Die Grenznutzenlehre gilt für einen isolierten Inselbewohner ebenso wie für ein Volk oder eine Gemeinschaft (drei Beispiele)
Die Lehre über den Wert einer Teilquantität eines Gutes trifft für isoliert wirtschaftende Subjekte ebenso zu, wie für eine von der Gesellschaft abgeschottete Menschenmenge, wie auch für Gesellschaften als Ganze. Das sollenden die folgenden konkreten Beispiele demonstrieren.
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Robinson Crusoe und eine einzige Süßwasserquelle
Robinson Crusoe verfügt auf seiner Insel über eine einzige Quelle zur Deckung seines gesamten Süßwasserbedarfs. Ein Maß Wasser benötigt er zur Erhaltung seines Lebens, 19 weitere zur Erhaltung jener Tiere, mit deren Milch und Fleisch er seinen notdürftigsten Lebensunterhalt sichert. Weitere 40 Maß braucht er für seine Gesundheit, sowie zum Sich-Waschen, zum Reinigen seiner Kleider und Geräte, und zur Erhaltung weiterer Tiere. Schließlich benötigt Robinson Crusoe noch 40 Maß Wasser für Genusszwecke, sprich: für seinen Blumengarten und zur Erhaltung weiterer Tiere, damit diese ihm eine noch reichlichere Nahrung oder auch Gesellschaft bieten. Eine weitere Quantität Süßwasser über diese 100 Maß hinaus wüsste er nicht einzusetzen.
Verschiedene Szenarien veranschaulichen, wie sich der Wert einer Teilmenge Süßwasser für Robinson Crusoe ändert: Wenn aus der Quelle täglich Unmengen an Wasser strömen, kann Crusoe bedenkenlos tausende davon in das Meer hinabfließen lassen, da eine Teilmenge Wasser dann weder einen ökonomischen Charakter, noch einen Wert für ihn hat. Von einer Teilmenge hängt die Befriedigung keines seiner Bedürfnisse hängt ab.
Wenn aus der Quelle aufgrund eines Naturereignisses nur mehr 90 Maß Wasser täglich sprudeln, so hätte eine Teilmenge Wasser für den Inselbewohner sehr wohl eine Bedeutung, wenn auch eine geringe. Falls er nun auf weitere 10 Maß verzichten müsste, könnte er zwei relativ unwichtige Genüsse schlechter befriedigen. Er müsste sich entscheiden, ob ihm der Blumengarten oder die Tiere zu seinem Vergnügen wichtiger sind. Sofern aber die Quelle weiter versiegt und nur mehr 40 Maß täglich spendet, so hängt nun von jedem Maß die Erhaltung seiner Gesundheit und seiner dauernden Wohlfahrt ab. Ein Maß weniger bedeutet nicht mehr nur Verzicht auf Genüsse oder Annehmlichkeiten. In Ziffern ausgedrückt: „War der Wert einer Maß Wasser für unseren Robinson anfangs gleich Null, im zweiten Fall z.B. gleich eins, so findet derselbe seinen ziffermäßigen Ausdruck jetzt z.B. bereits in der Zahl sechs.“ Sinkt die Menge täglich gespendeten Wassers durch eine Dürre noch weiter auf 20 Maß, so hätte praktisch jede „noch beachtenswerte Quantität Wasser, über die er zu verfügen vermöchte, für ihn die volle Bedeutung der Erhaltung seines Lebens, somit einen abermals erhöhten Wert“, der mit der Zahl 10 beziffert werden müsste.
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Ein Segelschiff mit nur mehr Zwieback als Vorrat
Ein Schiff ist 20 Tagreisen vom Land entfernt. Durch einen Unfall gehen sämtliche Nahrungsvorräte verloren. Alles, was den Reisenden für die restliche Reise bleibt, ist Zwieback, gerade genug, damit jeder bis zur Ankunft überleben kann. Da jeder zum Überleben ein halbes Pfund Zwieback täglich benötigt, verfügt er jeweils über insgesamt zehn Pfund. Diese Quantität hat „für jeden der Schiffsbewohner die volle Bedeutung der Erhaltung seines Lebens“.
