Warum wir in der Katalonienfrage zu passiven Mythenlesern geworden sind

Ludwig von Mises vertrat in seinem Buch „Liberalismus“ 1927 die Ansicht, „dass die Bewohner eines jeden Gebietes darüber zu entscheiden haben, welchem Staatsverband sie angehören wollen“. Dabei handle es sich nicht nur um ein „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, sondern um das Recht „der Bewohner eines jeden Gebietes, das groß genug ist, einen selbständigen Verwaltungsbezirk zu bilden“. Selbst einem einzigen Menschen wäre ein solches Recht zuzugestehen. Das sei aber nicht durchführbar – und zwar aus „zwingenden verwaltungstechnischen Rücksichten“. Deshalb sei das Selbstbestimmungsrecht „auf den Mehrheitswillen der Bewohner von Gebieten einzuschränken, die groß genug sind, um in der politischen Landesverwaltung als räumliche Einheit aufzutreten“.

Damit hat Mises – entgegen der Lesart vieler zum Privatrechts-Anarchismus neigender Libertärer – ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit staatlicher bzw. öffentlichrechtlicher Strukturen abgegeben, gleichzeitig aber auch die rechtmäßigen Autonomieansprüche des Individuums oder einer Gruppe von Individuen betont, jedoch fern von utopischen Vorstellungen. Bereits in seinem Buch „Nation, Staat und Wirtschaft“ (1919) wies Mises auf die Gefahr hin, dass regierende Mehrheiten nationale Minderheiten unterdrücken könnten. Zugleich verteidigte er das Mehrheitsprinzip. Libertäre Interpreten von Mises‘ Ideen haben sich während der letzten Monate immer wieder enthusiastisch zugunsten der katalanischen Separationsbestrebungen geäußert, ohne zu bedenken, dass sie dabei nicht nur die historische Komplexität des Problems und die tiefe Spaltung der katalanischen Gesellschaft außer Acht ließen, sondern sich mit ihrer Berufung auf Ludwig von Mises einer unzulässigen Vergröberung, ja Verfälschung von dessen Ansichten schuldig machten. Der nachfolgende Beitrag von Philipp Aerni möchte aus liberaler Sicht auf die historische Komplexität der Katalonienfrage hinweisen und zeigen, wie hier viele einem separatistischen Mythos und den dazugehörigen Verschwörungstheorien erlegen sind. (Austrian Institute)

 


Warum wir in der Katalonienfrage zu passiven Mythenlesern geworden sind

von Philipp Aerni

Gegenwärtig wird Europa mit einem innerstaatlichen spanischen Konflikt konfrontiert, bei dem nicht klar ist, was Dichtung und Wahrheit ist. Die katalanischen Separatisten kämpfen für einen eigenen Staat außerhalb Spaniens und sehen die unnachgiebige Haltung des spanischen Rechtsstaates als Verletzung ihrer Selbstbestimmungsrechte.

Carles Puigdemont – ein Wegbereiter in die Sackgasse?

Die Situation hat sich im Herbst 2017 zugespitzt, nachdem der katalanische Separatistenführer, Carles Puigdemont eine von der spanischen Justiz als illegal bezeichneten Volksabstimmung zur Unabhängigkeit Kataloniens durchführen ließ. Puigdemont ist daraufhin aus Furcht vor einem Strafverfahren nach Belgien geflüchtet und befindet sich zurzeit in Deutschland. Eine Auslieferung nach Spanien steht derzeit nicht zur Diskussion, da die Klage der spanischen Justiz, die auf Rebellion und Veruntreuung von staatlichen Geldern lautet, als politisch motiviert gilt.

Damit die von Spanien seither verhängte Zwangsverwaltung Kataloniens aufgehoben werden kann, hat das katalonische Parlament Quim (Joaquim) Torra zum Nachfolger von Puigdemont als Präsidenten der katalonischen Autonomieregierung, ernannt. Im zweiten Wahlgang wurde er am 14. Mai 2018 zum katalanischen Ministerpräsidenten und Nachfolger Puigdemonts gewählt. Quim Torra ist überzeugter Separatist und hat durch seine abschätzigen Äußerungen gegen die Spanier, zu denen er sich offenbar selbst nicht zählt, wesentlich zur Polarisierung des Landes beigetragen.

