Der promovierte Ökonom und Buchautor Kristian Niemietz erklärt in diesem Interview, warum Intellektuelle schon oft den Sozialismus befürwortet haben und warum er mit der Freiheit inkompatibel ist. Kürzlich ist sein spannendes Buch zu diesem Thema auf Deutsch erschienen: „Sozialismus: Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt“. Mehr Informationen zum Buch finden sich unten. Das Interview führte Stefan Beig.
Warum findet der Sozialismus unter Intellektuellen so viele Anhänger?
Intellektuelle sind besser darin, Rechtfertigungen für das, was sie glauben möchten, zu finden. Wenn man sich historische Beispiele ansieht – BRD versus DDR, Taiwan versus China unter Mao Zedong, Nordkorea versus Südkorea – dann ist das Modell mit wirtschaftlichen Freiheiten dem sozialistischen Modell permanent überlegen. Gerade diese Einfachheit schreckt einige Intellektuelle ab. Sie denken, mit mehr Scharfsinn kann man erkennen, was nicht jeder auf den ersten Blick sieht. Was sich jeder beliebige Mensch genauso gut denken könnte, schreckt intellektuelle Menschen ab. Darüber hinaus benützen sie politische Meinungen gerne als Statussymbol. Es geht nicht darum, die Welt zu verstehen, sondern mit Meinungen etwas über sich auszusagen.
Intellektuelle bewerten den Sozialismus nicht nach seinen Resultaten, sondern nach seinen ursprünglichen Intentionen. Die Selbstwahrnehmung dahinter: Wir sind schlauer.
Woher kommt diese Angst vor der Einfachheit?
Es braucht nicht viel Können um zu erkennen, dass der Sozialismus gescheitert ist, sobald man sich die Fakten vergegenwärtigt. Es erfordert Raffiniertheit und rhetorisches Können, eine Idee, die immer wieder scheitert, zu rechtfertigen. Es scheint dann nur mehr so, als sei der Sozialismus gescheitert, in Wahrheit ist er überlegen. Es erfordert auch ein Abstraktionsvermögen um Idee und Ausführung voneinander zu trennen. Viele Intellektuelle sehen die Einstellung zum Sozialismus vermutlich als Intelligenztest. Sie bewerten den Sozialismus nicht nach seinen Resultaten, sondern nach seinen ursprünglichen Intentionen. Die Selbstwahrnehmung dahinter: Wir sind schlauer. Darin zeigt sich auch ein Statusdenken.
Meine Antwort: Wenn mir jemand sagt: 2 und 2 ist 4, dann antworte ich auch nicht: Das könnte auch jemand mit eine Pflichtschulabschluss sagen.
Der Sozialismus ist wieder in Mode, siehe „Millennial Socialism“. Warum?
Die Trends kommen in Wellen. In den 1930er Jahren war er in der englischsprachigen Welt und Frankreich unglaublich beliebt, zu Beginn des Kalten Kriegs wieder weniger, bis sich 1968 viele neuerlich für den Sozialismus begeisterten und das Maoistische China und Kuba idealisierten. In den 1990er Jahre kam die nächste Flaute, weil der Sozialismus überall gescheitert war. Heute gibt es wieder eine Hochphase. Das Image des Sozialismus hat sich geändert. Man denkt bei Sozialisten nicht mehr an verschrobene, schräge Splittergruppen. Der Sozialismus wirkt cool, er wurde ein Lifestyle, gerade in Vierteln mit vielen Hipster-Bars ist er sehr verbreitet.
Wirtschaftsliberale waren völlig überfordert, weil sie lange Zeit keinen Anlass sahen, gegen den Sozialismus zu argumentieren.
Inspirierte Sie das zu Ihrem Buch?
Ja, es war eine Reaktion auf das Sozialismus-Revival, zu dem etwa Bernie Sanders, Jeremy Corbyn und Alexandria Ocasio-Cortez beigetragen haben. Umfragen belegen: Der Sozialismus ist nicht verschwunden, vor allem bei jungen Leuten. Was mich gestört hat: Wirtschaftsliberale haben nicht richtig darauf reagiert. Die waren völlig überfordert, weil sie lange Zeit keinen Anlass sahen, gegen den Sozialismus zu argumentieren. Also begann ich Beiträge für verschiedene Online-Medien zu verfassen und erntete auf einmal viel mehr Resonanz als früher.
