Interview von Stefan Beig mit dem bulgarischen Ökonomen und Philosophen Krassen Stanchev (Universität Sofia). Prof. Stanchev sprach auf Einladung des Wiener Hayek Instituts im Rahmen der Free Market Road Show über die neuen Gesichter des Kommunismus. Am Rande der Veranstaltung wurde er exklusiv für das Austrian Institute interviewt. Mehr zur Person am Ende es Interviews.
Austrian Institute: Sie warnen vor einer Rückkehr des Kommunismus. Das klingt etwas übertrieben. Was meinen Sie?
Krassen Stanchev: Ich sehe zurzeit mindestens drei Gesichter des Kommunismus. Das erste ist die Unwissenheit über gescheiterte historische Versuche, den Kommunismus zu etablieren. Nummer zwei ist grün: Es ist die Ignoranz. Anstatt die Menschen und die Industrie sich entsprechend der Nachfrage verhalten zu lassen, was auch im Sinne der Umwelt und Zukunft ist, setzt man auf regulierende Zentralplanung. Nummer drei betrifft die Ungleichheit: Es herrscht der Irrglaube, der Kommunismus habe eine gewisse Gleichheit gebracht. Das Gegenteil ist der Fall. Er brachte immer Ungleichheit und Verarmung.
Zurzeit schüren Politiker Ängste – etwa wegen des Klimawandels und der Armut –, um anschließend dafür gewählt zu werden, diese Probleme zu lösen. Doch die beste Antwort auf Armut und Klimawandel ist mehr Freiheit, mehr Vertrauen der Menschen in sich selbst und ihre eigenen Ressourcen.
Wo geschieht zurzeit kommunistische Politik?
In der EU erleben wir eine Art Regulierungssozialismus bzw. eine regulierende Zentralplanung, für die man die Menschen nicht enteignen muss. Man reguliert stattdessen schlicht unsere Ressourcen.
Zurzeit schüren Politiker Ängste – etwa wegen des Klimawandels und der Armut –, um anschließend dafür gewählt zu werden, diese Probleme zu lösen. Doch die beste Antwort auf Armut und Klimawandel ist mehr Freiheit, mehr Vertrauen der Menschen in sich selbst und ihre eigenen Ressourcen. Alle Statistiken – auch jene der Europäischen Umweltagentur – belegen: Die Umweltverschmutzung wurde von der Ressourcennutzung abgekoppelt. Wirtschaftswachstum und höherer Wohlstand reduzieren schädliche Auswirkungen auf die Umwelt. Ich verfolge das schon seit Jahrzehnten.
Sie sprachen von einem grünen Gesicht des Kommunismus. Sehen Sie eine Schuld bei der grünen Ideologie?
Anfang der 1990er Jahre setzten wir uns auch in Ungarn, Polen und Bulgarien für den Umweltschutz ein. Die ehemals kommunistischen Länder gehörten zu den umweltschädlichsten Volkswirtschaften der Welt. Doch unser Umweltschutz behinderte nicht wirtschaftliche Freiheit und Wirtschaftsreformen. Die Umsetzung war simpel. Ich war in Bulgarien Vorsitzender des Umweltausschusses der Verfassungsversammlung (1990 bis 1991). Wir befolgten das Subsidiaritätsprinzip: Jene sollten über den Umweltschutz entscheiden, die als erste davon betroffen sind. Überdies schufen wir den Zugang zu Informationen, damit alle selbst beurteilen können, was aus ihrer Sicht gut oder schlecht für die Umwelt ist. Und unsere Industrien wurden wir privatisiert. Heute gehören diese Länder gemäß dem Environmental Performance Index der Yale University zu den 40 saubersten Volkswirtschaften der Welt. Der Green Deal der EU ist das exakte Gegenteil: Er ist von oben herab konzipiert und marktfeindlich.
