Was heißt Freiheit und Selbstverantwortung des Bürgers – ethisch, wirtschaftlich, politisch?

Gemäß der biblischen Schöpfungsgeschichte wurde der Mensch als Mann und Frau dem Ebenbild Gottes gemäß geschaffen. Deshalb ist der Mensch gerufen, sein Leben aufgrund eigener Entscheidungen zu führen. Menschen sind nicht instinktgetrieben, sondern Vernunftwesen und deshalb gleichsam dazu verurteilt, das Gute und jeweils Richtige selber zu erkennen und zu wählen. Eine solche Freiheit begründet Verantwortung: Verantwortung für das eigene Tun und in gewisser Hinsicht auch für seine Folgen (denn wir sind nicht für alle Folgen unserer Handlungen verantwortlich).

Freiheit und Verantwortung in ethischer Perspektive

Mitmenschen und Institutionen, insbesondere Erzieher, zuallererst die Eltern im Rahmen der Familie, auch Religion und ihre Lehrinstanzen, helfen dem Menschen, Gut und Böse unterscheiden zu lernen. Doch entscheiden, was er tun soll, muss der Einzelne letztlich immer selbst. Auch die Entscheidung, einer Autorität zu folgen, Experten Gehör zu leisten, ja selbst Gehorsam in den verschiedensten Situationen des Lebens, ist letztlich immer eine persönliche Entscheidung, für die jeder Einzelne die Verantwortung trägt.

Der Bereich, in dem Gut und Böse klar und allgemein gültig definiert ist, ist aber relativ klein. Er lässt sich vor allem durch einige Verbote abstecken, wie sie die jüdisch-christliche Tradition in den zehn Geboten formulierte, etwa in den Geboten „Du sollst nicht töten“, „du sollst nicht stehlen“, „du sollst nicht die Ehe brechen“, „du sollst nicht lügen“. In diesen wenigen Verbotsnormen findet sich eigentlich schon der gesamte Bereich des moralisch Notwendigen und für alle Gültigen eingegrenzt.

Die meisten Entscheidungen, die für unser Leben wichtig sind, beziehen sich jedoch auf Fragen, in denen es keine allgemeine, für alle gültige Antwort gibt. Hier ist Kreativität, Klugheit und Sachkenntnis gefragt; gefragt ist auch Mut zum Risiko und Freude am eigenverantwortlichen Tun. Die Temperamente der Menschen sind allerdings verschieden. Einige Menschen sind von Natur aus risikofreudiger, andere mehr auf Absicherung bedacht; einige besitzen den angeborenen Hang, schwierige Dinge gerne anzupacken, andere schrecken vor Schwierigkeiten eher zurück und lassen sich durch sie leicht davon abhalten, das Richtige oder Nötige zu tun. Dafür sind sie bedächtiger, im Unterschied zu jenen, die sich leicht aus oberflächlicher Begeisterung zu kühnen, aber vielleicht unklugen Unternehmungen hinreißen lassen.

Deshalb bedarf verantwortliche Freiheit der Tugenden. „Sittliche Tugenden“ sind jene erworbenen Dispositionen, die natürliche Charaktermängel oder charakterliche Einseitigkeiten ausgleichen, den Charakter vervollkommnen und menschliches Entscheiden und Tun auf das Gute ausrichten. Man unterscheidet deshalb vier große Grundtugenden, in denen alle anderen ihren Angelpunkt besitzen („Kardinaltugenden“) und auf die hin sie irgendwie geordnet sind: Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Tapferkeit.

Was ergibt sich daraus für die staatliche und wirtschaftliche Ordnung?

