Leviathan wankt und schwankt – doch dafür sind letztlich die Bürger verantwortlich

Vollgefressen vom Aufgabenraub und trunken von Kompetenzanmaßung schwankt der deutsche Leviathan schwellfüßig durch die Zeitenwende. Leviathans Fähigkeit zur Selbststeuerung und seine Fertigkeit zur Problemlösung scheinen dabei oftmals so eingeschränkt, dass sich der unförmig gewordene und immer öfter trunkene Riese mitunter nicht einmal mehr selbst die Schuhe zubinden kann.

Sollten jedoch die Bürgerinnen und Bürger, die Leviathan ernähren, Leviathan die Mahlzeiten auf normale Portionen kürzen wollen, damit Leviathan zu schlankeren Formen gesundet und sich wieder agiler seiner Aufgabenerfüllung für die Bürgerinnen und Bürger widmen kann, schlägt Leviathan – schnell wie ein Blitzschlag und aus seiner Bewegungsunfähigkeit erwacht – um sich, um die Kürzung auch des nur kleinsten Zuckerstückchens zu verhindern.

Das Vertrauen der Bevölkerung in Staat und Beamtenschaft sinkt

So verwundert es nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland vermehrt eine wachsende Lücke zwischen Aufblähung des Staatsapparats und mangelnder Aufgabenerfüllung und Problemlösung feststellen. Laut einer im Juli 2022 durchgeführten Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Beamten Bundes (dbb) halten 66 Prozent der deutschen Bürger den Staat in Bezug auf seine Aufgaben und Probleme für überfordert und nur 29 Prozent sind der Ansicht, dass der deutsche Staat in der Lage wäre, seine Aufgaben zu erfüllen.[1]

Darüber hinaus glauben 46 Prozent der befragten Bürger, dass die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes im Vergleich zu den letzten Jahren gesunken sei.[2] Und beim Berufsranking, mit welchem nach dem Ansehen von Berufen in der Bevölkerung gefragt wird, stehen die Beamten ziemlich weit unten. Politiker und Versicherungsvertreter haben ein noch schlechteres Ansehen als Beamte, während beispielsweise Feuerwehrleute, Ärzte, Richter und Unternehmer ein höheres Ansehen als Beamte haben.[3]

Viele Bürger beschleicht mehr und mehr das ungute Gefühl, dass nicht nur die Größe des gesamten Staatsapparats mit seinem Output negativ korreliert sein könnte, sondern auch die Größe des Bundestags mit der Lösung von Problemen in einem negativen Verhältnis steht.

Eine Aufgabe der Politik besteht nun zweifelsohne darin, die wachsende Lücke zwischen Größe des Staatsapparats und mangelnder Aufgabenerfüllung und Problemlösung durch geeignete Gesetze sowie Regeln und Regelsysteme zu schließen. Allerdings scheitert der Deutsche Bundestag oftmals bereits an Regeländerungen für die eigenen Belange und die eigene Organisationsgröße. Der Deutsche Bundestag ist das zweitgrößte Parlament der Welt. Nur Chinas nationaler Volkskongress ist größer.

Aber seit Jahren ist der Deutsche Bundestag unfähig, eine tragfähige mandatsbeschränkenden Wahlrechtsreform zu beschließen, die verfassungskonform ist und den Grundsatz des personalisierten Verhältniswahlrechts nicht verletzt. Gleichzeitig brechen in Deutschland immer mehr Krisen zutage, die auf Probleme zurückzuführen sind, deren Lösung über Jahre verschleppt wurde.

Ignorierung von Komplexität und Kontingenz der modernen Gesellschaft

Viele Bürger beschleicht deshalb mehr und mehr das ungute Gefühl, dass nicht nur die Größe des gesamten Staatsapparats mit seinem Output negativ korreliert sein könnte, sondern auch die Größe des Bundestags mit der Lösung von Problemen in einem negativen Verhältnis steht. Zuweilen ist dann launig von den „Vollpfosten in Berlin“ die Rede, ohne dass dabei allerdings die Frage gestellt wird, welche „Idioten“ (griechisch idiotes gleich Privatmenschen im Sinne von Aristoteles) diese „Vollpfosten“ nach Berlin entsandt haben.

Mit dieser Frage sollen die Ursachen für das Wanken und Schwanken des Leviathans aber auch nicht allein auf die Prinzipal-Agenten-Theorie oder die Public Choice Theory oder Mancur Olsons Logik des kollektiven Handelns zurückgeführt werden, obwohl diese Theorien sicherlich einen Erklärungswert haben. Es geht um viel Grundsätzlicheres. Der Philosoph Peter Sloterdijk schrieb bereits im Jahr 1995 über die „Ekelkrisen gegenüber den politischen Klassen“ in den westlichen Gesellschaften:

„Vermutlich verbirgt sich in dem allgemeinen Kopfschütteln über die Unzulänglichkeiten der politischen Personale ein globales Unbehagen, das seine Form noch nicht gefunden hat… Denn was den beunruhigten Zeitgenossen an so vielen Politikern ins Auge springt – dass sie so selten auf der Höhe der globalen Herausforderungen scheinen –, das gilt mit größerem Recht für die Nichtpolitiker im selben Ausmaß. Man sollte erwägen, ob nicht die chronische Schelte gegen die politische Klasse die Projektion eines Unbehagens in der Weltkultur ist, das sich an der politischen Prominenz nur kristallisiert. An dieser wird ein neuer Typus von diskreter Obszönität sichtbar, die alle Betroffenen, Zuschauer wie Akteure, in eine gemeinsame Peinlichkeit taucht: die Überforderung auf offener Bühne, die Ratlosigkeit im öffentlichen Dienst, die Desorientierung in Führungspositionen, die Blässe im Rampenlicht. Bei uns sitzt die Ahnungslosigkeit in der ersten Reihe.“[4]

Die Denkpause für Grundlagenfragen, die Peter Sloterdijk 1995 angemahnt hatte, damit eine Verfassungsdebatte in eine Weltform-Untersuchung übergeht, scheint nicht stattgefunden zu haben. Stattdessen verfiel man den Hauptfehlern des Konstruktivismus und ignorierte die Strukturbedingungen der modernen Gesellschaft. Trotz der enormen Komplexität und Kontingenz der globalen Welt wollten sich die Akteure ihre eigene begrenzte Erkenntnisfähigkeit und ihr eigenes begrenztes Wissen nicht eingestehen.

Politische Allmachtsphantasien und konstitutionelle Unwissenheit

Die konstitutionelle Unwissenheit des Menschen wurde deshalb nicht in entsprechenden Institutionengestaltungen ordnungspolitisch berücksichtigt. Die Akteure waren offensichtlich durch Omnipotenzphantasien geblendet, was sie erst gar nicht dazu gebracht hat, Überforderungen kleinzuarbeiten, was nur gelingt, wenn man sich vorab selbst Überforderung und konstitutionelle Unwissenheit angesichts erhöhter Komplexität und Kontingenz eingesteht. „Die Staats-Athletik der Globalität ist noch ungeschrieben,“ schrieb Sloterdijk 1995:

„Hier werden Bewusstseine gefordert, die sich im Abgrund des Gattungsparadoxons fest etablieren. Beruf: Politiker. Hauptwohnsitz: Unübersichtlichkeit. Programm: Zusammengehören mit denen, mit denen zusammengehören schwerfällt. Moral: Kleinarbeiten von Überforderungen. Leidenschaft: ein Verhältnis zum Unverhältnismäßigen haben. Werdegang: Selbstrekrutierung aus Einsicht, die sich in Initiative verwandelt. Solche „Politiker“ müssten sich zunächst und vor allem als Athleten eines neuen Typs verstehen: als Athleten der Synchronwelt, als Hochleistungs-Seelen in Sachen Koexistenz. Wie koexistiere ich mit 1200 Millionen Chinesen? Auf diese Frage ist jede Antwort erlaubt, nur nicht mehr die alte Kleinwelt-Maxime: vergiss die Chinesen.“[5]

Heute ist gerade China ein drängendes Problem, das bis vor ein paar Jahren von der Politik vergessen oder nicht als Problem wahrgenommen wurde. Aber wäre dieses Problem und der sich steigernde politische Systemkonflikt zwischen China und dem Westen früher auf die politische Agenda gesetzt worden, wenn es neben dem Deutschen Bundestag, den Universitäten und Instituten et cetera weitere Strukturen und Institutionen wie einen nationalen Sicherheitsrat oder andere neue staatliche Gremien in Deutschland gegeben hätte? Oder würde durch neue staatliche Expertengremien der Staatsapparat nicht einfach nur weiter aufgebläht und die Lücke zwischen Größe des Staatsapparats und Output weiter gesteigert?

Allgemeine, abstrakte Regeln statt ad hoc-Befehle und Anordnungen

Und damit sind wir beim eigentlichen Punkt: Wir brauchen letztlich nicht neue staatliche Institutionen, sondern in den bestehenden staatlichen Institutionen Menschen, die verantwortlich handeln.[6] Das heißt, wir brauchen Beamte und Politiker, welche gerade angesichts der erhöhten Komplexität und Kontingenz unter den Bedingungen der modernen Globalisierung die konstitutionelle Unwissenheit des Menschen bei der Institutionenausgestaltung in Regeln und Regelsystemen ordnungspolitisch berücksichtigen.

Es liegt an den Bürgern, selbst Verantwortung zu übernehmen und Verantwortlichkeit von Politikern und Staatsbediensteten einzufordern.

Komplexe Systeme lassen sich nicht durch Befehle und Anordnungen steuern, sondern nur durch allgemeine und abstrakte Regeln. Die Funktionsfähigkeit komplexer Systeme wird durch Befehle und Anordnungen zerstört. Einerseits sind die Befehlsgeber deshalb von vornherein überfordert und ziehen sich durch Verweigerung jeder Verantwortlichkeit aus der Affäre. Schuld sind dann meistens die anderen. Das eigene Versagen wird verdrängt, bis es nicht einmal mehr wahrgenommen wird. Andererseits sind die Bürger aufgrund der vielfach verschleppten Probleme frustriert und wenden sich gegen die Befehlsgeber oder sogar grundsätzlich gegen das System. Die Gesellschaft polarisiert sich so zunehmend.[7]

Ursächlich sind die Bürger jedoch selbst schuld an dieser Misere, weil sie von Politik und Verwaltung Befehle und Anordnungen zur Lösung von komplexen Problemen einfordern, anstatt die Einhaltung von allgemeinen und abstrakten Regeln zu verlangen. Es liegt an den Bürgern, selbst Verantwortung zu übernehmen und Verantwortlichkeit von Politikern und Staatsbediensteten einzufordern, auch wenn das Terrain aufgrund von Komplexität und erhöhter Kontingenz unübersichtlich ist. Wenn die Bürgerschaft nicht selbst zum ordnungspolitischen Denken findet und ordnungspolitisches Handeln einfordert, dann wird nur eine Minderheit von Politikern und Beamten ordnungspolitisch handeln. Das heißt, wir haben derzeit die Politiker, die wir verdienen.

Literaturverweise

[1] Siehe forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH: dbb Bürgerbefragung „Öffentlicher Dienst“ 2022. Der öffentliche Dienst aus Sicht der Bevölkerung, 18. August 2022, S. 4.

[2] Siehe ebenda S. 7.

[3] Siehe ebenda S. 13.

[4] Peter Sloterdijk: Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik, erste Auflage, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Taschenbuch) 1995, S. 54 – 55.

[5] Ebenda S. 55 – 56.

[6] Siehe Thomas Mayer: Verantwortlichkeit, Kommentar zu Gesellschaft und Finanzen des Flossbach von Storch Research Institute vom 2. Dezember 2022.

[7] Siehe bspw. Norbert F. Tofall: Polarisierung durch Problemverschleppung, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 5. Februar 2016.

 

Dieser Artikel ist zunächst auf der Website des Flossbach von Storch Research Institute unter dem Titel Leviathan wankt und schwankt erschienen. Mit freundlicher Genehmigung.

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