Franisco de Goya: El naufragio/Der Schiffbruch (Detail). Bild: Wikimedia Commons
Stellen wir uns den Menschen als ein im Ozean treibendes Individuum vor. Um ihn herum nur Wasser, kein Horizont in Sicht. Er weiß, dass Stillstand den Untergang bedeutet – also beginnt er zu schwimmen. Dieser Mensch ist für José Ortega y Gasset, den großen spanischen Liberalen, dessen Todestag sich vor kurzem zum siebzigsten Mal gejährt hat, das Sinnbild des modernen Individuums: ein Schiffbrüchiger im Strom der Zeit. Und das Schwimmen – das ist Kultur.
Die „Masse“ ist nicht einfach die Menge anderer, sondern jener Zustand, in dem der Einzelne aufhört, sich seiner selbst bewusst zu sein. Es ist das moralische Versagen des Menschen, der die Verantwortung für sein Leben abgibt – sei es an die Meinung anderer, an den Staat oder an die algorithmischen Strömungen des digitalen Zeitalters.
„Das Leben ist in sich und für immer Schiffbruch“, schrieb Ortega. „Schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken.“ Wer schwimmt, lebt – wer sich treiben lässt, geht unter. Das ist kein romantisches Bild, sondern der Kern seiner Lebensphilosophie: Der Mensch ist nicht passives Produkt seiner Umstände, sondern steht in einer dauernden Aufgabe, seiner Existenz Form und Sinn zu geben.
„Dieses uns gegebene Leben ist uns als etwas Leeres gegeben, und der Mensch muss es ausfüllen, ihm einen Inhalt verleihen.“
Der missverstandene Philosoph der Masse
Bis heute ist Ortega y Gasset (1883–1955) meist nur als Autor des Aufstands der Massen bekannt – und oft missverstanden. Schnell galt er als elitärer Kulturpessimist, als ein Denker, der sich von der „Masse“ angewidert abwandte. Doch diese Lesart verkennt den moralischen Kern seines Denkens. „Schiffbruch erleiden bedeutet nicht zwangsläufig unterzugehen“. Gerade darin liegt die Wendung: Die Masse ist bei Ortega kein sozialer Begriff, sondern ein psychologischer, ein moralischer Zustand des Individuums. Als solches ist es keine soziale, sondern eine existentielle Frage.
Die „Masse“ ist nicht einfach die Menge anderer, sondern jener Zustand, in dem der Einzelne aufhört, sich seiner selbst bewusst zu sein. Es ist das moralische Versagen des Menschen, der die Verantwortung für sein Leben abgibt – sei es an die Meinung anderer, an den Staat oder an die algorithmischen Strömungen des digitalen Zeitalters. Ortega warnt vor dem Menschen, der „wie eine losgerissene Boje in den Strömen der Zeit“ treibt.
In diesem Sinn ist „Der Aufstand der Massen“ kein elitäres Pamphlet, sondern eine antitotalitäre Mahnung. Ortega beschreibt die Masse nicht als Bedrohung, sondern als Symptom einer inneren Leere: „Nur wer in gewissem Maße seiner Zeit entgegenwirkt, kann von sich selbst befriedigt sein.“
Ich bin ich – und meine Umstände: Freiheit als Verantwortung
Ortegas berühmter Satz „Yo soy yo y mis circunstancias“ – „Ich bin ich und meine Umstände“ – bringt seine Philosophie auf den Punkt. Der Mensch existiert nie im luftleeren Raum, sondern ist untrennbar mit den Bedingungen seines Lebens verknüpft. Doch diese Umstände sind nicht Entschuldigung, sondern Herausforderung.
Ortega nennt das Leben eine „radikale Aufgabe“. Es wird uns nicht vorgegeben, sondern als leeres Blatt überreicht, das wir selbst füllen müssen. „Dieses uns gegebene Leben ist uns als etwas Leeres gegeben, und der Mensch muss es ausfüllen, ihm einen Inhalt verleihen.“ In dieser Auffassung liegt sein zutiefst europäischer Humanismus: Freiheit bedeutet Verantwortung – nicht die Abwesenheit von Zwängen, sondern das Bewusstsein, dass jeder Mensch Autor seiner eigenen Lebensgeschichte ist.
Der Einzelne, als Schiffbrüchiger, benötigt hierfür im eigentlichen Wortsinne Selbst-Bewusstsein. Ein illustriertes Beispiel wäre das Gemälde, des Edelmanns mit der Hand auf der Brust (El Greco), auf den sich Ortega in einem seiner Essays bezieht. Der Edelmann, der seine Hand auf den Brustkorb legt, ist für den spanischen Philosophen Ausdruck eines vitalen Individualbewusstseins.
