3. Kapitel: Die Lehre vom Wert § 2 (b/1)

Carl Menger: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre

Bisher wurde in § 2 das subjektive Moment, die erste Ursache der Verschiedenheit der Güterwerte untersucht. Es liegt in unserer Erkenntnis der verschiedenen Bedeutungen, welche die Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse und deren Akte für uns haben. Diese Bedeutungen sind die erste Ursache der jeweiligen Höhe des Güterwertes, weil der Wert der Güter nichts anderes als die auf die Güter übertragene Bedeutung unserer Bedürfnisbefriedigungen. Das „Maß der Bedeutung, welche die von den betreffenden Gütern abhängigen Bedürfnisbefriedigungen für uns haben“, ist auch das Maß des Wertes dieser Güter selbst.

Abhängigkeit der einzelnen Bedürfnisbefriedigungen von den konkreten Gütern (Objektives Moment)

Bei der Bestimmung des objektiven Moments des Güterwertes geht es um dessen Abhängigkeit von der Menge verfügbarer Güter. Hier könnte man zu einem Kurzschluss verleitet sein:

Man könnte meinen, die Bestimmung des Wertes eines Gutes sei nicht weiter schwierig: Man müsste nur die Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung bestimmen, die vom jeweiligen Gut abhängt. Jedes Gut könnte dann für uns keine andere Bedeutung gewinnen, „als diejenige, welche die gedachte Bedürfnisbefriedigung für uns hat“. Für ein kurzsichtiges Individuum auf einer Insel hätte „eine seine Kurzsichtigkeit behebende Brille und keine zweite …. die volle Bedeutung …, welches dieses letztere einem geschärften Sehvermögen zuschreiben würde“. So wäre es dann in allen Fällen.

Was man dabei aber voraussetzt: Es steht „jedem einzelnen, konkreten Bedürfnis der Menschen nur die Verfügung über ein einziges, ausschließlich zur Befriedigung dieses Bedürfnisses taugliches Gut gegenüber“.

Die verfügbare Gesamtquantität eines Gutes sichert dem wirtschaftenden Individuum verschiedene Bedürfnisbefriedigungen. Von den am wenigsten wichtigen dieser Bedürfnisbefriedigungen hängt der Wert der Teilquantitäten dieses Gutes für das Individuum ab.

Doch in der Realität sieht es anders aus: „Im gewöhnlichen Leben ist nun aber das Verhältnis zwischen den verfügbaren Gütern und unseren Bedürfnissen der Regel nach ein viel komplizierteres. Hier steht zumeist: nicht einem einzelnen konkreten Bedürfnis, sondern einem Komplex von solchen, nicht ein einzelnes Gut, sondern eine Quantität von solchen gegenüber“. Die Konsequenz: Mal hängt eine größere, mal eine geringere Anzahl in ihrer Bedeutung stark unterschiedlicher Bedürfnisse von unserer Verfügung über eine Quantität von Gütern ab. Jedes einzelne der Güter wiederum kann in der Regel nicht nur eines, sondern mehrere dieser in ihrer Bedeutung so unterschiedlichen Bedürfnisse befriedigen.

Das gilt es zu bedenken, gerade wenn zuerst vereinfachende Beispiele die zweite Ursache der Höhe des Güterwertes demonstrieren.

Austauschbare Teilquantitäten eines Gutes von gleicher Qualität haben isoliert betrachtet denselben Wert

Um zu veranschaulichen, wie sich die Menge an verfügbaren Gütern auf den jeweiligen Güterwert auswirkt, nehmen wir das Beispiel eines isoliert wirtschaftenden Landmanns, der Getreide erntet. Der Einfachheit halber nehmen wir an, die verfügbare Güterquantität Getreide ist „in allen ihren Teilen von völlig gleicher Beschaffenheit“. Die Frage ist nun: Welchen Wert haben die Teilquantitäten des Getreides für den Landwirt?

Wir nehmen an, der isolierte Landwirt verfügt nach reicher Ernte über 200 Metzen Korn. Mit einem Teil dieser 200 Metzen sichert der Landwirt zunächst sein und seiner Familie Leben, mit einem weiteren Teil sein und seiner Familie Gesundheit, mit einem dritten Teil schließlich das Samenkorn für die nächste Saat und somit den Fortbestand seiner Wirtschaft, einen weiteren Teil verwendet er dann für Genusszwecke von unterschiedlicher Wichtigkeit, beginnend mit der Erzeugung von Bier, Branntwein etc. bis hin zur Ernährung von Luxustieren, um das Getreide noch irgendwie nutzbar zu machen.

„Es sind demnach Bedürfnisbefriedigungen von höchst verschiedener Wichtigkeit, in Rücksicht auf welche der Landmann von dem in seinen Händen befindlichen Getreide abhängt.“ Wenn wir die Frage nach dem Wert der Teilquantitäten beantworten wollen, so sind wir zunächst mit zwei möglicherweise irritierenden Konsequenzen konfrontiert: Einerseits würde niemand leugnen, dass die einzelnen Teilquantitäten des Getreides Bedürfnisbefriedigungen von sehr ungleicher Bedeutung (von 1 bis 10 auf der Tabelle) sichern. Andererseits würde aber auch niemand behaupten, dass einige Metzen Getreide für sich genommen einen höheren Wert für ihn haben, als andere von gleicher Qualität. Da jede Teilquantität dieselbe Qualität hat, ist sie durch jede andere Teilquantitäten austauschbar.

Der Wert der Teilquantität eines Gutes wird durch die Bedeutung des am wenigsten wichtigen Bedürfnisses bestimmt, das dieses Gut befriedigt

Die Frage nach dem Wert der Teilquantität kann nur geklärt werden, wenn die Frage beantwortet wird, „welche konkrete Bedürfnisbefriedigung von einer konkreten Teilquantität der in Rede stehenden Güter abhängig ist“.

Die Lösung dieser „wichtigsten Frage der Werttheorie“ wird auf Grundlage der Betrachtung über die menschliche Wirtschaft [siehe Zweites Kapitel] „und jener des Wesens des Güterwertes“ gefunden. Durch diese beiden Betrachtungen wurde klar:

Die Menschen trachten danach, ihre Bedürfnisse vollständig bzw. so vollständig als möglich zu befriedigen. Gleichzeitig hat für die Menschen die Befriedigung ihrer einzelnen Bedürfnisse eine sehr verschiedene Bedeutung (ist also von unterschiedlicher Wichtigkeit). Konfrontiert mit einer Quantität von Gütern ziehen die Menschen diese zunächst zur Befriedigung jener Bedürfnisse (und zur Vorsorge der Befriedigung jener Bedürfnisse) heran, deren Befriedigung für den Menschen die höchste Bedeutung hat. Ein Überschuss wird zur Befriedigung der nächst wichtigen Bedürfnisse verwendet und so weiter fort.

Das geschieht auch, wenn ein Gut zur Befriedigung unterschiedlicher Arten von Bedürfnissen (z.B. nach Ernährung, Kleidung und Kleiderzubehör) dient. [Ergänzung d. Red.: So fungieren etwa Nutztiere oft als Nahrungslieferanten, aber ebenso als Lieferanten von Kleidung und anderem.] Wie die Tabelle veranschaulicht, verwenden die Menschen solche Güter zunächst zur Sicherung jener Bedürfnisbefriedigungen, die für sie die höchste Bedeutung (Ziffer 10 auf der Skala) haben, und zwar „ohne Rücksicht auf die Art des Bedürfnisses“. Von dort schreiten sie schrittweise herab fort zu den Bedürfnisbefriedigungen von geringerer Bedeutung. Bei allen Arten von Bedürfnissen sind dann jene Bedürfnisbefriedigungen, zu denen die Menschen nicht mehr in der Lage sind, von jeweils gleicher Bedeutung. Es gelangen dadurch also „alle Bedürfnisse bis zu einem gleichen Grade der Wichtigkeit der konkreten Akte derselben zur Befriedigung“.

 

I II III IV V VI VII VIII IX X
10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
9 8 7 6 5 4 3 2 1 0
8 7 6 5 4 3 2 1 0
7 6 5 4 3 2 1 0
6 5 4 3 2 1 0
5 4 3 2 1 0
4 3 2 1 0
3 2 1 0
2 1 0
1 0
0

 

Welchen Wert hat also für einen wirtschaftenden Menschen, der eine Güterquantität besitzt, irgendeine Teilquantität dieses Gutes? Präziser müsste man fragen: „Welche Bedürfnisbefriedigung würde nicht erfolgen, wofern das wirtschaftende Subjekt über jene Teilquantität nicht verfügen könnte, das ist, nur die ihm verfügbare Gesamtquantität nach Abzug jener Teilquantität in seiner Gewalt hätte?“ Die Antwort: Mit dieser abhanden gekommenen Teilquantität würde die wirtschaftende Person die am wenigsten bedeutenden der davor noch gesicherten Bedürfnisbefriedigungen nicht mehr befriedigen.