Aus dem Gesagten ergibt sich eigentlich mit logischer Stringenz, dass die staatliche Ordnung eine Ordnung der Freiheitsermöglichung sein sollte, die dem Menschen nicht auf paternalistische Weise vorgibt, worin sein Glück besteht und wie er sein Leben zu organisieren hat. Sie muss vielmehr eine Ordnung sein, die den Bürgern Freiheit ermöglicht, diese vor dem Missbrauch der Freiheit ihrer Mitbürger schützt und davon ausgeht, dass die Bürger die Verantwortung für ihre Handlungen tragen. Schließlich sollte sie auch eine Ordnung sein, die es dem Menschen ermöglicht, ein tugendhaftes Leben zu führen. Dies nicht im dem Sinne, dass der Staat eine moralische Erziehungsanstalt wäre; vielmehr sollten staatliche Institutionen und Gesetze Anreize setzen, die nicht unverantwortliches und lasterhaftes, sondern tugendhaftes Verhalten und damit Potenzierung der Freiheit begünstigen. Der Staat und die Gesetze sind nicht dazu da, Moral zu lehren. Doch sollten sie rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen bereitstellen, die jenen Tugenden förderlich sind, die für das menschliche Zusammenleben unabdingbar und möglich sind: Achtung vor dem Leben, Respekt vor dem Eigentum, Treue in mitmenschlichen Beziehungen und Ehrlichkeit, das Einhalten von Verträgen, die Fähigkeit, Interesse am Wohl des Mitmenschen – zu dem man in einer Beziehung z.B. als Arbeitgeber, Nachbar oder Erziehungsverantwortlicher steht – zu entwickeln, und zwar nicht nur aus Eigeninteresse, sondern indem man sich auch mit den legitimen Interessen dieser Mit-Menschen solidarisch betrachtet.

Deshalb sollte meiner Ansicht nach der Staat auch eine Wirtschaftordnung fördern, die Freiheit und Eigenverantwortung unterstützt und entsprechende Anreize setzt: Anreize zum eigenverantwortlichen, gerechten, klugen, ehrlichen, initiativen und für die Zukunft nachhaltigen Handeln, das deshalb auch das richtige Maß kennt und sich durch den Mut auszeichnet, das Richtige zu tun, auch wenn man dafür gegen den Strom schwimmen muss oder nicht den Ansprüchen der politischen Korrektheit entspricht. Politik und Gesetze hingegen, die falsche Anreize setzen, indem sie Freiheit und Selbstverantwortung dadurch unterminieren, dass sie ihr Gegenteil vorteilhafter erscheinen lassen, arbeiten letztlich gegen den Menschen und gegen die gemeinsamen Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft, das heißt: gegen das Gemeinwohl.

Genau aus diesem Grund, so scheint mir, ist für eine politische und rechtliche Ordnung zu plädieren, die das freie Unternehmertum fördert und konsequent marktwirtschaftlich orientiert ist. Ein auf einer freien Wirtschaftsordnung gründendes Gemeinwesen vertraut auf die Kräfte der Eigeninitiative, auf unternehmerische Kreativität, Innovation und auf dadurch ermöglichtes nicht nur quantitatives sondern auch qualitatives Wachstum.

Warum erscheinen „Freiheit“ und „Marktwirtschaft“ vielen Zeitgenossen wenig attraktiv?

Freiheit und Marktwirtschaft erscheinen heute aber einer breiten Öffentlichkeit zunehmend als weniger attraktiv. Nachdem man nach der großen Wende im Jahre 1989 zur Meinung gelangte, nun sei das Ende der Geschichte erreicht und der Triumph der liberalen Marktwirtschaft sei endgültig, wächst heute nicht nur die Skepsis, sondern beginnt sich geradezu eine Ablehnung der Idee der freien Marktwirtschaft auszubreiten. Laut Umfragen sind heute beispielswiese eine Mehrheit der deutschen Bürger davon überzeugt, dass die Marktwirtschaft ungeeignet sei, um die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre erzeugten Probleme zu lösen; vor allem aber ist immer mehr die Meinung verbreitet, der Markt könne keine „soziale Gerechtigkeit“ schaffen, ja freie Marktwirtschaft führe zu immer größerer Ungleichheit und damit zu Ungerechtigkeit. Der freie, unregulierte Markt sei letztlich auch schuld an der Finanz- und Wirtschaftskrise. Deshalb seien mehr Regulierung und mehr Transferleistungen von Reich zu Arm, sprich Umverteilung, vonnöten.

Ich bin der Meinung, dass solche Vorstellungen und Forderungen, die vor allem von sozialistischer Seite, aber auch von normalerweise linkslastigen kirchlichen Gremien, Kommissionen und Räten, zunehmend aber auch von traditionellen Mitteparteien vorgetragen werden, auf einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit, aber auch auf einer Fehlinterpretation der Geschichte beruhen. Sie beruhen auf der Meinung, die Finanz- und Wirtschaftskrise sei von den Kräften des freien Marktes verursacht worden und diese Krise sei ein typisches Beispiel für „Marktversagen“, weshalb die Politik nun korrigierend eingreifen müsse.

Ich sehe diese Dinge anders, und ich möchte meine alternative Sicht im Folgenden etwas detaillierter darlegen, weil sich meiner Ansicht nach daraus nämlich weitgehend von selbst ergibt, was aus moralphilosophischer Sicht zu dem mir gestellten Thema „Freiheit und Verantwortung des Bürgers“ zu sagen ist.

Zunächst: Ursache der Finanz- und Wirtschaftskrise war in Wirklichkeit nicht Marktversagen, sondern Staatsversagen. Es waren staatliche Eingriffe in den Markt, die die Dinge aus dem Lot brachten. Die Euro-Währungsgemeinschaft, ein durch und durch aus politischem Kalkül und nicht aus wirtschaftlicher Vernunft entstandenes Projekt, ermöglichte es den Ländern der südlichen Peripherie, den Kurs unverantwortlicher Budgetpolitik und politisch gesteuerter Kreditvergabe zu fahren, wobei sie es versäumten, die Lösung ihrer marktfeindlichen strukturellen Probleme an die Hand zu nehmen. Dadurch wurde eine gewaltige Kreditblase verursacht; Fehlinvestitionen gigantischen Ausmaßes, welche die Kräfte des freien Marktes und echt unternehmerisches Handeln niemals hervorgebracht hätten, führten schließlich dazu, dass diese Länder zu Sanierungsfällen wurden und das Eurosystem an den Rand des Abgrundes schlidderte.

Begonnen hatte ja, wie wohlbekannt ist, alles mit der Subprimekrise auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt, selbst der wohl eklatanteste Fall von Politik- und Staatsversagen. Es war das mit Präsident Roosevelt beginnende, von Präsident Clinton entscheidend geförderte und dann schließlich mit Präsident George W. Bush zu seinem Höhepunkt gelangende Projekt, jedem amerikanischen Bürger ein Eigenheim zu ermöglichen. Treibende Kraft war also die Politik: Sie verlieh den großen Hypothekarinstituten Staatsgarantie, die Gerichte zwangen mit politischem Druck die Banken, Hypotheken auch an kreditunwürdige Bürger zu verleihen. Die durch Staatsgarantie abgesicherten Hypothekarbanken Fannie Mae und Freddie Mac schufen darauf die das gesamte Finanzsystem vergiftenden neuen Finanzprodukte, die in der Folge, AAA „geratet“, die Finanzmärkte überschwemmten, die Gier nach dem schnellen Geld wach riefen und das Bankwesen weltweit in die Krise stürzten.

All dies war staats- und politikgetriebene Unvernunft, hinter der letztlich die Garantien der Absicherung durch das staatliche Geldmonopol und den lender of last resort, das heißt das Federal Reserve Board ‒ die amerikanische Zentralbank ‒ stand. Diese ist ein staatlich privilegierter und geschützter privater Monopolbetrieb, der den amerikanischen Banken gehört und in ihrem Interesse agiert.

Als die Dinge aus dem Ruder zu laufen begannen, wurde die Notenpresse aktiviert, und zwar nicht nur am Anfang, um die Banken zur Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs mit Liquidität zu versorgen, sondern schließlich auf Dauer, um durch billiges Geld Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik zu betreiben sowie um durch tiefe Zinsen das Problem der immensen öffentlichen und zum Teil auch privaten Verschuldung „erträglich“ zu machen und seine Lösung auf die kommenden Generationen abzuschieben.

Meiner Ansicht nach sollte jeder, bevor er leichtfertig von Marktversagen spricht und die Ursache der Krise dem freien Markt und dem Kapitalismus in die Schuhe schiebt, sich der fundamentalen Tatsache stellen, dass unser Geldsystem kein marktwirtschaftliches System ist, dass unsere Finanzmärkte vom System her ein Produkt staatlicher Intervention in den freien Markt darstellen und deshalb innerhalb von Marktwirtschaft und Kapitalismus in ihrer heutigen Funktionsweise eigentlich als dysfunktionaler Fremdkörper betrachtet werden müssen. Liberale und marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen – ich denke etwa an Wilhelm Röpke oder Ludwig Erhard – haben daraus die Forderung abgeleitet, das Geld auf jeden Fall knapp zu halten und jeglicher Versuchung einer Inflationierung der Geldmenge zu widerstehen. Andere, vor allem Anhänger der österreichischen Schule der Nationalökonomie, fordern konsequenter, das staatliche Geldmonopol abzuschaffen und den Wettbewerb verschiedener Währungen zuzulassen, die Geldproduktion also dem freien Markt zu überlassen.