In Ihrem Buch stellen Sie dieses Muster im Umgang mit sozialistischen Experimenten vor: erst Begeisterung, dann defensive Rechtfertigung, zuletzt Verleugnung.
Bei Venezuela war die Euphorie noch nicht ganz verflogen, als ich mit dem Schreiben des Buches begann. 2005 bis 2013 herrschten Flitterwochen, dann begannen die Ablenkungsmanöver mit „Schaut mal nach Saudi-Arabien“ oder „Schon vor Chavez gab es die Probleme“. Wenn das so weitergeht, dachte ich damals, werden die in wenigen Wochen sagen: Venezuela war nie sozialistisch. Genauso ist es dann gekommen. In meinem ersten Buchentwurf hatte ich das noch prognostiziert, und dann ist es eingetreten.
Warum gingen selbst prominente Ökonomen dem Sozialismus auf den Leim oder hielten ihn zumindest für ebenso effizient wie die freie Marktwirtschaft?
Die neoklassische Ökonomie ist sehr mathematisch, es geht um Maximierung. Auf dieser Basis kann man eine Planwirtschaft ableiten. Die meisten Ökonomen waren nicht von der Planwirtschaft begeistert, aber sie haben, wie zum Beispiel Paul Samuelson, den Sozialismus überschätzt, vor allem in den 1950er Jahren mit Blick auf die damaligen Wachstumsraten der Sowjetunion.
An der Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen sind alle Planwirtschaften gescheitert, selbst in ihren besten Zeiten.
Wenn man sich nur auf Kohle-, Stahl- und Eisenproduktion konzentriert, und sich für die militärische Produktion und eine Maximierung des Outputs interessiert, dann kann das bis zu einem gewissen Grad im Sozialismus funktionieren, vor allem, wenn man, wie die Sowjetunion, die kapitalistische Produktionsweise kopiert. Zunächst hat ja die Sowjetunion mit den staatlichen Enteignungen von Getreide den Import westlicher Industrien finanziert. In gewissen Sektoren war die Sowjetunion ein wichtiger Faktor im Zweiten Weltkrieg. Nur: Den Menschen in der Sowjetunion hat das nichts gebracht. An der Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen sind alle Planwirtschaften gescheitert, selbst in ihren besten Zeiten. Das ist es aber, was mich als Konsument im Alltag interessiert. Auch der Faktor des Unternehmertums wurde von einigen Ökonomen unterbewertet.
Werden die inneren Probleme des Sozialismus bis heute zu wenig verstanden?
Ja, das war zum Beispiel auch bei der Regierung Kohl so. Im Wiedervereinigungsprozess hat sie westdeutsche Manager in östliche Betriebe geschickt. Das hat aber die Probleme nicht gelöst. Die Manager in Ostdeutschland waren genauso fähig, sie hatten nur das falsche System. Es fehlte ein marktwirtschaftlicher Prozess, damit sich herausstellte, welcher Unternehmer am besten ist. Eine staatliche Behörde kann das nicht entscheiden.
Auch heute glauben viele, dass der öffentliche Sektor besser funktioniert mit besseren Managern. Die Privatwirtschaft ist aber viel dynamischer. Das hat mit dem Wissensprozess zu tun: Im öffentlichen Sektor gibt es keine Konkurrenz und daher auch keine Konkurrenten, von denen man lernen kann. Das Hauptproblem ist meiner Meinung nach das Wissenssystem des Sozialismus.
Manche Intellektuelle wie George Orwell kritisierten den realen Sozialismus, träumten aber wie von einem demokratischen Sozialismus.
Bei Orwell wird eine noble Revolution verraten, weil die Herrscher durch Macht korrumpiert werden. Es fehlt an ökonomischen Büchern, die aufzeigen, warum der Sozialismus im Totalitären ausartet. Der Sozialismus ist nicht freiheitskompatibel. Der deutsche Rechtswissenschaftler Franz Böhm hat gesagt: Wettbewerb ist das genialste Entmachtungsinstrument, das je erfunden wurde. Niemand hat die absolute Macht, wenn ich als Konsument, Arbeiter oder Kreditnehmer woandershin gehen kann. Das beugt der Machtkonzentration vor.
Der Staat als dominierender Akteur im Wirtschaftsleben hat keine Konkurrenten. Das führt zu Machtkonzentration.
