Markt und Moral: Ist der Markt moralisch?

In den Ländern der westlichen Welt, die wir gemeinhin als Marktwirtschaften bezeichnen, verliert der Markt an politischer und gesellschaftlicher Reputation. Ganz gewiss nicht unschuldig am sinkenden Vertrauen in die Marktwirtschaft sind die internationalen Finanzkrisen ab 2007/08, ebenso auch die Betrugskrisen der Autobauer und erst recht die, wie manche es so nennen, „klimaschädigende Profitgier“ der Energieproduzenten, ganz abgesehen von den sehr eigenwilligen Politikvarianten der Marktwirtschaft des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Die Debatte um die soziale Ungleichheit, um die vermeintlich größer werdende Diskrepanz zwischen Arm und Reich ist sicher auch ein Treiber des Marktskeptizismus. All dies zeige doch, dass es keine Moral im marktwirtschaftlichen Kapitalismus gebe.

Deshalb erscheint es nötiger denn je, wieder einmal neu auf die Funktionen von Markt und Moral, von Marktwirtschaft und Menschenbild im Gegensatz zu Sozialismus und Umverteilung zu verweisen.

Sozialismus bedingt Kleingruppenmoral

Im Zentrum der Moraldebatte um Markt versus Staat, um Marktwirtschaft versus Sozialismus, steht die Beziehung zwischen Gewinn und Moral. Die Evaluierung dieser Beziehung kann ohne den Begriff des Wettbewerbs nicht adäquat erfolgen. Der Wettbewerb als zentrale Voraussetzung für funktionierende Marktwirtschaften beruht bekanntlich auf der durch Erfahrung als nützlich erkannten Ordnungsidee, das Eigeninteresse des Menschen als Triebkraft zu nutzen und zugleich als Bedrohung anderer zu neutralisieren.

Dieser Idee liegt die empirisch gehaltvolle Annahme zugrunde, dass die Menschen grundsätzlich eine egozentrierte Präferenzstruktur haben. Konkret heißt dies, dass die Durchschnittsmoral der Individuen – jedenfalls in unserem Kultur- und Zivilisationskreis – bei ihren Aktivitäten in der Mehrung ihres Eigennutzes, ihres eigenen Wohlstands, ihres eigenen Glücks besteht. Niemand wird vermutlich für das Wohl des Bundespräsidenten, des Bürgermeisters, des Chefs usw. arbeiten, sondern jeder will die Früchte seines Tuns primär für sich selbst ernten. Davon sind die Politiker in gar keiner Weise ausgenommen: Auch sie handeln prinzipiell aus Gründen der (Wieder-)Wahl, der politischen Macht, der Reputation, der Durchsetzung eigener Ideologie und anderer egozentrierter Motive. Diese individuelle Egozentriertheit, die in weiten Teilen der ökonomischen Wissenschaft als eine Art anthropologischer Konstante angesehen wird, schließt grundsätzlich aber auch die Familie, die engen Freunde, die Glaubensbrüder, der Kameraden usw. ein, also alle, die in Nicht-Marktbeziehungen sich eng miteinander verbunden fühlen. Und sie enthält am Rande, also nicht immer im Präferenzzentrum, auch die Kategorien der Nächstenliebe, des Mitleids, der Empathie, also der altruistischen Präferenzen des Einzelnen, der dann hilft und spendet und sich für Andere einsetzt. Insofern ist es wohl richtig zu sagen, dass der Sozialismus eine Kleingruppenmoral enthält, er funktioniert umso weniger, je größer die Menschengruppen und also je anonymer die Beziehungen zwischen den Menschen sind. Deshalb scheitern sozialismusaffine Institutionen auf lange Sicht regelmäßig in ganzen Staaten und natürlich erst recht in großen Integrationsräumen wie der EU.