Was auch immer die Lösung sein mag: An der Erhaltung des bisherigen Systems staatlicher Interventionen und eines staatlich kontrollierten Geldsystems interessiert sind – neben Zentralbankern und Investmentbankern – vor allem Politiker, denn dieses System vergrößert ihre Bedeutung und ihre Macht. Sie hämmern uns ununterbrochen ein, nun sei die Stunde der Politik gekommen und die Politik müsse endlich das Diktat der Logik der Märkte in die Schranken weisen (was aber unmöglich ist, denn schlussendlich setzt sich die Logik des Marktes immer durch, weil die Logik des Marktes die Logik der Natur der Dinge ist).

Zudem können Politiker bzw. Regierungen unter den Bedingungen der heutigen Anspruchsdemokratie nur wiedergewählt werden, wenn sie ihre Wähler durch immer wieder neue Versprechungen bei der Stange halten – Versprechungen, deren Einlösung mit steigender öffentlicher Verschuldung einhergeht, was letztlich wiederum nur dank der „Notenpresse“, die sich in den Händen des Staates befindet, möglich ist. Politiker haben demnach auch ein Interesse an der sich aus der zunehmenden Verschuldung ergebenden Inflationskultur. Sie hämmern dem Bürger die Keynesianische Weisheit ein: „Dadurch dass ihr mehr konsumiert und euch verschuldet, erweist ihr der Wirtschaft und der Allgemeinheit einen Dienst, weil ihr damit helft, die Wirtschaft anzukurbeln“ – als ob man durch Konsumieren und durch Schulden reicher würde. Schuldenwirtschaft und Inflationskultur passen gut zusammen, aber sie passen überhaupt nicht zu einer freien Marktwirtschaft und zu dem, was man „Kapitalismus“ nennt: einem freien und nachhaltig-innovativen Unternehmertum. Denn dieses beruht nicht auf Konsum, Schuldenmacherei und Verschwendung von Ressourcen, sondern auf Sparen und Investition und die dadurch ermöglichten realen und nachhaltigen Wohlstandsgewinne (die sich allerdings noch nicht unbedingt bei den nächsten Wahlen bemerkbar machen, wohl aber, im Unterschied zur Verschuldung, auch für die nachkommenden Generationen von Vorteil sind).

Eine solche alternative, wie mir scheint ehrlichere und zutreffendere Diagnose halte ich für notwendig, um zu einer moralischen Beurteilung und zu ethisch relevanten praktischen Schlussfolgerungen zu gelangen. Vielleicht haben Sie sich gefragt, weshalb ein katholischer Theologe und Moralphilosoph sich in die „Niederungen“ ökonomischer Analysen und Wertungen hinablässt. Ich denke, das ist nötig, weil man ohne solche Analysen und Wertungen auch keine moralisch sinnvollen und relevanten Aussagen über Fragen, wie sie zu meinem heutigen Thema gehören, machen kann. Moralphilosophie und ebenso Moraltheologie müssen ökonomisch aufgeklärt argumentieren; andernfalls verkommen sie in ihren Urteilen über wirtschaftliche Fragen zum bloßen Moralismus.

Das gilt auch und besonders für die Frage der Beziehung zwischen Eigenverantwortung und Solidarität, ja was überhaupt „Solidarität“, was „soziale Gerechtigkeit“ und entsprechende Verantwortung des Bürgers heißen könnte.

Selbstverantwortung, Solidarität, „soziale Gerechtigkeit“

Zunächst scheint mir vor allem wichtig, sich von dem verhängnisvollen Vorurteil zu lösen, der Markt sei grundsätzlich ein Problem, Politik und Staat seien hingegen die Lösung. Meiner Meinung nach verhält es sich genau umgekehrt: Der Markt bedarf zwar einer rechtlichen und institutionellen Rahmenordnung, vor allem einer fairen Wettbewerbsordnung, mit Regeln, die für alle ausnahmslos gleich gelten, ohne rechtliche Privilegierungen wie Subventionen oder protektionistische Maßnahmen. Was den Staat betrifft, so ist das Wichtigste, seine Macht und Aufgabenbereiche auf das notwendige Minimum zu beschränken. Die Gefahr ist nicht der Markt, sondern Staatsgläubigkeit. Staatsgläubigkeit – der Glaube, der Staat könne es prinzipiell besser als der Markt – ist der direkteste Weg in die bürgerliche Verantwortungslosigkeit, den Verlust der Freiheit und die alle, auch zukünftige Generationen schädigende Verschwendung von Ressourcen.