Sollten heutige Entscheidungsträger die Ursachen für das Scheitern des Kommunismus besser verstehen?
Nach 1989 versuchte man jene Personen zu verurteilen, die für das Scheitern des Kommunismus verantwortlich waren. Bulgarien hatte von 1960 bis 1987 drei Zahlungsausfälle erlebt – ein Weltrekord. Vor Gericht erklärten alle Angeklagten unter Berufung auf Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek: Der Kommunismus funktionierte nicht, er hatte keine intakte Koordination und kein Preissystem. Einige hatten sicherlich auch Mises und Hayek gelesen.
Den Hauptgrund für das Scheitern des Kommunismus haben Ihrer Meinung also diese beiden österreichischen Ökonomen genannt: das Problem des Preissystems (Mises) und das Wissensproblem (Hayek)?
Natürlich. Eines der jetzigen Gesichter des Kommunismus ist dieselbe Vortäuschung von Wissen, mit der uns die Politiker einreden, sie würden besser verstehen, was wir erreichen wollen und was dafür zu tun ist. Eine Folge: Die Politiker haben kein Vertrauen mehr in jene, die sie wählen. Das erinnert an den Kommunismus in Russland – und übrigens auch an seine Entstehung, als die Kommunisten dem Wahlgremium und der verfassungsgebenden Versammlung misstrauten, und nach den verlorenen Wahlen im Jahr 1918 alle Konkurrenten töteten. Ähnliches, aber nicht in diesem Ausmaß, geschah in den anderen kommunistischen Ländern.
Das Misstrauen gegenüber den Wählern ist nichts Neues. Es führt zum Überlebensstaat, in dem die Regierung sagt: Wir sind hier, um zu helfen, und wir bitten die Bürger, sich anzustellen, um unsere Hilfe zu erhalten.
Das Misstrauen gegenüber den Wählern ist nichts Neues. Es führt zum Überlebensstaat, in dem die Regierung sagt: Wir sind hier, um zu helfen, und wir bitten die Bürger, sich anzustellen, um unsere Hilfe zu erhalten. Die Politiker erwarten, dass sich die Bürger wie Diener verhalten – und nicht umgekehrt die Politiker wie Diener des Volkes.
Politiker in ex-kommunistischen Ländern beklagen, dass die Jugend nicht mehr das Leben unter dem Kommunismus kennt. Halten Sie das für ein Problem?
Die jungen Menschen lebten nie in einer Situation, die außergewöhnliche Anstrengungen zum Überleben erfordert. Für die jetzige Generation ist alles vorbereitet, um das Leben zu genießen. Ein Grund für ihr Wahlverhalten ist schlicht Langeweile.
Was musste 1989 getan werden, um eine ehemals sozialistische Wirtschaft in eine freie Marktwirtschaft umzuwandeln?
Die Herausforderungen dürften heute für Länder wie Österreich größer sein als damals. Polen, Ungarn, die ehemalige Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien hatten keine andere Wahl, weil sie sehr arm waren und ihren Regierungen die Mittel fehlten, um etwas zu tun. Manche Länder hatten nicht einmal eine Staatskasse und besaßen keine Währung. Sie hatten keine Steuern eingehoben, weil alles nach Moskau floss. Sie mussten also bei null anfangen. In so einer Situation lässt man die Menschen einfach tun und entfacht den menschlichen Einfallsreichtum. So konnten all diese Länder bis 1995 ihren Produktionsrückgang ohne Verarmung der Menschen durchstehen. Danach lebten wir in einer der längsten Wohlstandsperioden der Geschichte. Nach 1996 hatten wir konstantes Wirtschaftswachstum, zwei- bis dreimal höher als bei Ihnen.
Alle postsowjetischen Staaten – auch die baltischen Länder, dann Georgien und kurz vor dem Krieg die Ukraine – haben vorbildlich gute Arbeit geleistet. Sie haben Reformen nach Erhards Vorbild vorangetrieben und damit Freiheit und Wohlstand gefördert.