Wettbewerb: die kontrollierende Triebkraft des Eigeninteresses

Die Wettbewerbsidee, die Triebkraft des Eigeninteresses mit der Kontrollfunktion gegenüber Fremdenschädigung zu nutzen, unterlag zu verschiedenen Zeiten bekanntlich unterschiedlichen Bewertungen. Adam Smith hat in seiner „Wealth of Nations“ von der unsichtbaren Hand gesprochen, die das egozentrierte Gewinnstreben etwa eines Bäckers oder generell eines Unternehmers, der Güter und Dienstleistungen seinen Kunden anbietet, in eine für die Gesellschaft nützliche Wohlstandsmehrung transformiert: Zwar habe kein Bäcker das Mitleidsmotiv, Brot zu backen und zu verkaufen, damit die Bevölkerung nicht verhungere, aber dennoch handele er in seinem eigeninteressierten Gewinnmotiv ungewollt genau in diesem Sinne.

Man kann es auch anders sagen: Der Gewinn eines Unternehmers repräsentiert durchaus ein Maß für ethisches Verhalten, weil ein Verlust die Existenz des Unternehmens und damit von Arbeitsplätzen und Kapital aufs Spiel setzt. Und Smith fügt noch hinzu, dass eine Gesellschaft, die nicht verhungern will, besser nicht auf ein altruistisches Motiv des Bäckers vertrauen sollte, weil dieses nicht verlässlich sei. „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“ Verlässlich sei vor allem das Gewinnstreben des Metzgers, Brauers oder Bäckers, das – ohne dass er dies direkt bewirken will – Hungersnot verhindert und damit Wohlstand produziert. Die Transformation des individuellen Eigennutzes in kollektive Nützlichkeit bedeutet mithin, dass nicht die Gesinnungsethik, sondern die Verantwortungsethik zum prinzipiellen Wertemaßstab unternehmerischen Verhaltens wird.

In dieser Unterscheidung nähern wir uns dem Soziologen Max Weber, der die Entstehung des Kapitalismus mit der protestantischen Ethik in Verbindung bringt. Die Triebkraft des Eigeninteresses im unternehmerischen Handeln impliziere letztlich auch das Bedürfnis nach Heilsgewissheit, denn unternehmerischer Erfolg könne als Signal für die Erwähltheit im Jenseits interpretiert werden, so argumentieren die Calvinisten. Dieses Gedankengut ist Ausfluss des Glaubens im Rahmen einer Leistungsreligion, die man in dieser Form des ökonomischen Anreizes nicht unbedingt teilen mag. Konsequenterweise müsse aber jeder Unternehmer den wirtschaftlichen Erfolg anstreben, um ein ruhiges Gewissen zu haben. Die Erwähltheit im Jenseits ist mithin eine positive intertemporale Funktion des irdischen Erfolgs. In diesem Sinne hat also unternehmerischer Erfolg, der sich letztlich im Gewinn niederschlägt, eine hohe moralische Rechtfertigung.

Man kann sagen, dass sich diese Auffassung inzwischen grundlegend gewandelt hat. Allgemein gilt wohl, dass unternehmerisches Gewinnstreben nicht nur keine Moral per se enthält, sondern dass es sich vielmehr moralisch erst legitimieren muss. Zudem ist nicht nur das Gewinnstreben als solches, sondern auch die Gewinnverwendung in den kritischen Fokus geraten, insbesondere, wenn man z. B. die heutigen Absurditäten der Gewährung von Bonuszahlungen und Abfindungsmodalitäten von Managern unter die Lupe nimmt. Und nicht zuletzt wird oft genug die moralische Zweifelhaftigkeit eines Beschäftigungsabbaus bei zugleich hohem Gewinn betont.

Der verunsicherte Unternehmer

Immanuel Kant unterscheidet drei Grundformen menschlichen Handelns: technisches Handeln, pragmatisches Handeln und moralisches Handeln. Technisches Handeln ist auf Objekte, Maschinen, Sachen gerichtet. In diesem Sinne erfordere es Geschicklichkeit des Handelnden. Pragmatisches Handeln bezieht sich auf Menschen und auf Interaktionen zwischen ihnen. Es bedürfe der Klugheit. Moralisches Handeln impliziert sittliche Normen, ethische Werte. Es verlange nach Weisheit.

Speziell auf moralisches Handeln bezieht sich der berühmte Kant’sche kategorische Imperativ: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Es geht hier also um die Universalisierbarkeit des Handelns. Dabei ist ersichtlich, dass die Basis des Imperativs individualethische Normen sind und keineswegs von politischen Akteuren als sozialethisch hochangesehene Kollektivvorgaben, wie wir sie etwa heute zunehmend erfahren müssen.