Die fortgeschrittene, westliche Welt verdankt ihren Reichtum – und zwar einen in der Geschichte noch nie dagewesenen Massenreichtum bis hinein in die untersten Gesellschaftsschichten – dem Kapitalismus und den Koordinationsmechanismen des freien Marktes. Und man muss hinzufügen: Trotz allem, nämlich trotz aller dauernder politischer Behinderungen der für alle sozialen Schichten wohlstandssteigernden Mechanismen des freien Marktes. Diese Behinderungen waren mannigfaltig und konstant und gehören eigentlich bis zum heutigen Tag mit zur Geschichte des Kapitalismus. Das Erstaunliche ist in Wirklichkeit, wie gut sich trotz aller staatlichen und politischen Behinderungen während der letzten hundertfünfzig Jahre die kapitalistische und marktwirtschaftliche Dynamik zu entfalten vermochte (und dies trotz Kriegen, die dem Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft keineswegs förderlich waren, sondern vielmehr – beginnend mit dem Ersten Weltkrieg – die Macht des Staates und seinen Interventionsspielraum ins Unermessliche potenzierten).

Meiner Ansicht nach verlangen Solidarität und soziale Gerechtigkeit in erster Linie, Nichtbehinderung des freien Marktes durch politisch motivierte staatliche Eingriffe in den Preismechanismus des Marktes, damit die innovative und wohlstandschaffende Dynamik des Kapitalismus ihr ganzes Potenzial entfalten kann. Dazu brauchen wir eine Kultur der Freiheit, die unternehmerische Initiative, Selbstverantwortung, Kreativität und Innovation fördert und dadurch entstehende momentane, aber auch strukturelle Ungleichheiten nicht als ungerecht und gar skandalös verteufelt, sondern ganz im Gegenteil als für das Gemeinwohl nutzbringend erkennt, weil sie eben, im Unterschied zur heute sozialstaatlich ramponierten und ihrer Effizienz beraubten Marktwirtschaft, größeren Wohlstand für alle schaffen.

Eine solche Kultur der Freiheit erfordert gerade heute, im Zeitalter zunehmender Globalisierung, auch offene Grenzen für die Migration. Alle Menschen sollten die Chance haben, in dem Land zu arbeiten, in dem sie arbeiten wollen, und dies zu den Löhnen, für die sie zu arbeiten bereit sind, weil eine solche Arbeit für sie vorteilhafter als das Verbleiben in ihrem Ursprungsland ist. Auch wenn diese Löhne tief sind, wird es für diese Menschen ein Gewinn sein (sonst würden sie nicht kommen) und ihnen ermöglichen, sich nach oben zu arbeiten. Auch für das Einwanderungsland sind arbeitswillige Einwanderer auf lange Sicht immer ein wirtschaftlicher Gewinn. Nur die Gewerkschaften und ihre Klientel werden durch freie Arbeitsmärkte an Macht verlieren und sich deshalb gegenüber schlecht qualifizierten und anfänglich noch wenig produktiven Einwanderern unsolidarisch verhalten, ja die Offenheit des Arbeitsmarktes mit dem ganzen Arsenal emotionaler Appelle bekämpfen, dabei aber gerade die Ärmsten, die Unqualifiziertesten und die Bedürftigsten ausschließen.

Auch die egoistische Verteidigung eines national ausgerichteten Sozialsystems, das auf unsolidarische Weise die eigenen Schäfchen bevorteilt und deshalb der Immigration Schranken zu setzen sucht oder sie mit „flankierenden Maßnahmen“ erschweren will, scheint mir gerade ein Mangel an wahrer Solidarität zu sein, die sich auf alle Arbeit suchenden Menschen, nicht nur auf die bereits hier etablierten Hochlohnempfänger richten sollte.

