In einer Zeit, in der der Staat als Pandemiebekämpfer und damit als Garant der öffentlichen Gesundheit auftritt, fühlen sich Liberale unwohl. Denn die im Gefolge der entsprechenden Schritte erfolgte Ausweitung der Staatsmacht, insbesondere ihrer Möglichkeiten, die Ausübung fundamentaler Freiheiten einzuschränken, sind aus liberaler Sicht besorgniserregend. Dieses Unwohlsein artikuliert sich gegenwärtig ganz besonders im Vorfeld der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz in der Schweiz.
Der klassische Liberalismus war nie „anarchistischer“ Natur und deshalb auch nie einfach Advokat der individuellen Freiheit allein. Denn er vertrat nicht die Meinung, diese Freiheit sei schon von allein oder aus sich selbst heraus ein politisches Gut.
Während viele Liberale zwar besorgt sind und deshalb dafür plädieren, solche Maßnahmen so schnell wie möglich zu beenden, argumentieren andere – radikaler –, diese Politik verstoße schon als solche gegen die Prinzipien des Liberalismus und sei schon immer illegitim gewesen, weil sie die individuelle Freiheit einschränke. Ob man aus der Zurückweisung dieser tendenziell „anarchistischen“ Position allerdings eine Abstimmungsempfehlung irgendwelcher Art ableiten kann, sei offengelassen. Ich beschränke mich auf grundsätzliche Überlegungen.
Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit – im Dienste der Freiheit
Der klassische Liberalismus war nie „anarchistischer“ Natur und deshalb auch nie einfach Advokat der individuellen Freiheit allein. Denn er vertrat nicht die Meinung, diese Freiheit sei schon von allein oder aus sich selbst heraus ein politisches Gut. Vielmehr, so die klassisch liberale Position, habe der Staat nicht nur die Freiheit des Individuums zu schützen, sondern im Interesse der Freiheit auch für öffentliche Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit (im Sinne der Rechtsgleichheit) zu sorgen. Während sich individuelle Freiheit aus der Natur der menschlichen Person ergibt und einfach „da ist“, deshalb aber auch verletzt und unterdrückt werden kann, ist Freiheit als die Freiheit eines jeden innerhalb der Gesamtheit der in einem Gemeinwesen zusammenlebenden Bürger nie „einfach schon da“, sie muss rechtlich geschaffen, garantiert, gesichert werden. Und genau darin bzw. in den politisch-rechtlichen Institutionen, die Freiheitssicherung ermöglichen, besteht das „Gemeinwohl“ eines freiheitlichen, demokratischen Verfassungsstaates.
Das korrespondiert mit einer älteren Auffassung des Gemeinwohls, die man etwa bei Thomas von Aquin finden kann. Er spricht vom „Bonum commune iustitiae et pacis“ – dem „Gemeinwohl der Gerechtigkeit und des Friedens“. Der Staat ist demnach, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde schrieb, keine Ordnung der Wahrheit und der Tugend, sondern eine Friedens- und Gerechtigkeitsordnung. Nur so kann der Staat auch eine Ordnung der Freiheit sein. Und genau auf dieser Grundlage lassen sich auch die Zuständigkeiten eines liberalen Staates begründen.
Von Hobbes über Locke und Montesquieu zu Mises und Hayek
Das Thema findet sich in der modernen Form zum ersten Mal bei Thomas Hobbes. Doch löste er das Problem falsch, nämlich auf Kosten der Freiheit. Hobbes versäumte es, die institutionellen Bedingungen der Freiheitssicherung zu reflektieren, Sicherheit und Frieden hatten für ihn absoluten Vorrang, ihr Garantieren erlaubt dem „Souverän“ – dem Staat – schlicht alles. Auch wenn dies gemäß Hobbes dem Ziel dient, dem Bürger die freie Ausübung seiner Geschäfte und das Genießen der Früchte seiner Arbeit zu ermöglichen, bleibt dies eine höchst gefährliche Einseitigkeit.
John Locke löste das Problem besser, zugunsten der Freiheit. Damit wurde er zum Gründervater des modernen politischen Liberalismus. Doch auch hier gibt es Lücken. Denn Locke wurde mit seiner politischen Philosophie zum Anwalt der absoluten Souveränität des Parlamentes, er wurde in England zumindest so gelesen. So konnte das Parlament am Anfang des 19. Jahrhunderts zeitweise sogar die Außerkraftsetzung des Habeas corpus-Rechtes – keine Verhaftung ohne richterliches Mandat – verfügen, also die Grundlage aller Freiheitsrechte suspendieren. In den USA hingegen wurde, so Martin Kriele, Locke durch die Brille von Montesquieu gelesen und damit zum Theoretiker der Gewaltenteilung und der Rechtssicherheit und insofern auch der liberalen Freiheitsrechte. Doch gerade für Montesquieu gilt: Sicherheit ist Bedingung der Freiheit, sie vergrößert die Freiheit, keine Freiheit ohne jene Sicherheit, die erst die Gesetze ermöglichen.
Eine Ordnung des Friedens, der Sicherheit und der Gerechtigkeit (Rechtsgleichheit) sichert die Abwesenheit von Zwang und insofern sie diese sichert vergrößert sie auch die Freiheit des Einzelnen.
Genau deshalb argumentieren liberale Denker des 20. Jahrhunderts wie Friedrich August von Hayek auf klassisch-liberale Weise. Denn sie sehen, dass sich politische Freiheit nicht aus sich selbst begründen kann. Freiheit ist für Hayek die Abwesenheit von äußerem Zwang. Eine Ordnung des Friedens, der Sicherheit und der Gerechtigkeit (Rechtsgleichheit) sichert gerade diese Abwesenheit von Zwang und insofern sie diese sichert, garantiert sie, ja vergrößert sie auch die Freiheit des Einzelnen. Auch Ludwig von Mises spricht sich gegen jegliche anarchistische Auslegung des Liberalismus aus: Der Staat, so schreibt er, ist nicht nur ein „notwendiges Übel“, sondern ein Gut, und zwar genau insofern er die Bedingungen für Freiheit sichert. Anarchismus betrachtete Mises als die allergrößte und gefährlichste politische Verirrung – er war in seinen Augen noch gefährlicher als Sozialismus.