Die Lösung des zentralen Problems dieses Kapitels in einem Satz formuliert ist: Der „Wert einer Teilquantität der verfügbaren Gütermenge ist für jene Person demnach gleich der Bedeutung, welche die am wenigsten wichtige der durch die Gesamtquantität noch gesicherten und mit einer gleichen Teilquantität herbeizuführenden Bedürfnisbefriedigungen für sie haben.“

Abstrakt veranschaulicht:

Ein wirtschaftendes Individuum hat ein Bedürfnis nach einem bestimmten Gut. Um alle Bedürfnisbefriedigungen nach diesem Gut sicherzustellen – von 10 bis 1 – benötigt das Individuum 10 Teilquantitäten dieses Gutes. Nun verfügt das Individuum aber nur über sieben davon. Folglich kann es nur mehr die Bedürfnisse der Wichtigkeit 10 bis 4 befriedigen, nicht aber jene der Wichtigkeit 3 bis 1. Der Wert einer Teilquantität dieses Gutes für das Individuum entspricht dann der Bedeutung jener Bedürfnisbefriedigung, die ausbleiben würde, wenn dem Individuum nur mehr 6 statt 7 Teilquantitäten besäße, wenn ihm also eine Teilquantität abhanden kommt. Das wäre die mit der Ziffer 4 bezeichnete Bedürfnisbefriedigung. Von der Verfügung über eine solche Teilquantität wäre eine Bedürfnisbefriedigung der Bedeutung 4 abhängig, und dieser Bedeutung würde auch der Wert der Teilquantität entsprechen. Wäre das Individuum im Besitz von nur 5 Teilquantitäten, so hätte eine Teilquantität die mit Ziffer 6 bezeichnete Bedeutung usw.

Es zeigt sich: Die verfügbare Gesamtquantität eines Gutes sichert dem wirtschaftenden Individuum verschiedene Bedürfnisbefriedigungen. Von den am wenigsten wichtigen dieser Bedürfnisbefriedigungen hängt der Wert der Teilquantitäten dieses Gutes für das Individuum ab. „Diese Bedürfnisbefriedigungen sind es nämlich, rücksichtlich welcher das in Rede stehende wirtschaftende Subjekt von der Verfügung über das betreffende konkrete Gut, beziehungsweise die betreffende Güterquantität abhängt.“

  • Die zweite, objektive Ursache der Höhe eines Güterwertes gründet in der der Menge der verfügbaren Güter.
  • Teilquantitäten eines Gutes von gleicher Qualität sind austauschbar. Isoliert betrachtet haben sie denselben Wert. Allerdings sichert jede einzelne Bedürfnisbefriedigungen von sehr ungleicher Bedeutung.
  • Der Wert einer Teilquantität wird von jener Bedürfnisbefriedigung bestimmt, die von eben dieser Teilquantität abhängig ist. Wir kennen daher den Wert einer Teilquantität ist, sobald klar ist, welche Bedürfnisbefriedigung von ihr abhängt.
  • Dies wird unter Heranziehen folgender bereits bekannter Sätze geklärt:
    • Die Menschen wollen ihre Bedürfnisse so vollständig wie möglich befriedigen.
    • Sie verwenden die Güter zunächst zur Sicherung jener Bedürfnisbefriedigungen, die für sie die höchste Bedeutung haben.
    • Von dort schreiten sie schrittweise fort zu den Bedürfnisbefriedigungen von geringerer Bedeutung (siehe Tabelle).
  • Die obige Frage kann nun beantwortet werden, wenn man sie präziser so formuliert: „Welche Bedürfnisbefriedigung würde nicht erfolgen, wofern das wirtschaftende Subjekt über jene Teilquantität nicht verfügen könnte, das ist, nur die ihm verfügbare Gesamtquantität nach Abzug jener Teilquantität in seiner Gewalt hätte?“
  • Die Antwort: Mit dieser abhanden gekommenen Teilquantität würde die wirtschaftende Person die am wenigsten bedeutende der davor noch gesicherten Bedürfnisbefriedigung nicht mehr befriedigen.
  • Der Wert einer Teilquantität ist daher gleich der Bedeutung der am wenigsten wichtigen Bedürfnisbefriedigung, die durch die Gesamtquantität des Gutes gesichert ist.

Carl Mengers „Grundsätze“ wurden erstmals 1871 beim Braumüller Verlag veröffentlicht. Später erschienen sie als erster Band von Mengers „Gesammelten Werken“ beim Mohr Siebeck Verlag. Heute ist Mengers Erstlingswerk im Internet frei zugänglich, unter anderem beim Liberty Fund und beim Mises Institute.

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