Der Staat als dominierender Akteur im Wirtschaftsleben hat keine Konkurrenten. Das führt zu Machtkonzentration, und daran ändert sich auch nichts, wenn seine überbordende Machtkonzentration demokratisch gestaltet ist. Ebenso passt auch Planwirtschaft schlecht zu individueller Freiheit, selbst wenn der Plan von der Mehrheit festgelegt wird. Um einen Wirtschaftsplan umzusetzen, müsste man die Menschen dazu zwingen, diesen Plan einzuhalten. Man kann ihnen dann nicht mehr sagen: Wenn Ihr wollt, könnte Ihr etwas anderes machen. Es gibt keinen Platz für Abweichler.
Einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz halten Sie nicht für möglich?
Planwirtschaft mündet nicht zwingend in Massenmord wie unter Stalin. Nach Stalins Tod besserte sich die Situation. Aber die Sowjetunion blieb noch immer meilenweit von dem entfernt, was sich romantische Sozialisten ausmalen. Das ist den systemimmanenten Faktoren des Sozialismus geschuldet. Chruschtschow konnte ein bisschen liberalisieren, aber Reise- oder gar Emigrationsfreiheit gab es auch bei ihm nicht. Um zu planen, musste er die Produktionsfaktoren kontrollieren können, auch die Arbeitskraft. Ein Arbeiter konnte nicht einfach das Land verlassen. Selbst in den mildesten Formen des Sozialismus gab es fast immer Ausreiseverbote.
Wenn man keine Marktsignale mehr hat, bleiben nur Befehl und Gehorsam, sofern man nicht in das Chaos schlittern will.
In der DDR gab es Versuche, zentrale Kontrolle abzumildern, aber wenn man keine Marktsignale mehr hat, bleiben nur Befehl und Gehorsam, sofern man nicht in das Chaos schlittern will. Dezentralisierungsversuche schwächten die zentrale Kontrolle, nur wurde sie nicht durch Marktmechanismen ersetzt. Alles wurde chaotisch, also griff der Staat wieder ein.
Muss Sozialismus immer staatliche Enteignung bedeuten?
Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft war gemäß marxistischer Logik folgerichtig. Stalin konnte privates Unternehmertum nicht zulassen. Er musste fürchten, dass die Kulaken – die wohlhabenden Bauern – politisch zu mächtig würden. Josef Stalin brachte Menschen nicht einfach deshalb um, weil er schlecht drauf war.
Im Kern hat Sozialismus immer die Kollektivierung von Produktionsmitteln bedeutet – und das geht nur staatlich. Manche Sozialisten sagen: Arbeiter könnten das auch kooperativ tun und das ließe sich direktdemokratisch verwalten. Doch ein Mechanismus dafür wurde noch nicht entwickelt. Wie soll das in einem Land wie Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern funktionieren? Wie kann man das gemeinsam verwalten?
Mit Sozialismus in kleinen Gruppen, wie in Kibbuzim, habe ich kein Problem. Aber das ist was anderes.
Für Marx waren Kapitalismus und Sozialismus nicht alternative Modelle. Der Kapitalismus war für ihn das Sprungbrett zum Sozialismus.
Marx befasste sich noch kaum mit der Darstellung der sozialistischen Gesellschaft. Er meinte, eine dialektische Entwicklung mündet notwendigerweise im Sozialismus.
Marx sah sich nie veranlasst, die Institutionen einer sozialistischen Gesellschaft zu beschreiben. Er pries nicht ein Gesellschaftsmodell an. Für ihn waren Kapitalismus und Sozialismus nicht alternative Modelle. Der Kapitalismus war für ihn das Sprungbrett zum Sozialismus.
Das hat sich geändert.
Moderne Sozialisten argumentieren sehr abstrakt. Demokratisierung der Wirtschaft, das Volk wird entscheiden – aber wie soll das konkret aussehen? Wie will man bei 83 Millionen Menschen demokratisch bestimmen, wie viel Bier bestellt und wie viel Stahl produziert wird? Wenn man alles umstürzen will, um zu sehen, wie es anders funktioniert, sollte man zumindest eine grobe Idee von dem haben, was nachher kommt. Interessant, dass Sozialisten heute mit abstrakten Phrasen und Plattitüden durchkommen.
Dieses Interview ist zunächst im online Medium eXXpress erschienen.
Das neue Buch von Kristian Niemietz „Sozialismus: Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt“ wurde im Febraur 2021 im FinanzBuch Verlag (Edition Prometheus) veröffentlicht: