Der Liberale ist kein Relativist, sondern ringt mit der Wahrheit

Liberale definieren sich heutzutage gerne als Skeptiker oder Relativisten und sind jeglicher Verabsolutierung von Werten oder Prinzipien abhold. Sie halten solche, die von «absoluten Wahrheiten» überzeugt sind, für dogmatisch und intolerant und bezeichnen ihr skeptisch-relativistisches Credo als Grundlage eines liberalen Staats- und Gesellschaftsverständnisses.

Natürlich sind auch sie felsenfest davon überzeugt, dass zwei plus zwei vier und nicht fünf ist. Ebenso sind sie überzeugt, dass in der Wissenschaft die Wahrheit nicht der Mehrheit folgt, sondern umgekehrt die Mehrheit der Wahrheit. Dennoch behaupten sie immer wieder, wer an «absolute Wahrheiten» glaube oder für seine Ansichten irgendwelche Objektivität beanspruche und nicht alles nur für eine subjektive Meinung, provisorisches und damit bloß vermeintliches Wissen halte, sei im besten Falle intolerant, im schlimmsten aber gefährlich.

Mit seinem Kampf gegen Wahrheit befindet sich der Liberale jedoch auf der falschen Fährte. Mussolini hatte erklärt, er sei Relativist und glaube an keine «objektive und ewige Wahrheit», alle Ideologien seien von gleichem Wert – deshalb habe er das Recht, anderen seine Ideologie aufzuzwingen. In der Tat: Wem nichts wahr und heilig ist, ja wer das Wahrhalten von irgendetwas geradezu als Verirrung betrachtet, der darf für sich auch das Recht beanspruchen, den anderen «seine Wahrheit» aufzuoktroyieren.

Toleranz und Zwang  – und die Intoleranz der Relativisten

Tolerant ist jedoch – recht bedacht – nicht, wer alles für ungewiss und jeglichen Wahrheitsanspruch für überzogen hält und deshalb für die Gleichwertigkeit aller Meinungen plädiert. Diese Gleichgültigkeit ist eine denkbar schlechte ­Voraussetzung für Toleranz als Tugend. Das zeigt sich daran, dass Leute, deren Toleranz auf dem Dogma der Wahrheitsindifferenz aller Meinungen beruht, sich durch besondere Aggressivität gegenüber allem auszeichnen, was sie als «nicht liberal» betrachten. Weil sie sich selbst den Heiligenschein der Toleranz aufgesetzt haben, meinen sie, sich für ihre gute Sache jede Beleidigung und jeden anklägerischen Rundumschlag erlauben zu dürfen.

Die Agitation gegen Wahrheit ist nichts als kaschierte Intoleranz. Sie kann sich zwar zu Recht auf historische Erfahrungen mit religiöser Intoleranz und Fanatismus berufen, tut dies aber in einseitiger und parteilicher Weise. Liberal und tolerant ist nicht, wer andere Meinungen deshalb duldet («tolerare» gleich dulden), weil er denkt, dass es nichts objektiv Wahres oder Richtiges gibt und sich dabei zudem in überlegener Position wähnt. Liberal und tolerant ist gerade, wer selbst von einer Wahrheit überzeugt ist, aber in Respektierung der Freiheit des anderen diesem seine Wahrheit nicht aufzwingt – schon gar nicht mit dem Zwang der Staatsgewalt.

Das heißt nicht, jeder solle mit seiner Privatmeinung für sich leben. Es geht mitnichten nur um Leben und Lebenlassen. Gerade weil der Liberale Überzeugungen hat und um Wahrheit ringt, will er auch andere überzeugen. Auch er darf Gesinnungstäter und Missionar ­seiner Ideen sein. Jene Toleranz, die auch eine politisch liberale Haltung begründet, entspringt nicht der Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheit, sondern der Achtung der Freiheit der Andersdenkenden. Nur für den Wahrheitsliebenden und Überzeugten ist Toleranz überhaupt möglich. Denn Toleranz und Liberalität schützen nicht Meinungen und Überzeugungen, sondern die Personen, die sie vertreten, und ihre Freiheit, sie zu vertreten, auch wenn man ihre Überzeugungen für falsch hält.

Politischer Liberalismus ist die institutionelle, verfassungsrechtliche Verankerung des Primats der Freiheit über die Wahrheit. Über die Wahrheit selbst, ihre Existenz oder Erkennbarkeit, sagt er nichts aus. Ein Liberaler kann Agnostiker sein oder an religiöse Dogmen glauben. Die Prinzipien des Liberalismus verwehren es ihm aber, das eine oder das andere mit den Zwangsmitteln des Staates seinen Mitbürgern aufzuzwingen.

Doch gerade, wenn es um den Wahrheitsanspruch von Religionen geht, ertönt bei vielen Liberalen die Alarmsirene. Sie wurde längst auch schon im kirchlichen Raum vernommen, und durch vermeintliche Modernitätsdefizite traumatisierte Theologen haben sich dadurch einschüchtern lassen. Schon seit weit über einem Jahrhundert gibt es, als Reaktion auf fundamentalistische Bibelexegese, den «liberalen Protestantismus», und mit Jahrhundertverspätung sprechen wir nun auch von «liberalen Katholiken», die bestrebt sind, die Kirche zu «demokratisieren» und in dogmatischer Hinsicht zu pluralisieren.

Man kann das als Reaktion auf historische Versuche christlicher Kirchen werten, der menschlichen Gesellschaft die Wahrheit ihrer Heilslehre überzustülpen und ihre Lehre sichernde politische Strukturen zu schaffen. Das gab es in katholischen, lutherischen und zwinglianischen Varianten, am schlimmsten trieben es die Calvinisten.