Die Befriedigung aller anderen Bedürfnisse auf dem Schiff wäre vollständig abhängig von der verfügbaren Menge an Zwieback. Keiner tauscht auch nur einen Teil seines Zwiebacks gegen ein anderes Gut, das kein Nahrungsmittel ist. Selbst ein reicher Mann würde vergeblich sein Gold gegen mehr Zwieback zu tauschen versuchen.
Hat jeder Passagier fünf weitere Pfund Zwieback, so hängt von einem einzelnen Pfund nicht mehr sein Leben, wohl aber seine Gesundheit ab. Falls sich schließlich einige tausend Zentner Zwieback auf dem Schiff befinden, so hat ein einzelnes Stück Zwieback überhaupt keine Bedeutung mehr, oder zumindest eine sehr geringe. Das würde nichts daran ändern, dass die Passagiere noch immer Zwieback zum eigenen Überleben konsumieren müssten. Gleichzeitig hätte ein einziges Stück genießbaren Fleisches für sie einen sehr hohen Wert.
Die Bedürfnisse der Passagiere blieben in allen drei Fällen die gleichen, doch aufgrund der sich erhöhenden Menge an Zwieback verringerte sich gleichzeitig der Wert von dessen Teilquantitäten, weil auch die Bedeutung jener Bedürfnisbefriedigungen sinken, die von den konkreten Teilquantitäten an Zwieback abhängen.
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Die Bewohner eines Landes und der Wert ihrer Ernte
Die Teilmenge einer Ernte, über welche die Bewohner eines Landes verfügen, ändert ihren Wert, je nachdem, ob es eine schwere Missernte, eine durchschnittliche Ernte oder eine sehr günstige Ernte ist. Je größer die Gesamtmenge der Ernte, desto geringer ist die Bedeutung jener Bedürfnisbefriedigungen der Bewohner, die von einer Teilmenge abhängen:
Falls nach einer reichen Ernte durch einen Unglücksfall ein Magazin mit 100.000 Metzen Korn verbrennt, wird in der Folge höchstens weniger Alkohol erzeugt, im äußersten Fall kann sich der ärmere Teil der Bevölkerung nicht ganz so vollständig ernähren. Nach einer durchschnittlichen Ernte bedeutet ein solcher Unfall für viele Menschen den Verzicht auf sehr viel wichtigere Bedürfnisbefriedigungen, sollte dieses Unglück hingegen in Zeiten der Hungersnot auftreten, so werden zahlreiche Menschen eines Hungertodes sterben.
Fünf Grundsätze der Grenznutzenlehre
Das bisher über den Wert von Teilquantitäten eines Gutes Gesagte, lässt sich in fünf Grundsätzen zusammenfassen:
- Der Wert eines Gutes ist ein übertragener. Ursprünglich haben für uns nur Bedürfnisbefriedigungen eine Bedeutung. Zur Befriedigung unserer Bedürfnisse müssen wir allerdings über bestimmte Güter verfügen. Wir sind zu unserer Bedürfnisbefriedigung also von ihnen abhängig. Daher übertragen wir die Bedeutungen unserer Bedürfnisbefriedigungen auf jene Güter, bei denen wir uns dieser Abhängigkeit bewusst sind.
- Die einzelnen Bedürfnisbefriedigungen haben eine unterschiedlich hohe Bedeutung für uns. Ihr Maß „liegt in dem Grade ihrer Wichtigkeit für die Aufrechterhaltung unseres Lebens und unserer Wohlfahrt“.
- Aufgrund der unterschiedlich hohen Bedeutung der jeweiligen Bedürfnisbefriedigungen für uns ist auch der von uns auf die Güter übertragene Wert ein unterschiedlicher.
- Die einem wirtschaftenden Individuum verfügbare Gesamtquantität eines Gutes sichert diesem Individuum unterschiedlich hohe Bedürfnisbefriedigungen. Von der Verfügung über eine Teilquantität desselben Gutes hängen die Befriedigungen von der geringsten Bedeutung ab.
- Sofern ein Individuum über eine bestimmte Menge eines Gutes verfügt, ist der Wert einer Teilquantität dieses Gutes gleich der Bedeutung der am wenigsten wichtigen Bedürfnisbefriedigungen, die diese Gütermenge sichert. Wenn diese Teilmenge des Gutes nämlich der Verfügung des Individuums entzogen ist, so sind es genau die am wenigsten wichtigen Bedürfnisse, die das Individuum nun nicht mehr befriedigen kann.