Der Handelnde ist zunächst frei in seiner Suche nach ethisch vertretbaren Werten seines Tuns. Die moralische Messlatte für die Wahl ethischer Normen ist die individualethisch akzeptierte Universalisierbarkeit seiner Handlungen, sie wird quasi zum Test für deren Sittlichkeit erhoben. Sie repräsentiert eine selbst gewählte Individualethik, nicht aber eine gesellschaftspolitisch vorgeschriebene Kollektivethik sozialen Verhaltens.

Ordoliberalismus der guten Regeln

Aus heutiger Sicht sagen manche, dass im Kant’schen Gedankensystem ein Spannungsverhältnis zwischen Individual- und Kollektivethik angelegt sei, dem z. B. das heutige Unternehmerverhalten vehement ausgesetzt ist. In gewisser Weise nähern wir uns damit dem in der ökonomischen Wissenschaft breit diskutierten Grundprinzip der guten Regeln, wie sie etwa im Ordoliberalismus eine zentrale Rolle spielen. Die Freiburger Schule der Ordnungsökonomik, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch deren Hauptvertreter Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Franz Böhm und anderen eine Neukonzeption der Wirtschaftsordnung insbesondere für die Bundesrepublik entwickelte, entwarf das System der Sozialen Marktwirtschaft: Grundsätzlich dem Marktprinzip und dem ihm inhärenten Gewinnstreben des Unternehmers verpflichtet, das über den Wettbewerb dessen Egozentriertheit in Gemeinwohl transformiert, benötigt das System einen von außen, d. h. vom Staat, gesetzten Ordnungsrahmen, der einerseits den Wettbewerb, der zu manchen Perversionen neige, sich nicht selbst überlässt, sondern als eine Art staatlicher Veranstaltung bestimmten Regeln unterworfen wird, und zum anderen einen gewissen sozialen Ausgleich organisiert, wenn die Ergebnisse des Wettbewerbs gesamtgesellschaftlich als nicht akzeptabel angesehen werden.

Die Soziale Marktwirtschaft, die früher – vor 70 Jahren etwa – als ein großer Wurf durch die praktische Umsetzung durch Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack mit Recht gefeiert wurde und sich in den folgenden Jahren als außerordentlich erfolgreiches Modell des gelungenen Ausgleichs zwischen Individual- und Kollektivethik bewährte, war zugleich ein Einfallstor für zunehmend ideologisch und interessenpolitisch motivierte Außerkraftsetzung des wettbewerblichen Marktprozesses in Kombination mit einer immer stärkeren Fehlinterpretation des sozialen Ausgleichs in Richtung sozialismus-affiner Staatsregulierung, die den Bürger als umfassend zu kontrollierenden und politisch zu „umsorgenden“ Untertan betrachtet. Ludwig Erhard hatte schon früh vor dieser Entwicklung gewarnt.

Aber es war vor allem und zuvorderst Friedrich August von Hayek, der, Ludwig Erhard gut kennend, den Begriff der „sozialen“ Marktwirtschaft schon früh als „Wieselwort“ der gefährlich beliebigen Interpretation des Sozialen brandmarkte und als Einfallstor für einen regulierenden, interventionistischen bis hin zum totalitären Sozialismus geißelte. Die Regeln der Marktwirtschaft ohne adjektivischen Zusatz der gefährlich interpretationsoffenen Regulierung von Markt und Marktgesetzen seien es, die Wohlstand erzeugen und insofern der Forderung nach Moral des Wirtschaftens am nächsten kommen.