Dies wirft wiederum ein zweifelhaftes Licht auf Carles Puigdemont, der ihn als Nachfolger empfohlen hat und dennoch überall in Europa beteuert, dass er zum Dialog mit der spanischen Regierung bereit sei.

In seinen Reden geht es ihm primär darum Katalonien als Opfer darzustellen. Er will die Europäer von der langen Geschichte der Unterdrückung durch Spanien überzeugen um darzulegen, dass er in Madrid nicht mit einem fairen Justizprozess rechnen kann. Bisher scheint er mit seiner Erzählung Erfolg zu haben.

Die Schaffung eines Mythos

Die Angelegenheit ist jedoch historisch gesehen komplizierter und vielschichtiger und die Beziehungen zwischen Katalonien und Spanien zeichnen sich keineswegs nur durch politische Entfremdung aus. Im Gegenteil, die Integration Spaniens in die EU und die globale Weltwirtschaft nach dem Ende der Franco Diktatur führten zu einer viel stärkeren kulturellen und wirtschaftlichen Verflechtung des Landes, wobei dies der Pflege und Förderung des gefühlten eigenen kulturellen Erbes der jeweiligen Regionen keineswegs abträglich war.

Doch mit einer differenzierten Darstellung, die Spanien nicht bloß als Unterdrücker Kataloniens brandmarkt, sondern auch herausstreicht, dass sich Katalonien als autonome Region innerhalb des modernen Spaniens wirtschaftlich und kulturell entfalten konnte, und die Haltung zu Spanien unter Katalanen keineswegs einheitlich ist, lässt sich keine Schlacht in den Medien gewinnen. Es braucht ein Drama mit üblen Tätern, unschuldigen Opfern und einem moralischen Appell einzugreifen. Nur so kann der Geschichte eine emotionale Kraft zu verliehen werden, die Aufmerksamkeit weckt und die Öffentlichkeit direkt anspricht und mobilisiert.

Die politische Karriere von Carles Puigdemont baut auf dieser Dramatisierung, Personalisierung und Emotionalisierung der Katalonienfrage auf. Ihm und den anderen katalanischen Separatisten im Exil ist es diesbezüglich gelungen, einen Mythos in die Öffentlichkeit zu tragen, welcher das Unabhängigkeitsbestreben Kataloniens als etwas Rechtmäßiges, ja geradezu Natürliches erscheinen lässt. Immer und immer wieder porträtiert er die katalanische Geschichte als eine Geschichte der Unterdrückung, wobei er wohlweislich erst mit dem 11. September 1714 beginnt, als Barcelona von einer spanisch-französischen Armee besetzt wurde und seine Selbstverwaltungsrechte verlor. Obwohl dieser 11. September in Katalonien zum Nationalfeiertag gekrönt wurde, hatte der damalige Widerstand wohl nichts mit Nationalismus zu tun, denn es ging um die Thronfolge im spanischen Erbfolgekrieg und nicht etwa um irgendeinen Volkswillen. Die katalanische Aristokratie wollte damals den habsburgischen Erzherzog Karl zum Thronnachfolger und nicht den von Spanien unterstützten französischen Philippe von Anjou.

Enge Beziehung Kataloniens mit Spanien

Die katalanische Geschichte ist geprägt durch zahlreiche Völker, die sich auf der spanischen Halbinsel niederließen und zur Vielfalt der Kultur beigetragen haben. Zu diesen Völkern gehörten die Phönizier, die Römer, die Westgoten, die Mauren, und viele andere. Es ist schwierig nachzuvollziehen, warum viele Katalanen dieses gemeinsame kulturelle Erbe abstreiten. Für katalanische Nationalisten scheint es undenkbar zu sein, sich mit zwei Kulturen, der katalanischen und der spanischen, zu identifizieren – zumal sich die Katalanen ja immer mehr durch ihre Andersartigkeit gegenüber den Spaniern definieren. Die Verflechtung der beiden Kulturen ist jedoch historisch eindeutig.

