Deutschland zwischen gefühlter Armut und eingebildetem Reichtum

Deutschland ist ein reiches Land, das sich viel Armut leistet. So geht die Klage zwischen Kiel und Konstanz, die umso lauter vorgetragen wird, je näher Gasnotstand und Urnengänge rücken. Und Wahlen drohen in der föderalen Bundesrepublik irgendwo immer. Wobei CDU und CSU im Wettstreit um die größten Spendierhosen der SPD um nichts mehr nachstehen wollen.

Viel Not ist hausgemacht und importiert. Die wahren Ursachen des Wohlstandsverlustes werden ignoriert.

Bayerns Ministerpräsident Söder toppt die SPD nun mit der Forderung nach einem „Winter-Wohngeld“ für alle. Und alle gemeinsam haben sie die Rentner als Notleidende entdeckt, denen man zwingend ebenfalls eine „Energiepauschale“ von 300 Euro überweisen müsse. Dafür gibt es bundesweit viel Zustimmung. Niemand soll in der Kälte stehen, wenn der warme Geldregen niedergeht.

Bedürftigkeit in Deutschland weniger von Fakten als von Ideologie begründet

Das ist insofern kurios, da es keiner Senioren-Generation besser geht als der jetzigen. Nur etwa drei Prozent der 21 Millionen Rentner sind auf Grundsicherung angewiesen. Und das, obwohl private Vermögen bei der Berechnung der Bedürftigkeit nicht einmal berücksichtigt werden dürfen. Diese Einnahmen, etwa Zinsen, Dividenden oder Mieten, bleiben auch den Rentenversicherern verborgen. Mit der Folge, dass auch die Seniorin, die als Hilfskraft im Familienunternehmen pro forma als Mini-Jobberin angemeldet wurde, um günstig sozialversichert zu sein, selbst dann zu den „Kleinrentnern“ zählt, wenn sie aus einem Mietshaus stattlicher Erträge bezieht.

Dieses nicht seltene Beispiel verdeutlicht, dass Bedürftigkeit in Deutschland weniger von den Fakten als von Ideologie begründet ist. 21 Millionen Rentner stellen beinahe ein Drittel der Wählerschaft. Derweil Jugendliche (15 bis 24 Jahre) mit 8,3 Millionen einen neuen Tiefststand erreicht haben. Also beglückt der aktuelle Sozialminister Heil (SPD) die Senioren mit der höchsten Rentenerhöhung seit 30 Jahren: 5,35 Prozent im Westen, 6,12 Prozent im Osten. Das kostet die Alterskassen eben mal 19 Milliarden Euro, weitere 2,6 Milliarden für Zuschläge bei Erwerbsminderung. Die Rente mit 63, ebenfalls ein teurer Wahlköder der SPD, kostet 36 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz steigend, denn die Frührente ist trotz Abschlägen populär, was zugleich die Klagen über die Not der Rentner widerlegt. Auch der Student, der 900 Euro Bafög erhält und von den Eltern gesponsert wird und Aussicht auf einen gut bezahlten Job hat, fällt in die Armuts-Kategorie.

Ein nicht unerheblicher Teil der nun so lautstark beklagten „neuen Armut“ ist importiert. Doch wer dies benennt, wird in Deutschland sogleich als „Rassist“, „Ausländerfeind“ oder gleich „Faschist“ zum Schweigen gebracht.

Gleichwohl fahnden die Medien geradezu nach Bedürftigen, die sich steigende Energie- und Lebensmittelpreise nicht mehr leisten können. Selbst die Grünen, denen beides aus ökologischen Umerziehungsgründen bislang nicht teuer genug sein konnte, stimmen ein in das paternalistische Schnüren von Hilfspaketen. Landwirtschaftsminister Özdemir, der noch vor dem Überfall auf die Ukraine, die „Ramschpreise“ insbesondere bei Fleisch beklagt hatte, sorgt sich nun um „leere Kühlschränke“. Selbst die verpönte Urlaubsreise wird plötzlich zum Armutsindikator. Dabei zeugen das Chaos an den Flughäfen und lange Staus auf den Autobahnen vom Gegenteil. Es sind auch keine Hungerbäuche, die sich an den Büfetts der Kreuzfahrtschiffe drängen, zu deren treuesten Kunden die angeblich so notleidenden Senioren zählen.

