«America first» und der neue Unilateralismus: Das Ende einer Fiktion und die Geburt einer neuen Doktrin

Die vergangenen Jahre waren gekennzeichnet durch die Idee, dass es so etwas wie ein übergeordnetes kollektives „Welt-Interesse“ gebe. Man sprach von Weltordnung, gar von Weltethos, und viele gaben vor, dessen Werte zu vertreten. Der letzte US-Präsident wurde zu Beginn seiner ersten Amtszeit mit dem Friedensnobelpreis für seine angeblich dem Höheren, Kollektiven verpflichteten Haltung geehrt. Das Meta-Interesse, quasireligiöses Pendant zur Globalisierung, hatte seinen Zenit erreicht. Seither wird es immer legitimer, Partikular- und am Ende sogar schlichtes Eigeninteresse anzumelden. America first, me first – was denn sonst? Der russische Präsident Putin hatte zwei Jahre zuvor mit der kalten Annektierung der Krim den Anfang zum neuen „Geschäftsmodell“ gesetzt.

Ent-Moralisierung und Entkollektivierung

Nach wie vor als schockierend betrachten viele den Umstand, dass ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat auf die Idee kommen konnte, sein Programm mit „America first!“ zu titulieren. Hinter diesem Entsetzen steht der Glaube, erstens existiere etwas Anderes, Höheres als das jeweilige Eigeninteresse, und zweitens gehöre es zur moralischen Pflicht von Vertretern der größten Nation des aufgeklärten Westens, nicht das Nächstliegende, sondern eben dieses andere, auf ein unbekanntes Kollektiv ausgerichtete Interesse zu repräsentieren. Der Codex ganzer Generationen von Politikern und des hinter ihnen stehenden Apparats von Meinungsmachern lautete bisher so, und sie bezogen aus dieser Ausrichtung auf das übergeordnete Kollektiv auch ihre Legitimation. Immer schwang hinter der Moralisierung auch das Problem der Doppelmoral mit. Was man Barack Obama noch abnehmen mochte, war bei Hillary Clinton definitiv nicht mehr hinnehmbar, selbst und gerade in jenen Kreisen, die sie zu vertreten vorgab. Donald Trump, der moralferne Kandidat, erhielt den Vorrang. Wen keine Moral anficht, der hat auch kein Problem mit der Doppelmoral.

Eigeninteresse versucht sich aus Eigeninteresse mit den Eigeninteressen anderer zu verbinden. So entsteht ultimativ nationales oder sogar die Fiktion eines übergeordneten globalen Interesses. Eigeninteresse und die Berücksichtigung anderer Interessen sind in der realen Welt selbstverständlich. Zur Wahrnehmung von Eigeninteresse gehört nachgerade das Eingehen auf das Interesse anderer, sonst drohen Krieg und Vernichtung. Eigeninteresse ist nicht synonym mit den unter anderem von Donald Trump vertretenen Forderungen nach Abschottung der Märkte oder dem Bau von Mauern und den Kapitalkontrollen nahekommenden Vorstellungen der Repatriierung von Unternehmensgewinnen. Die wohlstandsgenerierenden Konsequenzen des freien Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalaustauschs sind hinlänglich bekannt und unbestritten; sie machen Donald Trumps Art, wie er amerikanisches Eigeninteresse wahrnehmen will, in verschiedener Hinsicht problematisch. Die Ausrichtung auf das Eigeninteresse per se ist es jedoch nicht.

Die Ent-Moralisierung und damit die Entkollektivierung, weg von der angeblich existierenden, übergeordneten „Weltgemeinschaft“ hin zu einer spezifischeren Wahrnehmung des Eigeninteresses, ist ein Prozess, in welchem der neue US-Präsident eine bestimmte Rolle spielt. Er wäre aber ohnehin in Gang gekommen und würde auch ohne ihn vollzogen. Mit dem Aufstieg Chinas geht ja die Rolle der USA als einziger weltumspannender Macht zu Ende. Die Welt muss sich damit abfinden, dass ihre Zukunft von zwei oder mehreren, sich teilweise widerstrebenden Kräften geprägt sein wird. Kräfte, die in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse aber stets auch wieder den Ausgleich werden finden müssen. Dieser Ausgleich kann als Fortsetzung der Globalisierung gesehen werden.

Sicherheitspolitischer Doktrinwechsel

Interessant: Von der Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt hat sich im Rahmen dieses Prozesses die Bedeutung des Uno-Sicherheitsrates stark vermindert. Die Wahrnehmung sicherheitspolitischer Interessen findet neuerdings unilateral statt, ohne dass dieses schwer zu einende Gremium konsultiert worden wäre – früher war dies völlig undenkbar! Der Sicherheitsrat nimmt heute bestimmte Entwicklungen höchstens noch post festum mehr oder weniger zähneknirschend zur Kenntnis. Von einer lenkenden Rolle zur Findung eines Ausgleichs kann keine Rede mehr sein. Die Entkollektivierung ist in vollem Gange. Andere, den neuen Gegebenheiten angepasste institutionelle Arrangements zur Erlangung des Ausgleichs auf übernationaler Ebene sind noch nicht sichtbar, geschweige denn etabliert. Die bilateralen präsidialen Konsultationen – Trump telefoniert mit Xi Jinping, Putin mit Erdogan, Merkel mit Putin – sind auf die Länge wohl nicht hinreichend und anfällig für ungewollte Unfälle. Die bi- oder multipolare Welt wird eine modifizierte Sicherheitsarchitektur brauchen, die erst noch erdacht und gebaut werden muss.