Heute geht es den Menschen deutlich besser als in den ex-kommunistischen Ländern nach 1989. Zwar erleben wir wachsende Krisen in Europa, die aber bisher mit einem schleichenden Niedergang einhergingen, keinem Zusammenbruch. Erschwert das drastische Reformen?
Der Überraschungseffekt dürfte heute eher von den globalen Herausforderungen kommen als von der Unzufriedenheit der Menschen. In den 1980er Jahren war es diese Unzufriedenheit, die das alte Regime zu Fall brachte und den Eisernen Vorhang niederriss. Heute geht der Druck von wesentlich effektiveren Diktaturen aus wie jener Putins, Xis oder Kim Jong-uns – man denke nur an Russlands Krieg in der Ukraine, die Finanzierung von Terroranschlägen durch den Iran, an das höhere Selbstwertgefühl des nordkoreanischen Führers und vielleicht auch an Versuche, Russlands Verhalten in der Ukraine zu kopieren.
Wenn die EU und Nordamerika ihre bisherige Wirtschafts- und Währungspolitik fortsetzen, werden die autoritären Regime beweisen, dass sie effizienter sind als die demokratischen Regime. Das wird zu einer Stresssituation führen.
Wenn die EU und Nordamerika ihre bisherige Wirtschafts- und Währungspolitik fortsetzen, werden die autoritären Regime beweisen, dass sie effizienter sind als die demokratischen Regime. Das wird zu einer Stresssituation führen. In letzter Konsequenz könnte sie heilsam sein. Schließlich tun Politiker in der Regel nur dann etwas Gutes, wenn sie öffentlich unter Druck geraten, nachdem sie zuvor alle schlechten Optionen erfolglos ausprobiert haben.
Wenn europäische Länder mehr Geld in ihre Verteidigung und ihre Rüstungsindustrie stecken, müssen sie woanders sparen. Deutschland und Österreich haben ihre Pensionssysteme nicht reformiert. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in den Ruhestand, es fehlen Arbeitskräfte und die Kosten des Wohlfahrtsstaats steigen. Bräuchte es da nicht viel energischere Reformen?
Immer, wenn man die Militär- oder Verteidigungsausgaben erhöht, kürzt man als erstes die Wohlfahrts- und Sozialausgaben. Das ist ein wiederkehrendes Muster. Die NATO-Staaten steigern bereits ihre Verteidigungsausgaben. Das schreit nach einer Reform des Wohlfahrtsstaates. Ohne diesen Druck wird sich der Sozialstaat in den EU-Staaten so schnell nicht ändern. Der Grund dafür ist einfach: Die Wählerschaft besteht aus immer mehr Pensionisten.
Wir sind zurzeit mit einer weltweiten Überschuldung der Staaten konfrontiert. Denken Sie, die Ratschläge einiger Ökonomen sind daran mitschuldig?
Das ist eine häufige Rolle der Ökonomen: Sie glauben, dass sie Berater von Regierungen und Zentralbanken sein sollten, dabei allerdings keine Verantwortung für ihre Ratschläge übernehmen. Die Zentralbanker und Politiker wiederum denken, dass sie die Verantwortung auf die Ökonomen übertragen.
Argentiniens Präsident Javier Milei versucht mit teils drastischen Kürzungen den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen. Sehen Sie Grund zur Hoffnung?
Ich denke nicht, dass Milei Neues erfinden muss. Im Übrigen gilt: Vertrauen Sie auf den Einfallsreichtum der Menschen, versuchen Sie nicht, ihn zu ersetzen. Das war‘s! Ich habe mehrere Diskussionen mit argentinischen Kollegen über eine Änderung des Steuersystems geführt. Meiner Meinung nach verlieren sie zu viel Zeit. Sie sollten schneller handeln, so wie Ludwig Erhard im Jahr 1948, und die Unternehmen und den menschlichen Erfindungsreichtum rasch befreien.
