artikel ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung des gleichnamigen Beitrags, der ohne Fußnoten und Literaturanga­ben veröffentlicht wurde in: liberal. Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 3/1999, S. 9 – 14.

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Anmerkungen

[1]            Vgl. Leisner (1996), S. 7 und S. 20.

[2]            Rousseau (1755/1981),  S. 93.

[3]            Vgl. North (1988), S. 76 f.

[4]            Vgl. Laski (1936/1985), S. 122.

[5]            Vgl. Laski (1936/1985), S. 124.

[6]            Vgl. Laski (1936/1985), S. 124 – 126.

[7]            Hayek (1980), S. 148.

[8]            Vgl. Hayek (1983), S. 13 – 15.

[9]            Vgl. Hayek (1983), S. 168. Für die Sicherung des privaten Bereichs ist für Hayek ein Staat notwendig: „Die Sicherheit, daß bestimmte Umstände seiner Umgebung nicht von jemand anderem willkürlich ge­än­dert werden können, kann ihm (dem einzelnen Menschen/N. F. T.) nur von einer Behörde (also dem Staat/N. F. T.) gegeben werden, die die nötige Macht hat.“ Hayek (1983), S. 168. Der private Bereich steht bei Hayek also weniger dem Staat gegenüber, sondern wird vielmehr erst durch diesen ermög­licht. Zum Verhältnis von Privatheit und Staat­lichkeit siehe auch Schachtschneider (1994), S. 166 ff., S. 374 ff., S. 386 ff.; und auch Baruzzi (1993), S.46: „Die römische Grunderfahrung beruht darin, daß res pu­blica und res privata unterschieden werden und daß diese Unterscheidung den Menschen frei macht. Aus der Unterscheidung entsteht Freiheit…Aber wesentlich wird die Freiheit im öffentlichen Be­reich…Aber zu­nächst ist festzuhalten, daß die eigentlich römische freima­chende Tat darin liegt, daß die Bereiche unter­schieden werden, daß das Leben sich für zwei Bereiche des Den­kens und Handelns fei­macht und freihält. Die ständige persönliche, aus voluntas kommende Handlung, Öffent­liches und Pri­vates als Bereiche zu unterscheiden, diese Unterscheidung ist die Schaffung, Eröffnung zu jeweils einem sich zu bestimmenden und damit freien Tun. Mit dieser Lebenssicht kann in beiden Bereichen frei ge­dacht und gehandelt wer­den.“

[10]           Vgl. Hayek (1983), S. 169.

[11]           Vgl. Hayek (1983), S. 169.

[12]           Vgl. zur Eigentums- bzw. Vermögensverteilung auch Hayek (1983), S. 169 – 170.

[13]           Vgl.  Laski (1936/1985), S. 126.

[14]           Hierbei wird davon ausgegangen, daß sich die alkoholausschenkenden Gaststätten und Etablis­sements zweifelhaften Rufs jenseits der Grenzen des betrachteten Gemeinwesens befinden.

[15]           Vgl. hierzu Leisner (1996), S. 30 – 31: „Was «privates Eigentum» ist, das hat sich vor allem im west­euro­päischen Verfassungs-Liberalismus seit der Fränzösischen Revolution von 1789 entfaltet… Im Mit­telpunkt steht die Vorstellung von einem «freien Eigentum». § 903 BGB faßt dies mit den Worten zu­sammen: «Der Eigen­tümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegen­ste­hen, mit der Sache nach Belie­ben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.» «Mit der Sache verfahren» – d. h., dem Eigen­tümer stehen alle Herrschaftsrechte über die Sache zu: das Recht des Besitzes, der Verwal­tung, der Nutzung und der Verfügung über die Sache. Dies sind nur so­zusagen «Aspekte» des Eigentums; sie gehören untrennbar zu­sammen, wird einer von ihnen wesent­lich beein­trächtigt, so ist das Eigentum als solches verletzt… Nach der deutschen Tradition ist Eigentum wesent­lich ein Ausschlußrecht gegenüber «anderen», vor allem auch gegen­über dem Staat.“

[16]           Rousseau (1755/1981),  S. 93.

[17]           Vgl. Hayek (1983), S. 16.

[18]           Vgl. Hayek (1983), S. 13 – 15.

[19]           Vgl. Hayek (1983), S. 16 – 17.

[20]           Hayek (1983), S. 17.

[21]           Siehe hierzu vornehmlich den zweiten Band von Hayeks (1981a) „Recht, Gesetzgeung und Freiheit“ und auch Henkel (1996), S. 216 – 217.

[22]           Hayek (1980), S. 148.

[23]           Vgl. Henkel (1996), S. 216.

[24]           Vgl. Hayek (1981a), S. 15 f.

[25]           Vgl. Popper (1980), S. 233.