Es macht den Anschein, als ob die USA einen sicherheitspolitischen Doktrinwechsel in Richtung eines weltumspannenden punktuellen militärischen Vollzugs vornehmen würden. Also weg von den massiven, immer noch mit vielen Truppen verbundenen Einsätzen wie in Afghanistan oder im Irak hin zu einer durch Überraschung und potentielle Ubiquität gekennzeichneten Doktrin: egal, wann und wo, aber wirksam im Ziel, weil präzis aufgeklärt. Wirksam in der Öffentlichkeit. Erschreckend und einschüchternd für die einen, bestärkend und wohlig fern vom eigenen Territorium für die anderen. Bis zu einem gewissen Grad also ziemlich asymmetrisch. Vom Gegner zu lernen, das war seit je Teil der Kriegskunst. Dass die Vorgehensweise des Terrorismus und die moderne Waffentechnik in Form von Satelliten, Cyberwaffen, Drohnen und Missiles sich einmal vereinen könnten, war nicht einfach vorauszusehen, entspricht aber der Logik des Konsolidierungsprozesses, in dem sich die USA als bisher einzige Weltmacht befinden.

Überraschung und potentielle Ubiquität sind als neue Doktrin einer Weltmacht auf unilaterale Interessenswahrnehmung angewiesen. Das Muster, wie das künftig vor sich gehen könnte, lieferten die Zerstörung des syrischen Luftwaffenstützpunktes am 7. März dieses Jahres sowie der Abwurf der Mega-TNT-Bombe auf einen Taliban-Stützpunkt in Afghanistan in der Folgewoche. Man mag diese Einsätze der Unberechenbarkeit des neuen Präsidenten zuordnen, für mich waren es Versuche, die neue Doktrin zu erproben. Zudem ist der Doktrinwechsel hin zu überraschender und ubiquitärer Interessenswahrnehmung kein Produkt des neuen Präsidenten, sondern hat in anderen Bereichen bereits seit längerer Zeit Anwendung gefunden. Dass der amerikanische Justizapparat sozusagen überall und durchaus überraschend wirksam werden kann, davon können schweizerische Bankiers oder deutsche Automobilhersteller ein Liedlein singen. Dass einer der 16 amerikanischen Geheimdienste in unseren Rechnern und Clouds herumwühlt, ist allgemein akzeptierter, dringender Verdacht. Ubiquität ist in diesem Sinne wörtlich zu verstehen.

Checks and Balances

Trump als Teil einer Zeitwende, als Vollzugsperson eines Prozesses, der ohnehin und ohne ihn auch irgendwie stattfinden würde: Seine Neigung zu exzentrischen Handlungen und Entscheiden und die ihm nachgesagte Beratungsresistenz ist der Hinwendung des Zeitgeistes zu mehr Partikularinteresse selbstverständlich förderlich. Am besten tritt das in der für politische Belange ziemlich neuen Kommunikationsmethode mittels Twitter zutage. Die Medien, Vermittler zwischen den Inhabern der Macht und dem großen Publikum, mithin aus dem Kollektiv schöpfende gesellschaftliche Kräfte, werden von Trump systematisch ausgelassen. Er bevorzugt den unilateralen, direkten, „populistischen“ Kontakt zur breiten Masse. Die moderne Technik macht’s möglich – es braucht Zeitung oder Fernsehen nicht mehr, um präsidiale Worte ins Publikum zu bringen. Und damit wird den Medien auch die Möglichkeit genommen, interpretierend und meinungsmachend, angeblich zugunsten des Kollektivs, einzugreifen. Ebenso sind alle den Medien nahestehenden Kräfte aus- oder zumindest nachgeschaltet: Politikwissenschaftler, Kommentatoren, Analysten – sie alle können erst im Nachhinein reagieren, dann, wenn der nächste und der übernächste präsidiale Tweet schon platziert ist.

Präsident Trump wird insofern als großer Ankündiger in die Geschichte eingehen. Der Vollzug scheint nicht seine Sache zu sein. Überall dort, wo im System selbst aus Gründen des Machtausgleichs Sollbruchstellen und Sicherungsbolzen eingebaut sind, entweder zugunsten der Justiz oder zugunsten des Parlaments, ist in diesen ersten hundert Tagen Trump recht wenig geschehen. Einzig die Ernennung des neuen Bundesrichters Neil Gorsuch durch den Senat kann als Überzeugungserfolg angesehen werden. Für die Republikaner stand allerdings auch sehr viel auf dem Spiel, nicht zuletzt die eigene Glaubwürdigkeit.