Institutionelle Garantien für die Freiheit – auch die Wirtschaftsfreiheit
Frieden und Sicherheit sind nicht Selbstzweck, sie stehen im Dienste der freien Entfaltung des Individuums und der frei gewählten Formen der Kooperation zwischen Individuen, deren grundlegendste der Markt ist. Es gibt aber, neben der etatistischen, linken, auch eine anarchistische Version des Liberalismus – „Libertarianism“ –, die sich aus den USA kommend, gerade mächtig regt. Sie sieht politische und wirtschaftliche Freiheit als sich selbst sichernde Prinzipien an. Das ist aber aller historischer Erfahrung nach eine Illusion – und genau dagegen haben auch Liberale wie Hayek und Mises argumentiert. Freiheit, auch wirtschaftliche Freiheit, bedarf institutioneller Garantien, die durch ein staatliches Monopol legitimer Gewalt abgesichert werden – auch wenn das gefährlich ist, Missbrauch offensteht und diese Gewalt deshalb durch verfassungsmäßige Kontrollen, individuelle Freiheitsrechte und Gewaltenteilung in die Schranken gewiesen werden muss.
Staatlicher Zwang ist immer rechtfertigungsbedürftig, die individuelle Freiheit ist es nicht.
Staatlicher Zwang ist immer rechtfertigungsbedürftig, die individuelle Freiheit ist es nicht. Sie ist es zwar moralisch, denn Freiheit kann missbraucht werden. Nicht alles, was aus Freiheit getan wird, ist, nur weil es der Freiheit entstammt, auch schon gut. Deshalb ist auch alles freie Handeln ethisch hinterfragbar und normierbar. Politisch-rechtlich jedoch ist individuelle Freiheit weder begründungsbedürftig noch ethisch zu normieren. Politisch wird sie nur dann (auch ethisch) illegitim, wenn sie die gleiche Freiheit anderer zu beschränken oder gar aufzuheben beginnt – dann verstößt sie gegen das „Gemeinwohl der Sicherheit und des Friedens“. Insofern ist ein liberaler Staat eine rechtlich geordnete Koexistenz gleicher Freiheiten (im Sinne Kants). Politisch-rechtliche Ordnung und Moral der persönlichen Lebensführung sind demnach verschiedene Ebenen, die nicht vermischt werden dürfen.
Auch im Wirtschaftlichen können – aus liberaler Sicht – staatliche Maßnahme nur gerechtfertigt werden, insofern sie die Freiheit sichern und vergrößern, indem sie also freie Marktwirtschaft und freien Wettbewerb ermöglichen. Wobei sich Liberale nicht immer darüber einig ist, wann freie Marktwirtschaft und freier Wettbewerb wirklich bestehen und wie weit ein staatliches Regelwerk einzugreifen hat. Insbesondere die auf politischen Druck hin betriebene allmähliche inflationäre Zerstörung unseres Geldes, ja die zunehmende Abhängigkeit der Geldpolitik der Zentralbanken von fiskalpolitischen Zielen und der Notwendigkeit, die Staaten vor Überschuldung zu retten, führt viele Liberale heute zum falschen Schluss, der Staat sei grundsätzlich schädlich. Genau das macht heutige intellektuelle Nachfahren von Mises und Hayek anfällig für anarchistisches Denken.
Pandemiebekämpfung – eine klassische Staatsaufgabe
Der liberale Rückfall in den Anarchismus – d.h. den Traum einer reinen Privatrechtsgesellschaft ohne staatliches Gewaltmonopol – kann dann plötzlich Mode werden. So zeigt es sich auch in der Ablehnung staatlicher Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Doch handelt es sich bei solchen Maßnahmen gerade aus liberaler Sicht um eine klassische Staatsaufgabe: Es geht letztlich um die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und damit des Gemeinwohls. Nicht das Wohl des Einzelnen ist das Ziel, sondern Schutz der Ordnung des Zusammenlebens freier Bürger. Pandemieeindämmungspolitik ist nicht illiberaler Paternalismus, sondern eine Politik der Sicherung des Funktionierens grundlegender Institutionen der Freiheitssicherung und gesellschaftlicher, auch marktwirtschaftlicher Kooperation als Ganzer. Nur so kann sie aus liberaler Warte auch gerechtfertigt werden.
Entsprechende Maßnahmen müssen natürlich dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, situationsgerecht und möglichst dezentral bzw. subsidiär erfolgen. Und hier sind viele Zweifel angebracht. Vorübergehende Einschränkungen von Grundfreiheiten oder Erschwerung ihrer Ausübung können aber aus liberale Sicht niemals grundsätzlich als illegitim angesehen werden. Es sei denn, man lasse sich vom ideologischen Virus des Anarchismus, von einem letztlich unpolitischen Kult der „reinen“ individuellen Freiheit und entsprechender, mit moralischem Pathos gesättigter Staatsfeindlichkeit befallen. Weil dabei die Ebenen des Politisch-Rechtlichen und des individuell Ethischen unzulässig vermischt werden, lässt sich das liberal aber kaum begründen.
Dieser Artikel ist mit geringfügigen Kürzungen zunächst unter dem Titel „Freiheit allein ist noch kein Gut“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 9. November 2021, S. 31 erschienen. Online in nzz.ch