Jedoch erleben wir, dass Marktgesetze zunehmend als amoralisch angesehen werden; der ihnen innewohnende Wettbewerbsmechanismus wird eher einer ungewünschten „Ellbogen-Moral“ gegen die Schwachen zugeordnet denn einem Wohlstand produzierenden gesamtgesellschaftlichen Mechanismus, der nicht nur Gegenwartsrisiken beinhaltet, sondern vor allem auch Zukunftschancen verteilt. Hayek bringt hier die Entdeckungsfunktion des Wettbewerbs für neue Zukunftslösungen, die wir heute noch nicht kennen, ins Spiel. Zudem ist festzustellen, dass die Verletzung und Außerkraftsetzung von dem Marktsystem immanenten Regeln aus perversen Anreizen heraus für einzelne Unternehmer und Manager zu oft von größerem Nutzen ist als deren Einhaltung, was die Stabilität der Ordnung und den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden kann. Ein diesbezüglich gravierender Defekt liegt auch hier in der – zumeist moralethisch begründeten, aber verantwortungsethisch desaströsen – Interventionsaktivität des Staates in die Funktionsmechanismen des Marktsystems.

Obwohl der Sozialetat in vielen Ländern mittlerweile den weitaus größten Anteil am Staatshaushalt ausmacht, die Sozialleistungen also stetig expandieren, sagen die Politiker, die „soziale Gerechtigkeit“ – ebenfalls ein Wieselwort im Hayekschen Sinne – nähme nicht zu. In diesem Kontext spiegelt sich die schleichend zunehmende Sympathie des öffentlichen Bewusstseins für staatlich organisierte Umverteilung, Expansion der staatlichen Fürsorge über die Sozialsysteme und der damit einhergehenden Antipathie gegenüber Marktmechanismen und Eigenverantwortung wider. Im kollektiven Bewusstsein gilt derjenige, der die Umverteilung von Wertschöpfung organisiert, also der Staat, zunehmend als moralisch höherwertig Handelnder gegenüber denjenigen, die die Produktion von Wertschöpfung und damit die Umverteilung überhaupt erst ermöglichen, also den Unternehmern.

Der Staat als internationaler Mitbewerber

Die Wertedebatte um unternehmerisches Handeln bekommt eine zusätzliche Dimension durch die Globalisierung. Globalisierung heißt weltweite Vernetzung von ökonomischen und politischen Märkten über nationale Grenzen hinweg. Sie bildet den Rahmen für den internationalen Wettbewerb der Standorte um die mobilen Ressourcen dieser Welt. Dabei sind die Standorte charakterisierbar nicht nur durch ihre materielle Infrastruktur, sondern, was in unserem Kontext wichtig ist, durch Sitten und Gebräuche, Werte und Moral, die sich in jeweils spezifischer Weise in den Standorten dieser Welt ausprägen. Die Freiheit der internationalen Bewegungen von Menschen, Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Wissen, die die Globalisierung ermöglicht und die wir ja in der EU als großen Fortschritt feiern, öffnet zugleich die Freiheit zu Exit-Optionen: Unternehmen können sich anderen Standorten zuwenden, wenn ihnen z. B. spezielle Standortbedingungen kollektiv politikverordneter Institutionen, Werte und Moral ihres eigenen Standorts nicht mehr zusagen. Deshalb stehen Werte und Moral als standortgebundene Institutionen in globalem Wettbewerb miteinander um mobile Weltressourcen, sie sind international bestreitbar und insofern nicht absolut, sondern relativ und müssen sich im globalen Wettbewerb bewähren.

Für das Verhalten von Bürgern und Unternehmen bedeutet dies, dass die internationale Standortwahl als wertbehaftete Entscheidung in das Handlungsportfolio der Unternehmeralternativen zusätzlich aufgenommen wird: Bleiben oder gehen? Stay or go, loyalty or exit? Da die potentielle Realisierung der Exit-Option immanenter Bestandteil jedes Wettbewerbsprozesses ist, unterliegt auch sie der individualethischen und nicht der kollektiv gesetzten Messlatte für moralisches Handeln. Konkret heißt dies z. B., dass die Verlagerung der Produktion oder Teile von ihr ins Ausland keineswegs als unmoralisch – weil „unpatriotisch“ und inländerarbeitsplatzschädlich – zu klassifizieren ist, wenn die Bedingungen des heimischen Standorts die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens gefährden oder auch nur im Vergleich zu anderen Standorten nicht genügend fördern.

Besonders krass stellt sich die Exit-Option als verantwortungsethisch durchaus hochwertig dar, wenn bestimmte Produktionen – z. B. in der Genforschung – aufgrund politisch gesetzter Normen im heimischen Standort verboten, in anderen Standorten dieser Welt dagegen erlaubt oder sogar erwünscht sind. Hier offenbart sich die Relativität einer mit ihrer Wissens- und Moralanmaßung gegenüber der Individualethik staatlich verordneten Kollektivmoral eines Standortes, die in globalisierten Märkten dem Test auf ihre eigene internationale Wettbewerbsfähigkeit ausgesetzt ist. Insofern bekommt die individualethische Dimension unternehmerischer Entscheidungen durch die Globalisierung eine zunehmende Bedeutung. Und in diesem Sinne ist der damit einhergehende Schwund traditioneller Staatlichkeit des Entscheidungs- und Durchsetzungsmonopols gegenüber den Privaten keine nur bedauerliche Entwicklung, sondern vielleicht das genaue Gegenteil, weil nunmehr auch der Staat – wie die privaten Unternehmen – nicht mehr als Monopolist auftreten kann, sondern als Mitbewerber im internationalen Wettbewerb seiner eigenen Kollektivnormen agieren muss. Damit schwindet die traditionelle Dominanz der Kollektivmoral gegenüber der Individualmoral. Zugleich folgt daraus eine zunehmende Bedeutung individueller Verantwortungsethik unternehmerischen Handelns, womit wir wieder bei der Kant’schen Universalisierbarkeit als Messlatte für eine „gute“ Individualethik landen.

Moralversagen, Institutionenversagen

Nach diesen Überlegungen müssen wir noch einmal zurückkehren zu den massiven Verwerfungen, wie wir sie in den eingangs geschilderten Verschuldungs-, Finanz-, Währungs- und Betrugskrisen dieser Tage angesprochen haben. Die Analyse der Gründe für diese Verwerfungen ist hochkomplex, und es ist hier nicht der Ort, breiter und tiefer in sie einzudringen. Ohne Zweifel lässt sich indes konstatieren, dass sich neben Moralversagen von ökonomischen und politischen Managern ein breites Institutionenversagen vorliegt. Was bedeutet das?

Institutionen kann man als Regeln verstehen: Regeln, die Anreize für das Verhalten von Menschen aussenden. So enthalten Regeln z. B. in Gestalt von Gesetzen Verbote und Gebote für die Aktivitäten von Bürgern und Managern. Im Bereich der Zivilgesellschaft gibt es geschriebene und ungeschriebene, also formelle und informelle, Regeln, in denen sich spezifische Moral- und Ethikvorstellungen ausprägen. Friedrich August von Hayek plädiert mit großer Überzeugungskraft dafür, dass es in der Gesellschaft allgemeine Regeln sein müssen, die für alle gleichermaßen gelten und spezielle Sonderregeln für einzelne oder spezielle Sondergruppen ausschließen. Ob und inwieweit das moralische Verhalten von Menschen durch reine Appellation grundsätzlich und dauerhaft beeinflussbar ist, ist umstritten. Aber die Empirie zeigt wohl, dass die Durchschnittsmoral der Menschen – jedenfalls in unserem Kultur- und Zivilisationskreis – nicht entscheidend veränderbar ist: Die Egozentriertheit der individuellen Präferenzen ist ein ziemlich sicheres anthropologisches Datum. An diesem Datum ist der empirische Sozialismus als staatliches Großprojekt gescheitert.

Moral als Investitionsgut

Wir können nun das institutionelle Moralversagen der Bankmanager und gleichermaßen der Staatsmanager, die die Gegenwartskrise ausgelöst haben, beklagen. Aber der Appell an die bessere Moral hilft wohl nicht weiter, wenn die egozentrierte Durchschnittsmoral der Menschen ziemlich unveränderlich ist, aber dennoch von manchen Ökonomen, die sich zum Beispiel der sogenannten verhaltenstheoretischen Ökonomik widmen, in Zweifel gezogen wird: Man solle eher von einem „neuen“ Altruismus-affinen Menschenbild ausgehen. Das zeigten jedenfalls diverse spezielle Hochschul-Labortests in Bezug auf Verhaltenskriterien des Altruismus. Hier handelt es sich um tatsächlich innovative Labortests im Bereich menschlichen Verhaltens. Repräsentieren aber diese akademischen Spezialtests den allgemeinen Realitätstest im großen, empirisch beobachtbaren Labor unserer konkreten Umweltrealität? Vielmehr scheint es, dass es die realen Institutionen sind, die Regeln also, die den Schlüssel zu moralischem Verhalten von real handelnden Personen um uns herum repräsentieren.