Was kann man nach hundert Tagen populistischen Tweet-Präsidiums sagen? Es macht einen demokratischen Rechtsstaat aus, dass Tweet und Dekret als Form unilateraler Kommunikation eines Machthabers nicht durchzudringen vermögen. Der Ausgleich ist im demokratischen Rechtsstaat institutionalisiert und fein austariert. Insgesamt ist es faszinierend zu beobachten, wie resistent sich ein bewährtes System gegenüber einzelnen, exzentrischen Persönlichkeiten erweisen kann. So scheiterte Trump bisher mit seiner Einreisesperre gegenüber einigen muslimischen Staaten am Widerstand einzelner Richter. Man stelle sich einmal eine analoge Situation in Russland oder China vor! Aber auch das Parlament pfiff ihn zurück. Es zeugt von einem gesunden parlamentarischen Geist, wenn über die Parteigrenzen hinweg unausgegorenen präsidialen Vorlagen ein vorzeitiges Ende bereitet wird. Der erste Anlauf zur Aufhebung von „Obamacare“ war bestimmt unsorgfältig vorbereitet und vorschnell lanciert. Dass dasselbe Parlament dann (vorderhand) grünes Licht gibt für eine sehr tiefgreifende Steuerreform, wirft ebenfalls ein günstiges Licht auf das Funktionieren der Institutionen. Ob die nicht ganz ungefährliche Entsendung eines Flugzeugträgers in Richtung Nordkorea am Widerstand der Streitkräfte oder des Verteidigungsministers scheiterte, ist vorderhand noch ungewiss. Für ein „Missverständnis“ besteht in diesem Bereich bekanntlich wenig Spielraum…

Grenzen des Unilateralismus

Hundert Tage Unilateralismus: Er hat nicht funktioniert. Auch ein so eigenmächtig erscheinender Mensch wie der neue amerikanische Präsident stößt, Twitter hin oder her, an die institutionellen Grenzen einer Verfassung, welche die Gründerväter mit fundierten Kenntnissen von Montesquieus „L’ésprit des lois“ gesetzt hatten. Macht gehört verteilt und darf in ihrer Anwendung nicht situativen Stimmungen unterliegen. Wenn „Gemeinschaft“ mehr als eine Fiktion sein soll, dann muss der Ausgleich von Macht und Interessen durchsetzbaren Regeln unterliegen. Nur so kann Macht gebändigt und ihre Ausübung einigermaßen voraussehbar gestaltet werden. Ob man die USA liebt oder nicht – die ersten hundert Tage Trump haben solchermaßen definierte Stabilität bewiesen. Oder anders gesagt: Ja, es gibt einen Zeitgeist in Richtung von mehr und deutlicher, in extremis unilateral geäußerter Interessenswahrnehmung. Aber es gibt dort, wo die Macht zur Bedrohung des Bürgers werden könnte, zum Glück auch Hinterlassenschaften der Aufklärung, die nach wie vor Gültigkeit haben und offensichtlich funktionieren. Montesquieu brauchte nie ein „übergeordnetes Interesse“ zu bemühen, um die Zähmung der Macht zu begründen. Er rechnete mit Eigeninteresse und der Möglichkeit des Machtmissbrauchs und formulierte die Regeln des Umgangs damit.

Wer das regierende Personal in den Vordergrund stellt, dem mag vor der Zukunft grauen. Wem der Bestand der Institutionen wichtiger erscheint, der erhielt in den vergangenen Monaten die Ergebnisse einiger sehr positiv verlaufener Belastungstests. Die relative Sorglosigkeit, mit welcher die Finanzmärkte das schrille Geschehen im politischen Bereich quittieren, kann selbstverständlich auf die nach wie vor ultralockere Geldpolitik zurückgeführt werden. Wir glauben jedoch, das erkläre nicht alles. Vielmehr besteht unseres Erachtens viel Grund zur Annahme, dass die in der Wirtschaft vorherrschende, vorsichtig positive Weltsicht auf gewichtige andere Gründe zurückzuführen ist: einerseits die Einsicht, dass auch eine absehbar explizitere Wahrnehmung (nationaler) Interessen an den Vorzügen der auf Pareto-Optimalität ausgerichteten Handelspraktiken nicht vorbeikommt, andererseits, weil an allen Stellen der Wirtschaft die ungebrochene Kraft des Technologieschubs verspürt wird. Dieser wird alle, wirklich alle Strukturen ergreifen, Institutionen schleifen und dazu führen, dass zwar ein US-Präsident weiterhin seinen Bürgern zuzwitschern kann, dies aber immer weniger Leute wirklich beschäftigen wird – in einer noch flacheren Welt mit noch viel weniger „übergeordneten“ Interessen, als wir es uns derzeit vorzustellen vermögen.

Dies ist ein gekürzter Beitrag aus der bergsicht 25 mit dem Titel „Die Welt entzweit sich“. Mehr Informationen finden Sie auf www.m1ag.ch.

Bildnachweis: fotolia / jpldesigns

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