Auch die Klagen der Tafeln über mangelnden Nachschub bei gleichzeitig wachsender Nachfrage nach (fast) kostenlosen Lebensmitteln sind kein Indikator für wachsende Armut. Einmal haben diese Hilfsaktionen durch ein wachsendes Angebot den Bedarf selbst gefördert, zum anderen lohnt ein Blick auf die Kundschaft. Es wird in diesen sozialen Einrichtungen kaum deutsch gesprochen: Ein nicht unerheblicher Teil der nun so lautstark beklagten „neuen Armut“ ist importiert. Doch wer dies benennt, wird in Deutschland sogleich als „Rassist“, „Ausländerfeind“ oder gleich „Faschist“ zum Schweigen gebracht. Zahlen, so sie überhaupt erhoben werden, bleiben Geheimsache. Auch Friedrich Merz, der als CDU-Vorsitzender um ein liberales Image bemüht ist, wiederholt seine Aussage nicht mehr, wonach es ohne Zuwanderung „eine Million weniger Hartz IV-Empfänger gäbe“.

Weltmeister in Humanität – nicht ohne politisches Kalkül

Obwohl Deutschland nicht nur bei der Bahn an seine Belastungsgrenzen stößt, will die Ampel-Regierung die Attraktivität für Zuwanderung in die Sozialsysteme noch ausweiten. So soll das Bleiberecht auf beinahe jeden ausgeweitet werden, wer es irgendwie ins Land schafft. 2021 waren das allein 190 000 weitere Asylbewerber – denn Deutschland ist und bleibt das Hauptzielland aller in die EU Flüchtenden. Über 900 000 Ukrainer, die soziale Vollversorgung wie einheimische Steuerzahler genießen, kamen bislang 2022 hinzu. Da SPD und Grüne zugleich die deutsche Höchstbesteuerung weiter nach oben schrauben wollen und auch die Sozialbeiträge bald die 40-Prozent-Marke überschreiten dürften, werden die begehrten Hochtalentierten künftig einen noch größeren Bogen um Deutschland machen. Abzulesen auch an den 131 000 Einbürgerungen im vergangenen Jahr, die erneut um 20 Prozent gestiegen waren: Es sind vor allem Syrer, Türken, Rumänen und Polen, die einen deutschen Pass erhalten. Nicht Schweizer, US-Amerikaner oder Bürger aus anderen wohlhabenden Staaten. Dorthin zieht es hingegen die talentierten Deutschen.

Diese allseits propagierte großzügige Willkommenskultur ist nicht nur dem Anspruch geschuldet, endlich Weltmeister der Humanität zu sein. Dahinter steckt auch politisches Kalkül: Je mehr Armut mit fragwürdigen Statistiken „belegt“ werden kann, desto leichter fällt die Umverteilung von oben nach unten. Zugleich lässt sich die soziale Marktwirtschaft als kalten Neoliberalismus anprangern und die sozialistische Planwirtschaft vorantreiben. In München gelten 3850 Euro netto für einen Vier-Personen-Haushalt als „Armutsgefährdungsschwelle“. Was wiederum erklärt, dass sich auch für einfache Tätigkeiten keine Bewerber melden: Hartz IV ist finanziell oftmals attraktiver, als für mindestens 12 Euro die Stunde zu kellnern oder Koffer am Flughafen zu wuchten.

Das erklärt eine sozialpolitische Diskrepanz in Deutschland: Einerseits sind allein bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) die Rekordzahl von 1,7 Millionen offene Stellen gemeldet. Zugleich aber wird an mindestens 1,6 Millionen Personen, die als arbeitsfähig gelten, dieses Sozialleistung ausbezahlt. Doch anstatt diesen Widerspruch zu ahnden, wird der Druck auf Arbeitsunwillige generös gesenkt und die Zahlungen, die bald „Bürgergeld“ heißen sollen, auch noch erhöht. Der allseits beklagte Arbeitskräftemangel, der bereits zu Produktionsausfällen führt, wird also vom grün-roten Teil der Regierung noch verschärft.

