Die Welt nach 1989, das heißt nach dem Zusammenbruch der bipolaren Aufteilung zwischen dem freien Westen und dem durch die Sowjetunion unterdrückten Osten, schien in fast allem zu konvergieren und zu einem ziemlich homogenen Gemenge zu werden. Rechtsstaatlich verfasste Demokratie, Kapitalismus und Marktwirtschaft hatten obsiegt und schienen als beste Praktiken zum Modell für die ganze Welt zu werden. Francis Fukuyama sagte deshalb das Ende der Geschichte voraus. Der einzig verbliebenen Großmacht, den Vereinigten Staaten von Amerika, und dem von ihr kontrollierten und weitgehend auch finanzierten Instrumentarium der Vereinten Nationen, der UNO, fiel die Aufgabe zu, dieses Weltmodell zu verwalten, blinde Flecken wie Nordkorea oder den Iran in Schach zu halten und die Entstehung neuer Schurkenstaaten zu unterbinden. In die Euphorie dieses monistischen Weltmodells fiel der Ausbau der heutigen EU mit ihrer Ausrichtung auf Gleichstellung und deren Ausbreitung auf dem europäischen Kontinent. «one size fits all» war zugleich das Weltmodell als auch die Richtschnur für die sich laufend erweiternde und vertiefende EU.
Konvergierende vs. Divergierende Weltsicht
Seit einigen erfolglosen Kriegen im Mittleren Osten, spätestens aber seit Putins Tat (bergsicht Ausgabe 6) in der Ukraine und seit dem offenkundigen Machtanspruch der Chinesen in angrenzenden Gewässern und darüber hinaus stimmt dieses Weltbild nicht mehr. Die Geschichte hat sich zurückgemeldet. Neue Staatsformen wie die neo-osmanische, nur mehr halbwegs demokratisch legitimierte Machtwahrnehmung eines Recep Erdogan oder die ebenfalls höchstens halbwegs demokratische iranische Rätestruktur mausern sich zu auch vom Westen anerkannten Staatsformen, mit denen man koexistieren muss oder kooperieren möchte. Und, wie schon hinlänglich dargestellt, auch in Europa hat sich die Geschichte wieder zurückgemeldet, indem die Briten einen sich vom großen Rest Europas differenzierenden Weg einschlagen wollen. An die Stelle eines relativ homogenen Gemenges tritt eine Auswahl höchst unterschiedlicher Modelle und Wege, für oder gegen welche man sich entscheiden muss, falls man die Globalisierung – unter neuen Vorzeichen zwar – irgendwie fortsetzen will. Das ist der springende Punkt dieses Beitrags: Vielfalt heißt Auswahl. Die alte Form der Globalisierung konnte man, da die Geschichte ja zu Ende schien, passiv hinnehmen. Nun wird man sich wieder entscheiden müssen.
Diskriminierung als Megatrend
Der bewusste und gekonnte Umgang mit (mehr) Unterschiedlichkeit ist also gefragt. In der Ökonomie spricht man von «Diskriminierung». Einem Begriff, der sich vom üblichen Sprachgebrauch insofern unterscheidet, als keine negative Konnotation mitschwingt. Diskriminierung beruht auf Differenzierung, auf der Feststellung, dass es Unterschiede gibt, dass Vielfalt existiert. Durch Diskriminierung versucht der Mensch, Nutzen aus der Unterschiedlichkeit zu ziehen. Wer heute ein Hotelzimmer in einer fremden Stadt bucht, konsultiert auf den einschlägigen Buchungsplattformen die Einstufung der Anbieter durch die früheren Hotelgäste. Früher standen lediglich Sterne als Unterscheidungsmittel zur Verfügung. Wer heute ein Uber-Fahrzeug bestellt, kann sich zuerst einmal die Benotung des Fahrers durch andere Uber-Gäste zu Gemüte führen. In der bisherigen Welt der Taxis ist solches undenkbar; entsprechend lausig fällt die Qualität jener Dienstleistung in der Regel aus. Wer heute einen Verkehrsunfall verursacht, muss in den kommenden Jahren eine erhöhte Versicherungsprämie bezahlen. Früher, vor dieser Diskriminierung, bezahlten die «dummen» korrekten Fahrzeuglenker für die rasenden Kollegen; das nannte man Solidarität.