„Wir haben demnach in unseren bisherigen Untersuchungen einerseits die Verschiedenheit des Güterwertes auf ihre letzten Ursachen zurückgeführt, andererseits aber auch das letzte und ursprünglichste Maß gefunden, nach welchem aller Güterwert von den Menschen gemessen wird.“
Das Wasser-Diamanten-Paradoxon ist gelöst
Damit ist auch die Frage geklärt, weshalb ein Pfund Trinkwasser unter gewöhnlichen Umständen gar keinen Wert hat, während ein sehr geringer Bruchteil eines Pfundes Gold oder eines Diamanten in der Regel einen sehr hohen Wert für uns hat:
Unter normalen Lebensumständen sind den Menschen Diamanten und Gold nur in sehr geringen Mengen verfügbar, Trinkwasser dafür im Überfluss. Selbst wenn sie eine Teilquantität Trinkwasser verlieren, würde dennoch kein einziges ihrer Bedürfnisse deshalb nicht mehr befriedigt werden. Bei Gold und Diamanten haben hingegen selbst die geringsten Bedürfnisbefriedigungen, die durch deren verfügbare Gesamtquantität gesichert werden, noch immer eine relativ hohe Bedeutung. „Konkrete Quantitäten von Trinkwasser haben somit für die wirtschaftenden Menschen der Regel nach keinen, solche von Gold oder Diamanten aber einen hohen Wert.“
Anders verhält es sich in der Wüste, „wo von einem Trunke Wasser nicht selten das Leben eines Reisenden abhängt“. Hier können von einem Pfund Wasser tatsächlich wichtigere Bedürfnisbefriedigungen abhängen, als von einem Pfund Gold. Folglich wäre hier auch der Wert eines Pfundes Wassers für ein Individuum größer, als der eines Pfundes Gold.
Kurz-Zusammenfassung:
- Die Lehre über den Wert einer Teilquantität eines Gutes trifft für isoliert wirtschaftende Subjekte ebenso zu, wie für eine abgeschottete Menschenmenge, wie für Gesellschaften als Ganze.
- Die Lehre lässt sich in fünf Grundsätzen zusammenfassen:
- Der Wert eines Gutes ist ein übertragener: Wir übertragen die Bedeutungen unserer Bedürfnisse auf Güter, sobald wir uns bewusst sind, dass die Befriedigung dieser Bedürfnisse von der Verfügung über jene Güter abhängt.
- Die Bedürfnisbefriedigungen haben eine unterschiedlich hohe Bedeutung, von der Erhaltung des Lebens bis hin zu flüchtigen Genüssen.
- Die Höhe eines Güterwertes ist gleich der Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung, die von jenem Gut abhängt.
- Von der Teilquantität einer Gesamtmenge eines Gutes hängen die Befriedigungen der geringsten Bedeutung ab, die uns diese Gesamtquantität sichert.
- Bei einer verfügbaren Gütermenge ist der Wert einer Teilquantität gleich der Bedeutung der am wenigsten wichtigen Bedürfnisbefriedigungen, die diese Gütermenge sichert. Denn diese am wenigsten wichtigen Bedürfnisse kann das Individuum ohne jene Teilquantität nicht mehr befriedigen.
- Das Wasser-Diamanten-Paradoxon ist gelöst: Teilquantitäten von Trinkwasser haben für den Menschen normalerweise keinen Wert, weil Trinkwasser im Überfluss verfügbar ist und somit keine Bedürfnisbefriedigungen von einer Teilquantität abhängig sind. Bei Gold und Diamanten haben hingegen die geringsten gesicherten Bedürfnisbefriedigungen einen sehr hohen Wert, weil die verfügbare Gesamtquantität geringer ist. Anders verhält es sich in der Wüste, „wo von einem Trunke Wasser nicht selten das Leben eines Reisenden abhängt“.
Carl Mengers „Grundsätze“ wurden erstmals 1871 beim Braumüller Verlag veröffentlicht. Später erschienen sie als erster Band von Mengers „Gesammelten Werken“ beim Mohr Siebeck Verlag. Heute ist Mengers Erstlingswerk im Internet frei zugänglich, unter anderem beim Liberty Fund und beim Mises Institute.