Wohlstandsverluste: Politische Fehler werden totgeschwiegen

Natürlich sind auch in Deutschland immer mehr Menschen von Wohlstandsverlust betroffen. Rasant steigende Kosten für Energie, Wohnen und die Inflation schmälern auch in der gehobenen Mittelschicht das verfügbare Einkommen. Doch bei alldem wird so getan, als seien wahlweise Putin, Seuchen (Corona) oder gierige Spekulanten (Mineralölindustrie) Schuld. Nicht eine verfehlte Energiewende, die ersatzlos Atom- und Kohlekraftwerke stilllegt; nicht eine EZB, die mit Geldflutung verbotene Staatsfinanzierung betreibt und die Preisblasen schafft; und auch nicht eine ausufernde Wohlfahrtspolitik, die sich als Großsponsor für alle gefühlten Notlagen eine Fürsorgeillusion schafft. Allein in den letzten drei Jahren hat Berlin dafür zusätzlich eine halbe Billion Euro Schulden gemacht. Alle Zahlungsverpflichtungen hinzugerechnet, belaufen sich diese mittlerweile auf 14,7 Billionen Euro, wie das Freiburger Forschungszentrum für Generationenverträge  errechnet hat. Allein die Pensionslasten für die Beamten, die im Schnitt mit über 3000 Euro im Monat dreifach über den Sozialrentnern liegen, summieren sich auf 2,7 Billionen Euro. Dabei droht Deutschland eine tiefgreifende Rezession erst und folgenschwere Deindustrialisierung aufgrund unsicherer und teurer Energieversorgung.

Bund, Länder und Gemeinden leben seit Jahren über ihre Verhältnisse. Von der Bildung bis zu Bundesbahn liegt vieles im Argen. Trotz ständig steigender Steuereinnahmen. Doch die werden vorrangig für Soziales ausgegeben, also konsumiert statt investiert.

Deshalb stimmt auch das zweite Narrativ nicht: Deutschland ist lange nicht so reich, wie es sich fühlt. Bund, Länder und Gemeinden leben seit Jahren über ihre Verhältnisse. Von der Bildung bis zu Bundesbahn liegt vieles im Argen. Trotz ständig steigender Steuereinnahmen. Doch die werden vorrangig für Soziales ausgegeben, also konsumiert statt investiert. Jeder vierte Euro, der in Deutschland erwirtschaftet wird, fließt in soziale Töpfe. Beim Etat des Bundes sind es von 495,8 Milliarden mit 248,5 Milliarden sogar die Hälfte.

Auf die Idee, die Prioritäten neu zu ordnen und sich auf das Wesentliche zu beschränken, kommt in dem Land nicht, das sich noch immer so gerne auf Ludwig Erhard besinnt. Stattdessen: Sorget Euch nicht, die Politik hilft. Länder und Kommunen überdenken nicht ihre stattlichen Ausgabenprogramme, sondern fordern stets nur, dass der Bund helfen müsse. So wird eine Opferkultur geschaffen, bei der jede Leistung neue Zu-kurz-gekommene schafft. Das ist insbesondere in der Ex-DDR zu besichtigen ist, wo das Frustpotential besonders hoch ist. Es ist eben nie genug.

Diesen Widerspruch spüren insbesondere die Wähler der SPD. Die aufstiegsorientierte Mittelschicht weiß nur zu gut, dass sie die Zeche für immer neue Hilfsprogramme zahlt, von denen sie selbst kaum profitiert. Stattdessen schmelzen ihre Lohnzuwächse durch die kalte Progression, die laut Bundesbank in diesem Jahr 13,5 Milliarden Euro abschöpft, dahin. Zugleich verliert das Ersparte durch eine Besorgnis erregende Inflation und eine verkorkste Energiepolitik an Wert. Nur die Grünen sehen die schleichende De-Industrialisierung Deutschlands insgeheim als Erfolg auf dem Weg zur Klimaneutralität. Wo es passt, wendet sich die Partei des öffentlichen Dienstes eben den ergebenen Christdemokraten zu. Die SPD bricht hingegen selbst in ihren „Herzkammern“ des Ruhrgebiets ein, die man der Armutswanderung aus Südost-Europa überlassen hat. Die Abkehr von der Agenda 2010, mit welcher der wegen seiner Putin-Freundschaft in Ungnade gefallene Alt-Kanzler Schröder das Land reformiert hat, hat sich für die Arbeiterpartei a. D. jedenfalls nicht ausgezahlt. Und für Deutschland erst recht nicht. Dabei müssten gerade die Sozialdemokraten mehr Schröder wagen, um für die Mittelschicht, die noch an Lohn durch Leistung glaubt, zurückzugewinnen. Doch mutige Reformer haben in Deutschland keine Stimme. Den Ton geben Sozialromantiker und Umverteiler an.

 

Dies ist die erweiterte Fassung eines Artikels, der unter dem Titel „Sorget euch nicht, die Politik hilft“ in der NZZ vom 27. Juli 2022, S. 19, erschienen ist.

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