„Solidarität“ hat deshalb viel mit Freiheit zu tun, obwohl wir uns daran gewöhnt haben, sie mit „Sozialstaat“, „Umverteilung“ und „Transferleistungen“ aller Art – und auch mit „Mindestlohn“ – zu identifizieren. Dadurch jedoch wird der Bürger – in der Schweiz etwas weniger und dank Föderalismus und Gemeindeautonomie in erträglicherer und weniger ineffizienter Weise – zunehmend vom Staat abhängig. In den heutigen Wohlfahrtsstaaten wird ja jeder Bürger – auch der reichste – als potenzieller Sozialfall behandelt und lückenlos abgesichert.

Der moderne Sozial- und Wohlfahrtsstaat hat die natürlichen und geschichtlich gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen der Solidarität zu weiten Teilen zerstört und teilweise auch neue Armut geschaffen, an deren Weiterbestehen die Sozialbürokratie und ihre Lohnempfänger ein Interesse besitzen. Menschen, die in staatlichen Institutionen und Bürokratien arbeiten, werden aus diesem Grund nicht einfach plötzlich zu besseren Menschen oder zu solchen, die nicht mehr ihr Eigeninteresse verfolgen. Auch Beamte sind Menschen mit Eigeninteressen, und konkret haben sie ein Interesse an der Erhaltung und sogar an der Ausweitung des bürokratischen Apparates, denn dieser bildet ihre Lebensgrundlage und ihre Einkommensquelle und sein stetiges Wachsen gibt ihnen mehr Macht und Einfluss oder eröffnet neue Aufstiegsmöglichkeiten. Politiker hingegen wollen in der Regel wiedergewählt werden und verhalten sich entsprechend.

Der heutige Sozialstaat hat deshalb nicht nur ein Interesse an der Perpetuierung von Armut – weshalb er sie immer wieder neu definiert –, er ist auch mitverantwortlich für den Niedergang der Familie und den von ihr geschaffenen sozialen Netzen und damit gerade für die Existenz realer Armut. Leider sind es heute oft gerade Liberale, die sich aus Angst, die politische Korrektheit zu verletzen, nicht getrauen, für die Stärkung gesunder Familienstrukturen einzutreten, oder die gar entgegengesetzten Tendenzen das Wort reden, etwa indem sie im Kielwasser einer ursprünglich linken Gleichheitsideologie auf Biegen und Brechen eine weit über die rechtliche Nichtdiskriminierung hinausgehende Gleichstellung der Frau und damit zunehmend die Vergesellschaftung von Familie und Erziehung betreiben. Friedrich Engels, der in der Abschaffung der traditionellen Familie und in der totalen Integration der Frau in die Arbeitswelt die Lösung erblickte, lässt grüßen. Frauen sollten selber frei wählen können, ob sie sich in die außerfamiliäre Arbeits- und Berufswelt eingliedern wollen; sie sollten dazu nicht gezwungen werden, weil infolge immer höherer Steuer- und Abgabenbelastung und wegen des durch mannigfache Überregulierungen bewirkten Kaufkraftverlustes des Geldes das Arbeitseinkommen nur eines Familienmitgliedes ungenügend ist.

Was wir brauchen, so scheint mir, ist ein neues Gespür für das Prinzip der Subsidiarität, für die grundlegende Aufgabe der Familie als Reproduktionsgemeinschaft und Gemeinschaft der Weitergabe von Sozialkompetenz, Kultur und Reichtum, ein tieferes Gespür für die segensreiche Funktion des Privateigentums und der daran geknüpften Kultur unternehmerischen Handelns, von Selbstverantwortung und langfristigem Denken, das zu nachhaltigen Lösungen statt zu kurzfristigen und populären politischen Erfolgen führt. Nötig ist aber auch die Bereitschaft, die sich daraus unvermeidlich ergebende Ungleichheit nicht als ungerecht zu diffamieren, sondern ihre Unvermeidlichkeit und ihren Nutzen für die Gesamtgesellschaft zu erkennen (wozu auch der Hinweis darauf gehört, wie sehr gerade Erbschaftssteuern dem Gemeinwohl abträglich sind).

Unternehmerisches Handeln ist erfordert – auf allen Ebenen

Das alles sind durchaus Forderungen ethischer Art, wie sie sich dem ökonomisch aufgeklärten Blick auf die moralischen Probleme der westlichen Gesellschaften ergeben. Natürlich befinden wir uns in einer moralischen Krise. Aber diese ist nicht aus dem Nichts gekommen. Sie selbst ist auch Folge politischer Fehlentscheidungen und dadurch geschaffener Strukturen, die falsche moralische Anreize schaffen.