Der enge Bezug Kataloniens zu Spanien existiert seit dem Ehevertrag von 1137 zwischen Raimund Berengar IV., Graf von Barcelona, und der Erbin der Krone Aragoniens. Daraus entstand das vereinte Königreich Aragonien, das schließlich durch eine Personalunion im 15. Jahrhundert mit dem Königreich Kastilien die Grundlage für die Schaffung des Spanischen Königreichs bildete. Die Institutionen der katalanischen Selbstverwaltung wurden bereits unter der Krone Aragoniens anerkannt und mit der Gründung der Generalitat durch die katalanische Abgeordnetenkammer (Corts) 1348 gestärkt.

Das spanische Königreich war seit den Anfängen jedoch ein unstabiler Vielvölkerstaat (auch die Gallizier und die Basken haben ihre eigene Sprache), der geprägt war von Zentrifugal- und Zentripetalkräften. Unter Franco gab es im 20. Jahrhundert unbestritten ein Bestreben, Spanien als Einheit zu verstehen, und die kulturelle und politische Selbstbestimmung der Regionen wurde dabei nicht nur in Katalonien mit Gewalt unterdrückt.

Der Weg zur Demokratie und die Wiederherstellung der Autonomie

Die Befreiung von dieser Gewaltherrschaft gelang schließlich auf friedliche Weise in den 1970er Jahren, nicht zuletzt dank der Unterstützung des aufgeklärten spanischen Monarchen, Juan Carlos I. Spanien wurde 1978 zum demokratischem Rechtsstaat mit autonomen Regionen, denen Selbstverwaltungsrechte zugestanden wurden, die mit denjenigen von deutschen Bundesländern durchaus vergleichbar sind.

Die Autonomie der Katalanen wurde nach dem Ende der Franco Diktatur mit dem Autonomiestatut von 1979 wiederhergestellt. Auch wenn Katalonien weniger Eigenständigkeit hat als die Ausnahmeregionen Navarra und Baskenland, so legte das Autonomiestatut dennoch den Grundstein für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Kataloniens und insbesondere Barcelonas.

Barcelona profitierte insbesondere als Veranstaltungsort der Olympischen Spiele 1992. Die Stadt und ihr kosmopolitischer Charme wurden wiederentdeckt, und viele ausländische Firmen siedelten sich in der Folge in Katalonien an. Zugleich wurde die Stadt weltbekannt für seine Architektur und seine Fußballmannschaft. Den Wohlstand, die Architektur und den Erfolg des FC Barcelona hat Katalonien jedoch nicht seiner angeblich überlegenden Kultur oder dem Genie des katalanischen Geistes zu verdanken, wie es katalanische Nationalisten gerne darstellen, sondern zumindest ebenso den Migranten, die aus aller Welt nach Barcelona strömten, um die Stadt zu dem zu machen, was sie heute ist.

Der Mythos einer eigenständigen „Nation“

Doch seit Jordi Pujol, der bis 2003 Regierungschef Kataloniens sowie Vorsitzender der dominierenden Partei Convergència i Unió (CiU) war, wurde der Mythos propagiert, dass Katalonien eigentlich eine eigenständige Nation sei, die in ihrer Wirtschaftskraft und Selbstbestimmung vom rückständigen Spanien zurückgebunden werde. Dieser erweiterte Autonomieanspruch wurde auch im revidierten Autonomiestatut von 2006, das von der damaligen sozialistischen Regierung Spaniens unter José Luis Rodriquez Zapatero gutgeheißen wurde, verankert. In der Präambel des Statuts wird festgehalten, dass Katalonien eine «Nation» ist. Das wäre wohl nicht problematisch, wenn dieser Begriff bloß als Ausdruck der Eigenständigkeit Kataloniens innerhalb von Spanien dienen sollte, etwa analog zum Kanton Genf in der Schweiz, der sich eine Republik nennt, oder zum ‘Freistaat’ Bayern in Deutschland. Unter dem Begriff ‘Nation’ verstehen die katalanischen Separatisten jedoch eine Nation Katalonien nicht innerhalb Spaniens, sondern innerhalb Europas – also einen Nationalstaat.

Dieser Anspruch und viele weitere Änderungen im neuen Autonomiestatut gingen den Mitgliedern der konservativen Partido Popular (PP) zu weit, mit der Folge, dass sie eine Klage beim spanischen Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) einreichten. Dieses entschied schließlich am 28. Juni 2010, dass 14 von insgesamt 223 Artikel im Autonomiestatut vollständig oder teilweise verfassungswidrig seien – unter anderem auch der Anspruch Kataloniens eine «Nation» zu sein.

Irrealer Unterdrückungsglaube

Dieser Entscheid befeuerte die katalanischen Nationalisten in ihrem Glauben, dass die PP Katalonien in gleichem Masse unterdrücke wie damals Franco. Für diejenigen, die Katalonien vor und nach Franco erlebt haben, muss dies jedoch als Hohn empfunden werden, denn die katalanische Sprache ist heute de facto Amtssprache geworden. In Ämtern, Museen und Schulen herrscht das Katalanische vor. Außerdem beweist gerade die Gutheißung des Autonomiestatuts von 2006, dass die Katalanen viele Möglichkeiten haben im Rahmen der demokratischen Verfassung Einfluss auf die nationale Politik zu nehmen. Manche Parteien sind jedoch empfänglicher für bestimmte Anliegen als andere, und dass sich der Wind 2011 mit der Wahl von Mariano Rajoy und seiner konservativen PP an die Spitze der spanischen Regierung drehen könnte, war abzusehen und ist Teil des politischen Wettbewerbs im Rahmen eines demokratischen Systems. Dies gilt auch für die Bestimmung von Verfassungsrichtern, die in vielen Demokratien von der aktuell regierenden Partei nominiert werden.

Als schließlich das Verfassungsgericht 2017 entschied, dass die geplante Abstimmung in Katalonien zur Abspaltung von Spanien nicht verfassungskonform sei, wurde das von den Katalanen als Einmischung in katalanische Angelegenheiten empfunden und es wurde unter der Führung von Carles Puigdemont unter dem maßgeblichen Druck der mit ihm koalierenden extremen Linken entschieden, auf Dialog zu verzichten und den Entscheid einfach zu ignorieren. Der Rest des Dramas ist ausreichend dokumentiert, doch der Kollateralschaden für das Zusammenleben der Spanier und das öffentliche Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat in Europa eher weniger.

Feindbilder und Verschwörungstheorien

Die ritualisierten politischen Reden zur «Nation» Katalonien innerhalb von Europa haben mit der Zeit die gemeinsame Geschichte und das gemeinsam Erreichte im modernen Spanien, sowie alles Positive, das Katalonien mit Spanien kulturell vereint, im Bewusstsein der Katalanen ausgelöscht. Was bleibt ist ein Feindbild, eine Verschwörungstheorie, die in katalanischen Schulbüchern als geschichtliche Wahrheit verkauft wird.

Es erstaunt daher nicht, dass der Konflikt zwischen der spanischen Regierung und Katalonien im öffentlichen Bewusstsein zum bloßen Mythos verkommen ist. Gemäß dem Semiologen Roland Barthes verbirgt der Mythos in der Politik nichts und stellt nichts zur Schau, er deformiert lediglich. In der mythischen Rede erscheinen alle konstruierten Kausalzusammenhänge als etwas vollkommen Natürliches. Der steife und scheinbar emotionslose spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy wird zum Symbol der spanischen Repression Kataloniens seit dem Jahr 1714. Zeit und Wissen können diesem Faktum nichts anhaben und eine gründlichere Lektüre wird obsolet, da der Mythos durch das stetige Wiederholen der immer gleichen Behauptungen zur Wahrheit wird.

Interessant ist diesbezüglich das Interview mit Carles Puigdemont in der Neuen Zürcher Zeitung vom 18. März 2018 als er in Genf am Festival für Menschenrechte auftreten durfte und von der sozialistischen Ex-Außenministerin Calmy-Rey als Menschenrechtsopfer aufrichtig bemitleidet wurde. Puigdemont redet im Interview von seiner Dialogbereitschaft, die unerwidert geblieben sei. Dabei verweigerte er diese selbst bis zum Zeitpunkt seiner Flucht ins Ausland. Es gehe ihm um den Respekt vor politischen Entscheiden, also letztlich um die Würde der katalanischen Bevölkerung, wobei er ausklammert, dass Katalonien selbst intern gespalten ist. Er behauptet, dass der spanische Staat kein Recht habe, einen Regionalpräsidenten abzusetzen, obwohl er wiederum genau weiss, dass auch Katalonien an die spanische Verfassung gebunden ist und eine grobe Verfassungsverletzung nicht nur zur Absetzung, sondern auch zu Haftstrafe führen kann.