Als unsere Politiker nach 1989 US-Nobelpreisträger Milton Friedman besuchten, hatte er genau drei Ratschläge: Liberalisiert, liberalisiert, liberalisiert! Das haben wir gemacht.
Reicht Liberalisierung? Was ist mit den Staatausgaben?
In Argentinien funktioniert es, weil das Land in einer ähnlichen Situation ist wie Bulgarien und die baltischen Staaten im Jahr 1990. Wir hatten damals nichts. Argentinien hat zwar ein progressives Steuersystem, doch es hebt zu wenig Steuern ein. Die Argentinier zahlen um 15 Prozent weniger als vorgesehen.
Wäre Liberalisierung auch die Antwort für Europa?
Als unsere Politiker nach 1989 US-Nobelpreisträger Milton Friedman besuchten, hatte er genau drei Ratschläge: Liberalisiert, liberalisiert, liberalisiert! Das haben wir gemacht. Heute sind meiner Meinung nach auch mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und zu geringes Wirtschaftswachstum ein Hauptproblem, und das zu große Vertrauen in Zentralplanung und vorgetäuschtes Wissen der Politik.
Wird sich die EU von einem Regulierungswahn befreien müssen?
Die EU ist ein seltsames politisches Gebilde. Ursprünglich wollte sie den Nationalstaat beibehalten und eine Art Konföderation werden, im Sinne der Schweiz, nicht der Vereinigten Staaten, um eine wettbewerbsfähigere Wirtschaft und langfristig auch mehr Wohlstand zu schaffen als die USA.
Wenn sich die EU nun aber mehr auf Umverteilung und zentrale Planung konzentriert, das Vetorecht der Mitgliedsstaaten abschafft, und die Besteuerung zentral planen möchte, dann wird sie sich am Ende nicht sehr stark von der früheren Zentralplanung unterscheiden. Würde sie wieder dem Schweizer Beispiel folgen, könnte sie zur weltweit führenden Wirtschaftsmacht werden. Das ist aber eine schwierige Aufgabe.
Zur Person
Prof. Krassen Stanchev ist ein bedeutender bulgarischer Ökonom und Philosoph. Er lehrt an der Universität Sofia Public Choice, makroökonomische Analyse und die Geschichte wirtschaftlicher Ideen. Zudem ist er Distinguished Professor an der Free University Tbilisi. Stanchev ist Gründer und ehemaliger Geschäftsführer des Instituts für Marktwirtschaft (IME). In den Jahren 1990 bis 1991 war er Vorsitzender der VII. Verfassunggebenden Versammlung Bulgariens.
Neben seiner akademischen Tätigkeit hat Stanchev in verschiedenen Regionen aktiv an der Förderung marktwirtschaftlicher und steuerlicher Reformen mitgewirkt, darunter in den Ländern des Balkans, Zentralasiens, des Kaukasus und in der Ukraine. In jüngerer Zeit erstellte er für den schwedischen Steuerzahlerverband und den schwedischen Reichtstag einen Bericht über die Geschichte und die Aussichten von Flat-Tax-Rechtsordnungen. Er ist bekannt für seine Expertise in wirtschaftlichen und regulatorischen Politiken, die das Wachstum des Privatsektors fördern.
Stanchev ist Mitglied der Mont Pelerin Society, des Netzwerks für Konstitutionelle Ökonomie und Sozialphilosophie (NOUS), des Wilhelm Roepke Instituts in Erfurt und Ehrenmitglied des Vorstands der Bulgarischen Handelskammer. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Euromoney Award für den besten Länderanalysten (1996) und den Templeton Freedom Award (2006). Er hat in verschiedenen internationalen Gremien und Beratungsfunktionen gearbeitet und bleibt eine einflussreiche Stimme in der Förderung marktwirtschaftlicher Prinzipien.