So wird die Philosophie des liberalen Spaniers zu einer Pädagogik der Selbstständigkeit. Ortega wollte „Philosoph am Marktplatz“ sein, ein Intellektueller, der seine Landsleute aus der Resignation herausführt. Nach dem nationalen Trauma des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898 rief er dazu auf, die Krise als Ansporn zu sehen – nicht als Schicksal. In seiner Metapher des Schiffbruchs steckt gerade keine Kapitulation, sondern der Mut, die Arme zu bewegen: Kultur als Schwimmbewegung gegen den Untergang.
Gegen die Trägheit des Geistes
Ortegas Lebensphilosophie ist ein Aufruf zur Selbstprüfung. „Keiner kann mein Leben leben“, schreibt er, „ich selbst muss es auf meine eigene Rechnung und Gefahr ganz allein leben.“ Diese Ethik des persönlichen Wagnisses richtet sich gegen jede Form der Selbstentfremdung. Der Mensch, der aufhört, sich zu fragen, was er wirklich glaubt und was er verabscheut, verliert die Fähigkeit, sich selbst zu führen.
Die „Masse“ im ortegianischen Sinn entsteht dort, wo das Denken ausgesetzt wird – wo der Einzelne sich in der Anonymität des Kollektivs einrichtet. Das kann die staatliche Bürokratie sein, die Ideologie, oder heute der digitale Schwarm. Ortega war ein früher Diagnostiker dessen, was wir heute „Filterblasen“ nennen würden: die Tendenz, sich mit Meinungen zu umgeben, die das eigene Denken ersetzen. Die Gefahr ist nicht die Technik, sondern die Trägheit des Geistes.
Staat und Bürokratie als Ersatz für eigenes Denken
Ortega war kein Staatsfeind. Im Gegenteil: Er sah im Staat eine „orthopädische Hilfe“, ein notwendiges Instrument, um die Gesellschaft zu ordnen und Bildung, Wohlstand und Gerechtigkeit zu ermöglichen. Doch zugleich warnte er vor der Mystifizierung des Staates – vor jener Versuchung, ihn zum Ersatz für die eigene moralische Verantwortung zu machen.
Totalitäre Bewegungen, so Ortega, entstehen dort, wo der Mensch aufhört, sich selbst zu führen. Der Staat wird dann zum Ersatz für das eigene Denken, die Ideologie zur neuen Religion. Diese Einsicht verleiht seinem Denken eine beklemmende Aktualität: In Zeiten, in denen Algorithmen Stimmungen lenken und moralische Urteile durch Empörung ersetzt werden, erinnert Ortega an den Ursprung politischer Freiheit – das selbstbewusste Ich.
Aktualität eines vergessenen Europäers
Ortega y Gasset ist ein Philosoph der europäischen Krise – und zugleich ihrer Überwindung. Er suchte die Verbindung von Vitalität und Geistigkeit, von Leben und Denken. Europa, so sein Traum, ist kein geographischer Raum, sondern ein kulturelles Projekt, das täglich neu geschaffen werden muss – „ein gemeinsames Wagnis freier Individuen“.
Gerade darin liegt seine bleibende Bedeutung. In einer Welt, die in virtuellen Massen zerfällt, in der sich Menschen digital zusammentun, ohne einander zu begegnen, erinnert Ortega daran, dass wahre Kultur nicht aus Gleichschritt, sondern aus Selbstüberwindung entsteht.
Ein Appell an die Schiffbrüchigen von heute
„Jede Stunde hat ihr besonderes Licht“, schrieb Ortega, „und jedes Licht erschafft – wie ein Dichter – die Dinge noch einmal in seiner Weise.“
Das ist die optimistische Wendung seines Denkens: Selbst in Zeiten der Orientierungslosigkeit ist Erneuerung möglich. Wer sich seiner Umstände bewusst wird, kann sie gestalten.
Ortega ruft dazu auf, nicht in der Flut der Zeit zu versinken, sondern sich in ihr zu bewegen. Das gilt heute nicht weniger als in den 1930er Jahren. Zwischen Massenbewegungen, technischer Beschleunigung und politischer Reizüberflutung bleibt seine Botschaft einfach – und radikal:
Der Mensch ist frei, aber nur, wenn er schwimmt.
Der Autor hat unter dem Titel „‘Aber schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken‘ – Ortega y Gassets Lebensphilosophie als ideengeschichtliche Grundlage seiner Werke“ am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Chemnitz promoviert.