Hatte man vor Jahresende noch angenommen, dass die amerikanische Notenbank Fed angesichts einigermaßen zuversichtlich stimmender Wachstums- und Arbeitslosenzahlen jenseits des Atlantiks nunmehr zu einer vorsichtig restriktiveren Geldpolitik umschwenken würde, sieht man sich zu Frühjahrsbeginn eines Besseren belehrt: Die Zinsen wollen weltweit nicht steigen. Im Gegenteil. Wir erleben ein Déjà-vu des Déjà-vu des Déjà-vu. Ostinate Wiederholung ein und desselben Musters: Aufwallung an den Finanzmärkten, Aufregung allenthalben bis hin zur Infragestellung der Systemstabilität, kleinere oder größere Verwerfungen in Teilsegmenten wie zum Beispiel den Währungsmärkten, Inaussichtstellung sedierender Gegenmaßnahmen auf geldpolitischer Seite – und dann erfolgt die Beruhigung an der Zinsfront, die Erholung an den Aktienbörsen und der Übergang zu einem Verhalten, als wäre nichts gewesen und als würde man in der normalsten aller Welten leben. Seit der Finanzkrise erleben wir dieses Muster in regelmäßiger Abfolge.
Weltweites Niedrigzinsumfeld
Das bestimmende Element bei diesem sich wiederholenden Muster, die Zinsen, sind mittlerweile auf einem Niveau angelangt, das weitere solche Schritte immer schwerer vorstellbar macht. Eine zehnjährige Anleihe der Bundesrepublik Deutschland „rentiert“ derzeit gerade einmal etwas mehr als null Prozent, für Anleihen der Schweizerischen Eidgenossenschaft muss man sich auf eine Laufzeit von 20 Jahren verpflichten, damit man für seine Hingabe von Mitteln an den Staat nicht Negativzinsen in Kauf nehmen muss. Die Risikoaufschläge für wackligere Schuldner wie zum Beispiel Frankreich oder Italien sind minimal; selbst Länder mit höchst fragwürdiger Finanzsituation wie Griechenland und Brasilien können sich zu deutlich weniger als 10 Prozent verschulden. Das Phänomen tiefer und immer tieferer Zinsen sowie praktisch fehlender Risikoprämien ist somit ein weltweites.
Verschiedene Fragen sind naheliegend und werden mit jeder Drehung an der Zinsschraube immer drängender: Kann das „ ewig ” so weitergehen? Unter welchen endogenen oder exogenen Bedingungen droht der Übungsabbruch? Was sind die langfristigen Folgen der so normal gewordenen außerordentlichen Geld- und Fiskalpolitik? Könnte es sein, dass die Vorwegnahme solcher Folgen bereits die endogenen oder exogenen Bedingungen verändert – oder anders gesagt: Existiert ein Feedback-Mechanismus zwischen den Auswirkungen der gegenwärtig betriebenen Geld- und Fiskalpolitik und den Voraussetzungen, auf denen sie beruhen? Was, wenn die Stabilität eine angebliche, eine illusionäre wäre?
Sehr lang andauernder Sonnenuntergang
Doch der Reihe nach: Kann es „ ewig ” so weitergehen? Nein, selbstverständlich nicht. Aber es kann sehr lange dauern, bis sich eine Veränderung einstellt. Dies zeigt das Beispiel von Japan, dem Land der aufgehenden Sonne. Seit 1995 haben die von der Notenbank Bank of Japan (BoJ) gesteuerten Zinsen im Yen die Marke von 1 Prozent nicht mehr überschritten; die Staatsanleihen (zehnjährige Papiere) notierten seit dem Jahr 2000 nie mehr über 2 Prozent, lange lagen sie nahe beim Nullpunkt, heute werfen sie eine negative Rendite ab. Zur Abwehr einer Aufwertung des Yens musste die BoJ, ähnlich wie die Schweizerische Nationalbank (SNB), zum Mittel der Negativzinsen greifen. Die BoJ verfolgt im Übrigen aber eine ungleich aktivere Währungspolitik mit dem Ziel, den für Japan so wichtigen Export durch gezielte Abwertungen zu stimulieren (was allerdings regelmäßig misslingt).
Japan zeigt nicht nur bei den Zinsen und mithin der Geldpolitik, sondern auch in Bezug auf die Wirtschafts- und Fiskalpolitik auf, dass es, wenn zwar nicht „ ewig ”, aber doch sehr, sehr lange so weitergehen kann. „ So ” will bedeuten: mit der Zunahme der Staatsverschuldung und mit minimalem Wirtschaftswachstum.
Analoge Entwicklungen dies- und jenseits des Pazifiks
Aber was kümmert uns die wirtschaftlich zwar nach wie vor gewichtige, im Übrigen aber kleine Inselnation im nördlichen Pazifik? Was hat das mit uns, dem Rest der Welt zu tun? Meines Erachtens mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Denn die Beschreibung der japanischen Geld-, Wirtschafts- und Fiskalpolitik über die letzten 25 Jahre fällt erstaunlich konvergent aus im Vergleich zu dem, was wir seit der Finanzkrise im großen Rest der industrialisierten Welt erleben. Fortgesetzte wiederkehrende geldpolitische Lockerung bis hin zum aggressiven Quantitative Easing. Rezession da, Austerität dort, Treten an Ort fast überall in Europa, exportgetriebener Aufschwung einzig in Deutschland, zaghafte Erholung in den USA – aber nirgends eine Rückkehr zu den satten Wachstumsraten der Weltwirtschaft von fünf, sechs Prozent wie vor der großen Finanzkrise. Staatsverschuldung: Analoge, wenngleich moderatere Zunahme wie in Japan. (Unter den großen Industrienationen konnte einzig Deutschland im letzten Fiskaljahr die Zunahme der Gesamtverschuldung etwas bremsen.) Ein wesentlicher Teil der staatlich bedingten oder generierten Ausstände ist in besagtem Zeitraum in die Bilanzen der Notenbanken gewandert. Diese Verschuldung weist tautologische Züge auf.
Rein phänomenologisch ergeben sich sowohl punkto Geldpolitik, Wirtschaftsverlauf als auch Verzicht auf Schuldensanierung beziehungsweise Verschiebung der Ausstände in die Notenbankbilanzen deutliche Ähnlichkeiten zwischen den 25 Jahren stabilisierender Stagnation Japans und den letzten fünf bis sieben Jahren in den restlichen Industrienationen.
Insulare Eigenschaften oder globales Phänomen?
Japan verfügte und verfügt über einige als typisch „ insular ” zu bezeichnende Merkmale, so die fast ausschließliche Eigenfinanzierung der Schulden, die riesigen Guthaben in aller Welt, die hohe Kohäsion der Gesellschaft, die erfolgreiche Abschottung der eigenen Unternehmungen gegenüber ausländischen Investoren und anderes mehr. Solche insularen Eigenschaften kann man auf den ersten Blick dem Rest der Welt nicht nachsagen. Oder doch?
Denn: Hat sich durch das faktische Währungsmonopol, das der US-Dollar über die letzten Jahrzehnte in der ganzen Welt erlangt hat, durch den dieses Monopol untermauernden Clearingzwang sozusagen sämtlicher Transaktionen über amerikanisches Territorium und somit in den Bereich des amerikanischen Rechtssystems hinein sowie durch die enge Verknüpfung der amerikanischen Absatzmärkte mit Produktionsländern wie China oder Indien eine Art globaler Insularität ergeben, aus der es praktisch kein Ausbrechen gibt? Lassen faktische Abhängigkeiten zwischen Schuldnern und Gläubigern die Grenze zwischen Innen- und Außenschulden verwischen? Schafft die pax americana nicht eine globale Stabilität? Ermöglicht der deflationär wirkende Angebotsschock ein globales „Race-to-the-bottom“ der Zinssätze? Wird die Folge sehr ähnlicher Zinssätze für so unterschiedliche Länder wie Deutschland, die USA, Italien, die Schweiz, Japan, Mexiko und Finnland mit ihren so unterschiedlichen Produktionsvoraussetzungen konsistent erklärbar? Fragen für ein Gedankenexperiment, das sich lohnen könnte. Mehr dazu in der aktuellen bergsicht.
Dies ist ein gekürzter Beitrag aus der bergsicht 18 mit dem Titel „Stability for our Time“. bergsicht stammt aus der Feder von Dr. Konrad Hummler, ehemaliger unbeschränkt haftender Teilhaber von Wegelin & Co. Privatbankiers und nun Partner der M1 AG, einem privaten Think-Tank für strategische Beratung von Unternehmungen. Mehr Informationen finden Sie auf www.m1ag.ch.