Diese Haftstrafe gegen Puigdemont wurde bisher jedoch nie ausgesprochen, denn es handelt sich lediglich um eine Anklage gegen ihn. Sie lautet auf Rebellion und Veruntreuung von staatlichen Geldern. Dass eine solche Anklage vom zuständigen spanischen Gericht auch abgelehnt werden könnte, wird beispielsweise von der deutschen Justiz und von deutschen Politikern im Voraus ausgeschlossen, denn es handle sich ja um ein «politisches» und nicht um ein «juristisches» Problem. Dabei kann es durchaus sein, dass der Vorwurf des Aufrufs zur Gewalt, ein Grundpfeiler der Anklage auf Rebellion, auch vom spanischen Gericht so nicht anerkannt wird.

Unkritische Europäer

Das Kalkül des Mythenproduzenten Puigdemont scheint aufzugehen, denn die katalanische Darstellung der Geschehnisse in Spanien wird in Europa unkritisch übernommen. Es wird klar zwischen Opfer, sprich Puigdemont und die katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, und Täter, sprich Rajoy und die spanische Justiz, unterschieden – und natürlich schlagen die europäischen Herzen für die vermeintlichen Opfer. Für Politiker eine ideale Gelegenheit sich bei den Wählern auf billige Weise Anerkennung durch solidarische Kundgebungen zu verschaffen.

Dadurch wird jedoch der konstruktive und komplexe politische Diskurs, der für eine funktionierende Demokratie essentiell ist, auf eine leicht verdauliche Mythenerzählung reduziert. Der konservative Mariano Rajoy ist darin quasi zum ewigen Motiv geronnen, dass den katalanischen Willen eine Nation zu werden moralisch und daher natürlich begründet. Auf der anderen Seite ist die katalanische Identität auf das Feindbild Mariano Rajoy angewiesen, denn ohne ihn, oder besser gesagt seiner medialen Darstellung, gäbe es keine überzeugende und identitätsstiftende Unterdrückungsgeschichte der Katalanen. Rajoy hat mit seinem Mangel an Fingerspitzengefühl sicher sicherlich nicht zu einer Entspannung der Lage beigetragen. Doch innenpolitisch scheint der zuvor geschwächte Staatschef von der Polarisierung ebenso zu profitieren wie Puigdemont.  Dies ist bedauerlich, denn eigentlich hätten die Katalanen durchaus gute Chancen gehabt auf der nationalen Bühne eine politische Kehrtwende hin zu mehr Dezentralisierung zu erreichen: Schließlich ist Katalonien nicht die einzige Region, die zum Beispiel beim Steuerrückfluss leicht benachteiligt wird. Die Regionen Valencia, Murcia und Andalusien kriegen sogar noch weniger von den Steuern zurück, die sie an die Zentralregierung überweisen als Katalonien.  Außerdem wird es von vielen Spaniern als Affront empfunden, dass die Basken und Navarrer Steuerhoheit haben und der Rest der Regionen nicht. Die Ungleichbehandlung im spanischen Steuersystem mag historische Gründe haben, zeitgemäß ist sie  jedoch nicht. Die Katalanen könnten sich mit anderen unzufriedenen Regionen verbünden um die nötige Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu beschaffen, welche diese Ungerechtigkeiten behebt. Doch ihr politischer Exklusivitätsanspruch und ihre herablassende Art gegenüber dem Rest von Spanien macht einen solchen Schulterschluss de facto unmöglich.