Es lohnt sich durchaus, sich einmal die Mühe zu nehmen, um im engeren und weiteren Umfeld nach Vorgängen zu suchen, welche sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren dank Diskriminierungsmöglichkeiten verändert haben. Über die erwähnten Beispiele hinaus erstreckt sich die Sammlung vom «meistgelesenen» oder «meistkommentierten» Zeitungsartikeln über das Rating von Schullehrern und Universitätsprofessoren bis zum neuen App der Schweizerischen Bundesbahnen, wo neuerdings der Belegungsgrad der einzelnen Züge ersichtlich ist, was selbstverständlich einer Vorstufe zu diskriminierendem Pricing entspricht: Je leerer der Zug, desto billiger wird man reisen können. Und umgekehrt. Alle diese neuen Diskriminierungen hängen mit der Senkung der Informations- und Transaktionskosten durch das Internet zusammen. Ja, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass eine der wesentlichen Triebfedern des Internets das Grundbedürfnis des Menschen nach Differenzierung und Diskrimination ist.
Wegfall von „Commodities“
Je spezifizierter die Welt erscheint, je mehr Vielfalt mit anderen Worten herrscht, desto mehr verliert das an Bedeutung, was bisher «Commodity» hieß und war. Unter Commodity versteht man traditionellerweise ein homogenes, das heißt nicht oder nur schwer von anderen derselben Sorte unterscheidbares, leicht austauschbares Gut wie Benzin, Kies, Weizen, Schweinebäuche und dergleichen. Meine Voraussage: Es wird sie nicht mehr geben, oder zumindest: Sie werden deutlich an Bedeutung verlieren. Weshalb? Weil es technisch und mithin auch kostenmäßig möglich ist, eine Differenzierung festzustellen und damit einer Diskriminierung den Weg zu bereiten.
Das «Internet of Things», das heißt die mitdenkende Maschine, und die «Smart Contracts», gleichbedeutend mit selbstausführenden, zur Differenzierung fähigen Vertragsanordnungen, werden diese Entwicklung darüber hinaus beflügeln. In manchen Bereichen ist der Übergang zur Bewirtschaftung der Vielfalt bereits erfolgt. Wer bestellt heute noch einfach ein «Glas Rotwein» unbestimmter Provenienz? Selbst im einfachsten Lokal erwarten wir heute eine klare Herkunftsbezeichnung samt Jahrgang. Was für den Wein nahelag, hat sich bereits auf das Fleisch ausgeweitet, und es wird vor Reis, Weizen und Gemüse nicht Halt machen. Die Bewirtschaftung von Vielfalt beziehungsweise die Befähigung dazu ist längst zum Geschäftsmodell geworden. Gespannt erwarte ich die Diskussionen, wo Diskriminierung als Geschäftsmodell auf das Differenzierungsverbot der politischen Korrektheit oder an übergeordnete ethische Grenzen stößt. Versicherungen sind in dieser Hinsicht besonders exponiert, denn bei ihnen lässt sich durch Diskriminierung unter Bevölkerungsgruppen und Kohorten ziemlich direkt Geld machen: Höhere Haftpflichtprämien nicht nur für jugendliche Fahrer, sondern auch für Lenker über 70; tiefere Krankenkassenprämien für Vegetarier oder regelmäßige Jogger (die ihre Trainingsdaten per Armbanduhr an die Versicherung übermitteln lassen); höherer Pensionskassenumwandlungssatz für Raucher – und so weiter… In der Politik als auch in Wirtschaftsangelegenheiten gilt: Der Umgang mit Vielfalt ist kein Sonntagsspaziergang.
Dies ist ein gekürzter Beitrag aus der bergsicht 20 mit dem Titel „Vielfalt als Herausforderung“. Mehr Informationen finden Sie auf www.m1ag.ch.