Die von konkurrierenden religiösen Wahrheitsansprüchen angetriebenen konfessionellen Bürgerkriege der frühen Neuzeit riefen deshalb nach einer politischen Lösung. Der neuzeitliche säkulare Staat entstand nicht als liberaler, sondern als absoluter, konfessioneller Staat, der dem Frieden zuliebe, also aus politischen und also säkularen Gründen, das religiöse Bekenntnis des Herrschers zur Staatsdoktrin erhob – wem das nicht passte, der musste auswandern.

Die Wurzeln des Liberalismus und ihre Reaktivierung durch die Aufklärung

Der Liberalismus hat sich als Reaktion gegen den konfessionellen, absolutistischen Fürstenstaat der Neuzeit entwickelt – nicht aber als Abkehr vom Mittelalter. Von diesem hatte sich die Geschichte schon längst verabschiedet. Es war in mancher Hinsicht besser gewesen, als sein infolge der Polemik der Renaissance geschädigter Ruf vermuten lässt.

Das «Mittelalter», seit dem 11. Jahrhundert die Keimzelle des modernen Europa, erneuerte die Ideen der politischen Herrschaft als Mischverfassung, des Regierens aufgrund von Gesetzen und innerhalb der Grenzen des Naturrechts, der Volkswahl der Regierenden und ihrer Verantwortlichkeit gegenüber den Regierten sowie einer Gesetzgebung, die nicht um das Seelenheil besorgt ist, sondern sich auf das für bürgerliches Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit Notwendige beschränkt. Gerade solche Vorstellungen des Hochmittelalters waren es, die im Zeitalter der Aufklärung reaktiviert wurden, was geschichtsblinde liberale Narrative bis heute beharrlich ignorieren.

Ein liberales Herz müsste hier höherschlagen. Denn für Liberale ist wesentlich, dass der Staat uns nicht vorschreibt, wie wir glücklich werden sollen, sondern nur, was für das Zusammenleben in Freiheit und Gerechtigkeit nötig ist. Gerade weil der Staat nicht alles, was unmoralisch ist, verbietet, sondern nur, was der Wahrung individueller Freiheit und dem bürgerlichen Zusammenleben entgegensteht, beruht er auf Grenzen, die insofern absolut sind, als sie Rechte schützen.

Im liberalen Verständnis sind Rechte des Individuums nicht Ansprüche auf staatliche Leistungen, sondern definieren Grenzen für staatliche Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen. Weil Grenzen der Charakter des Absoluten eigen ist, sind Rechte relativistisch nicht begründbar. Ein liberales Staatswesen will das Zusammenleben von Menschen verschiedener Wahrheitsüberzeugungen in rechtlich anerkannter Freiheit ermöglichen. Insbesondere will es Religionsfreiheit garantieren und jedem Menschen den Raum schaffen, den Gang seines Lebens selbst bestimmen zu können.

«Freiheit ist nicht ein Mittel für ein höheres politisches Ziel. Sie ist selbst das höchste politische Ziel», erklärte deshalb im Jahre 1877 der katholische Liberale Lord Acton in seiner «Geschichte der Freiheit». Die Freiheit sei die Sicherheit eines jeden, tun zu können, was er für richtig halte, ohne von irgendwelchen Autoritäten, der Mehrheit, von Sitten und Bräuchen oder durch die Meinung anderer daran gehindert zu werden. Staatliche Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen, so Lord Acton, sind nur gerechtfertigt, wenn sie im Dienst der Ermöglichung der Freiheit aller stehen.

Freiheit und Würde des Menschen

Eine politische Kultur der Toleranz ist nicht eine Kultur des Relativismus oder der Gleichgültigkeit. Liberale des 19. Jahrhunderts begründeten die Religions-, Gewissens und Kultusfreiheit oft mit dem Argument, es gebe keine religiöse Wahrheit, sie sei zumindest nicht erkennbar. Das war ein Denkfehler, dem im 19. Jahrhundert, mit umgekehrtem Vorzeichen, auch die kirchlichen Gegner der Religionsfreiheit erlagen: Aus ihrer Überzeugung, eine absolute religiöse Wahrheit existiere, schlossen sie, diese müsse vom Staat anerkannt und privilegiert werden.

Religionsfreiheit hängt jedoch nicht davon ab, ob es eine religiöse Wahrheit gibt und ob sie erkennbar ist; das Recht auf Religionsfreiheit gründet vielmehr in der nicht relativierbaren Würde der Person und ihrer Freiheit, die der liberale Staat anerkennt und garantiert. Diese politische Ebene der Freiheitssicherung ist von der metaphysisch-epistemischen Ebene der Wahrheitsfrage zu differenzieren. Zu solchen Differenzierungen sind viele Liberale leider heute nicht fähig. Sie bleiben vielmehr alten Vorurteilen und Denkschemata verhaftet.

Prominente katholische Liberale des 19. Jahrhunderts wie Charles de Montalembert, der sich für die kirchliche Anerkennung der Religionsfreiheit einsetzte, und Lord Acton waren hingegen ihrer Zeit voraus. Heute haben sich sowohl die Zeiten wie auch die Kirche geändert. Einem deutschen Kardinal und obersten kirchlichen Glaubenshüter, der wenig später Papst wurde, erklärte ich vor Jahren: «Eminenz, ich bin kein liberaler Katholik, sondern ein katholischer Liberaler.» Der Kardinal, jetzt Papa emeritus, erwiderte: «Das gefällt mir!»

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der der Neuen Zürcher Zeitung vom 11.01.2019, Seite 36, sowie online bei nzz.ch

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