Opfermythos, schwindendes Geschichtsbewusstsein und mediales Herdenverhalten

Der nun geschaffene Opfermythos, sofern er von den Mythenlesern nicht hinterfragt wird, was je länger je weniger der Fall ist, weil das Geschichtsbewusstsein in der heutigen Gesellschaft stark geschrumpft ist, nützt Puigdemont ungemein; denn, um wiederum mit Roland Barthes zu sprechen, der Mythos hat den Charakter einer Aufforderung, einer Anrufung. Er wendet sich uns zu und wir unterliegen seiner intentionalen und emotionalen Kraft. Puigdemont lächelt dankbar, denn seine Bewegung wird für ihren moralischen Mut gelobt, und er braucht sich kaum noch zu fürchten, dass er auf seine moralische dubiose Rolle im katalanischen Korruptionsskandal ‚Palau‘ angesprochen wird.

Zugleich regt sich der Rest Spaniens darüber auf wie die komplexe Nationalgeschichte sowie die unzähligen Akteure der spanischen Gegenwartspolitik auf die Rolle der Unterdrücker der Katalanen reduziert werden.

Die öffentliche Darstellung der Katalonienfrage offenbart diesbezüglich auch das alarmierende Herdenverhalten in den Medien. Wo auch immer Puigdemont auftaucht hängen alle an seinen Lippen. Als Verstoßener, der sich auf einer Irrfahrt im Exil durch Europa befindet und schließlich als nobler ‚Ex-Staatsmann‘ die Demütigung einer Verhaftung erleben muss, genießt er das Mitleid in der Öffentlichkeit, was seinen Aussagen in den Medien eine gewisse Selbstlosigkeit und somit Glaubwürdigkeit verschafft. Der ideale Nährboden für den Export des katalanischen Mythos in europäische Geschichtsbücher; denn Mythen lesen macht Schulkinder froh, und Erwachsene ebenso.

Die Infantilisierung der Gesellschaft: Eine Gefahr für repräsentative Demokratie und Rechtsstaat

Diese Entpolitisierung des Politischen führt jedoch zur Infantilisierung der Gesellschaft und gefährdet langfristig das Fundament der repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaates. Dieses basiert nämlich auf dem aktiven, informierten und kritisch denkenden Bürger, der sich gegen geistige Bequemlichkeit wehrt und die Mythen der Politiker nicht passiv konsumiert, sondern aktiv dekonstruiert.

Diese Ansicht würden wohl auch viele libertäre und sozialrevolutionäre Romantiker teilen. Doch die emotionale Kraft des Mythos der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung scheint historische und rechtsstaatliche Fakten mühelos hinwegfegen zu können. Es geht doch schließlich um die konstruierte Utopie eines glücklichen Ursprungszustandes, der nach der Befreiung vom spanischen Joch wieder erreicht werden soll. Selbst libertäre Anhänger eines weitest gefassten Sezessionsrechts im Sinne von Ludwig von Mises sind Opfer dieses Mythos geworden. Sie übersehen sowohl, dass der katalanische Separatismus keine wirkliche Mehrheit im Volk hat, dass dabei der Rechtsstaat mit Füßen getreten und geltendes Verfassungsrecht gebrochen wird. Das ist keine Grundlage für eine friedensstiftende Politik, wie gerade Liberale sie eigentlich vertreten sollten.

Wer glaubt, dass alle Katalanen Freude an dieser Utopie haben, irrt sich, denn viele Sorgen sich auch um die wirtschaftlichen Konsequenzen. Die politische Unabhängigkeit könnte nämlich sehr wohl auf Kosten einer größeren wirtschaftlichen Abhängigkeit gehen; denn für die Wirtschaft zählt nicht die romantische Utopie, sondern der Zugang zu Märkten und qualifizierten Arbeitskräften.

Quim Torra wird sich daher als Nachfolger von Puigdemont in Acht nehmen müssen. Wenn er nicht nur in seiner Rhetorik, sondern auch durch seine Handlungen als neuer Präsident Kataloniens die politische Situation erneut auf die Spitze treibt, dann wird es eine erneute Zwangsverwaltung durch Spanien geben. Die öffentliche Empörung der Separatisten mag sich dann einmal mehr durch zahlreiche Protestkundgebungen Luft verschaffen. Aber die Luft selbst wird dann allmählich dünn in Katalonien, nicht wegen der spanischen Zentralregierung, sondern wegen der strapazierten Geduld der pragmatischen arbeitenden Bevölkerung Kataloniens, denen die Wirtschaft stärker am Herzen liegt als der katalanische Unabhängigkeitsmythos.

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