Strukturen, die falsche Anreize schaffen, entsolidiarisieren die Gesellschaft, machen uns auch wirtschaftlich ärmer und berauben uns der Ressourcen, die nötig wären, damit freie Initiative, ja die oft beschworene Zivilgesellschaft eben, auch für die Zukunft tragende Lösungen für Fragen der sogenannten „sozialen Gerechtigkeit“ finden könnte. Auch die Kirche, so glaube ich, sollte vermehrt zu Freiheit und Eigenverantwortung ermutigen, anstatt über Ungleichheit zu klagen und mehr Umverteilung zu fordern. Sie sollte ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips und ihrer Hochhaltung des Privateigentums, das ja sozial verpflichtet und die zugunsten einer als staatliche Umverteilung verstandenen Solidarität zumeist vergessen werden, zu unternehmerischem Geist aus Freiheit und Selbstverantwortung ermutigen, und zwar zu unternehmerischem Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen. Unternehmerisch handeln kann man nicht nur im großen Maßstab. Man kann und sollte es auch – und durchaus, um damit Geld zu verdienen – im Bereich des Angebots sozialer Dienstleistungen, der Altersvorsorge, der Absicherung gegen Risiken wie Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Ja, jede Familie, wenn sie für Kinder offen ist, ist ein kleines Wirtschaftsunternehmen – oder sollte es sein. Leider hat ihr der Staat bereits die wichtigsten Aufgaben und Entscheidungen entzogen, so dass es auch kein Vorteil mehr ist, Kinder großzuziehen.

Das heißt nicht, dass, falls andere Möglichkeiten fehlen, der Staat – möglichst auf der untersten Ebene der Gemeinde – für Menschen, die in Not geraten sind und sich nicht selber helfen können, ein soziales Netz aufspannt, das vorübergehende Not zu lindern vermag und diesen Menschen eine Chance bietet, sich wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Wer aufgrund seines Alters, physischer oder psychischer Krankheit oder aus ähnlichen Gründen dazu nicht in der Lage ist, darf von der Gesellschaft nicht im Stich gelassen werden. Allerdings sollte auch hier der Staat nur einspringen, wenn die Zivilgesellschaft selbst dazu nicht in der Lage ist; bzw. er sollte die Zivilgesellschaft darin unterstützen, selbst solche Initiativen zu realisieren. Das war früher einmal im großen Stil der Fall gewesen. Der moderne Sozialstaat stieß nicht in ein soziales Vakuum, sondern verdrängte vor allem in den angelsächsischen Ländern, aber auch in Deutschland, eine reiche Kultur auf privater Basis arbeitender sogenannter friendly societies oder fraternal societies, die auf dem Prinzip von mutual aid bzw. der Selbsthilfe beruhten und durch die im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts bereits Millionen von Arbeitern eine Absicherung vor Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie eine Altersvorsorge erhalten konnten. Der moderne Sozialstaat hat diese Kultur solidarischer zivilgesellschaftlicher Selbsthilfe und ihr Entwicklungspotential jedoch weitgehend zerstört und an deren Stelle den auf Dauer nicht finanzierbaren und letztlich selbstzerstörerischen Wohlfahrtsstaat gesetzt.

Weil in Zeiten der Globalisierung und immer stärkeren Migration nationalstaatlich-etatistische Lösungen versagen müssen, sollten meiner Ansicht nach gerade Christen konsequent freiheitlich, liberal und marktwirtschaftlich denken, ohne Scheu den Kapitalismus und seine enormen Leistungen verteidigen, und gerade weil sie sozial sind, sich Lösungen zuwenden, die nicht auf staatlichem Zwang beruhen, sondern der Freiheit und den schöpferischen Kräften des Individuums und des freien Marktes entspringen.

Dieser Text entspricht weitgehend einem Vortrag an der Tagung der Paulus Akademie Zürich ‚Aushöhlung von Demokratie und Marktwirtschaft – Gefährdete Ordnungen der Freiheit‘, 18. 9. 2014, und ist dort unter einem leicht anderen Titel als PDF-Datei abrufbar:

http://www.paulus-akademie.ch/index.php?&na=1,2,0,0,d,120356

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