[26]           Vgl. Henkel (1996), S. 216. Hayek verteidigt das formale Gemeinwohlziel auch mit dem Argument der konstitutionellen Unwissenheit des Menschen: „Tatsache ist jedoch, daß in ei­ner Großen Gesellschaft, in der die Individuen frei sein sollen, ihr eigenes Wissen für ihre eigenen Zwecke zu verwenden, das Ge­meinwohl, auf das eine Regierung ab­zielen sollte, nicht aus der Summe besonderer Bedürfnis­be­friedi­gun­­gen der verschiedenen Individuen bestehen kann, aus dem einfachen Grunde, weil weder diese Be­dürf­nis­befriedigungen noch alle Umstände, die sie be­stimmen, der Regierung oder irgendjemandem sonst bekannt sein können.“ Hayek (1981a), S. 15, siehe auch Hayek (1981a), S. 23 – 28.

[27]           Vgl. Henkel (1996), S. 217.

[28]           Vgl. Henkel (1996), S. 217 – 218, der dort mehrere Textstellen von Hayek als Beleg zitiert.

[29]           Hayek (1983), S. 169.

[30]           Vgl. Hayek (1983), S. 169. An anderer Stelle schreibt Hayek mit Blick auf die Notwendigkeit allgemei­ner Re­geln: „Der Bereich der Handlungen, in dem jeder gegen Eingriffe anderer geschützt wird, kann durch gleicher­maßen auf alle anwendbare Regeln nur dann bestimmt werden, wenn diese Regeln es er­möglichen festzustellen, über welche bestimmten Gegenstände jeder für seine Zwecke verfügen darf. Mit anderen Worten, es sind Regeln erforderlich, die es möglich machen, in jedem Augenblick die Grenze des geschützten Bereichs jedes Einzelnen festzustellen und auf diese Weise zwischen dem meum und dem tuum zu unterscheiden.“ Hayek (1980), S. 148.

[31]           Vgl. Hayek (1983), S. 170.

[32]           Notabene: Wenn im folgenden Kants Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft gegen Rousseaus Diktum „daß die Früchte allen gehören, der Boden aber niemandem“ in Stellung gebracht wird, so ist zu beach­ten, daß der alte Wirrkopf Rousseau von seinem harschen Urteil aus seiner „Abhandlung über den Ur­sprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ abweicht, um in seinem „Gesell­schaftsvertrag“ ein Eigentumsrecht zu vertreten, das auf dem ersten Blick an Lockes Arbeitseigentum zu erinnern scheint, aber letztlich doch gänzlich zur Disposition eines Souveräns steht, der bei Rousseau weder durch Naturrechtsprinzipien, den Willen Gottes, individuelle Grundrechte oder durch selbstgege­bene Gesetze beschränkt ist. Vgl. hierzu Kersting (2002), S. 136 – 139. Obwohl Rousseau vom selben Freiheitsbegriff wie Kant (und später Hayek) ausgeht, gibt es bedeutende Unter­schiede zwischen Kant und Rousseau, die meines Erachtens deshalb bestehen, weil Rousseau sich nicht fundiert mit den Gren­zen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit beschäftigt hat. Auf die Gemeinsamkei­ten und Unterschiede zwischen Rousseau und Kant, insbesondere auf den nicht leicht zu erkennenden Unterschied zwischen der volonté générale Rousseaus und dem a priori vereinigten Willen Kants sowie dem Unterschied zwi­schen Rousseaus Republik des Guten und Kants Republik des Rechts kann hier nicht eingegangen wer­den. Siehe aber Kersting (2002), S. 117 f. und insb. Cassirer (1939/1991).

[33]           Vgl. Kant (1797/1983), AB 44, S. 345.

[34]           Das innere Mein und Dein oder das angeborene Recht darf unter keinen Umständen mit dem Begriff der inneren Freiheit (Willensfreiheit) verwechselt werden. Auch das angeborene Recht bezieht sich – wie al­les Recht – auf die äußere Freiheit (Handlungsfreiheit). Der Zusammenhang zwischen innerer und äuße­rer Freiheit kann hier nicht erläutert werden. Wichtig ist jedoch, daß bei Kant die äußere (rechtliche) Freiheit durch die innere (sittliche) Freiheit fundiert wird; vgl. Krings (1986), Sp. 701. Zum Verhältnis von Recht und Moral bei Kant siehe Ebeling (1990) sowie Kersting (1993), S. 175 f.; Höffe (2001), S. 105 f.; Höffe (1995), S. 16 – 18.

[35]           Kant (1797/1983), AB 45, S.345.

[36]           Vgl. Höffe (1996), S. 219 – 220.

[37]           Siehe auch Kühl (1984), S. 130 – 131.

[38]           Vgl. Kant (1797/1983), AB 55, S. 353.

[39]           Vgl. Kant (1797/1983), AB 56, S. 354.

[40]           Vgl. Kant (1797/1983), AB 57, S. 354.

[41]           Kant (1797/1983), AB 57, S. 354.

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