So brauchen die internationalen Kapitalmärkte gewichtige adäquate Regeln für Managerverhalten ebenso wie für Staatsmanager, die Politiker also, die durch z. B. strikte Regeln der staatlichen Verschuldungsbegrenzung eingefangen werden müssen, damit sie ihre egozentrierten Wiederwahlstrategien nicht mehr auf Kosten der Steuerzahler und der zukünftigen Generationen ausleben können. Es sollte auch nicht sein, dass Bankmanager ihre eigene Organisation unter staatlicher Duldung oder gar aktiver Netzwerkverbundenheit als systemrelevant deklarieren können, um die Kosten ihres Versagens verstaatlichen und also an den Steuerzahler überwälzen zu können. Es ist auch nicht zu verstehen, dass die strikten Regeln, die in der Zivilgesellschaft in Bezug auf den Untreuetatbestand von Managern und deren Sanktion gelten, für die politischen Manager offensichtlich nicht bestehen oder mindestens sehr lax gehandhabt werden: Für Millionen- oder gar Milliardenschäden als Folge von falschen Entscheidungen der Politiker haften die Steuerzahler, selten oder nie die politischen Schadensverursacher selbst. Zudem: Steuerhinterziehung wird hart bestraft im Gegensatz zur Steuerverschwendung durch die Politiker. Hier muss es im Hayek‘schen Sinne sein, dass allgemeine Regeln gleichermaßen für alle gelten und mit positiven und negativen Sanktionen verbunden sind für diejenigen, die sich an die Regeln halten bzw. gegen sie verstoßen. Denn es sind die regelinduzierten Anreize, die menschliches Verhalten grundsätzlich steuern.

In der EU werden die vertraglich kodifizierten Regeln durch die politischen Agenten in größtem Umfang seit Jahren sanktionslos nicht eingehalten. Hier liegen wohl die wichtigsten Gründe für die zunehmenden Fliehkräfte innerhalb der EU, die diesen Integrationsraum politisch zu zerbröseln drohen. Nicht die romantisierenden Bekenntnisse zu Europa, zu immer mehr Europa gar, sind die moralische Messlatte, wenn und weil sie sich auf ein Europa als angeblich solidaritäts-, also moralgesteuerte Transferunion beziehen, sondern es sind die ordnungsökonomisch bewährten Regeln, die gleichermaßen Eigenverantwortung, Risiko und Haftung als unbedingte Einheit in der politischen Verhaltenskategorie von Regierungen beinhalten.

Fazit: Moralische Aufklärung ist nötig

Der Markt, die Marktwirtschaft braucht wieder mehr Reputation und Akzeptanz in der Gesellschaft. Dazu bedarf es einer breit angelegten Institutionenlandschaft der moralischen Aufklärung. Institutionen als anreizvermittelnde Regeln sind der pragmatische Schlüssel zu moralischem Verhalten. Sie sind es, die zu langfristigen Klugheitserwägungen stimulieren, denn die Beachtung guter Regeln für moralisches Handeln bringt dem Handelnden größere Vorteile als nicht moralisches. Der Vorteil, den marktliche Moral erzeugt, besteht in der Stabilität, in der Verlässlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen. Damit wird Moral zu einem Investitionsgut: Es lohnt sich, im ordnungsökonomischen Sinne moralisch zu handeln.

Dieser Beitrag erschien unter dem gleichen Titel in einer ersten Fassung im März 2018 auf dem Blog Wirtschaftliche Freiheit.. Die vorliegende Version ist eine vom Autor für das Austrian Institute überarbeitete Fassung.

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

So halten wir Sie über Neuigkeiten auf unserer Website und die Aktivitäten des Austrian Institute auf dem Laufenden.

Jetzt anmelden