Brexit – Chance oder Desaster? Warum die Briten jetzt einen Mose brauchen

Nun haben also die Briten am 23. Juni 2016 mit 51,9 („Leave“) zu 48,1 („Remain“) Prozent für einen Austritt des Vereinigten Königreiches (UK) aus der Europäischen Union (EU) gestimmt, für viele überraschend, von nicht wenigen befürchtet, aber von ebenfalls nicht wenigen auch außerhalb des UK erhofft. Was sind die Ursachen für dieses knappe Votum? Umfragen und die öffentliche Diskussion lassen darauf schließen, dass die Befürworter des Ausstiegs aus der EU aus einer Gemengelage folgender Motive so abgestimmt haben:

  • Ablehnung von Migration sowohl aus anderen EU-Ländern wie auch aus dem Rest der Welt. Umstritten ist und wird wohl noch Historiker in Jahrzehnten beschäftigen, ob ohne die Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin Angela Merkel ab Sommer 2015 das Referendum anders ausgegangen wäre. Nicht wenige vermuten, dass Merkels nicht nur rechtlich umstrittene Grenzöffnung den Ausschlag bei der Abstimmung gegeben haben könnte. Denn aus ihr folgte der massive Zustrom von fremdkulturellen und eher mäßig qualifizierten Flüchtlingen, der zwar nicht bis ins UK führte. Dennoch erhöhten wahrscheinlich bei schwankenden Briten diese als Kontrollverlust wahrgenommenen Bilder die Angst vor der EU-Personenfreizügigkeit („was, wenn die alle in ein paar Jahren EU-Pässe haben?“), die Angst vor damit verbundenen Ansprüchen an das britische Sozialsystem und vor Konkurrenz um knappen Wohnraum. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass schon viele Briten Ressentiments gegen nach der EU-Osterweiterung zugewanderte Osteuropäer (deren größte Gruppe sind Polen) hegen, selbst wenn diese hart arbeiten und es nicht zuletzt polnische Soldaten waren, die das UK im Zweiten Weltkrieg tapfer mit verteidigt haben.
  • Ein Frustvotum gegen die Eliten in Westminster und in Brüssel – überproportional haben Menschen in prekären Verhältnissen für „Leave“ gestimmt. Sie geben – wohl zu Unrecht – der EU-Mitgliedschaft ihres Landes die Hauptschuld am Niedergang ganzer Branchen und Regionen, doch hätte es diesen Strukturwandel im Wesentlichen auch ohne die EU gegeben. Menschen mit höherem Bildungsniveau und besseren beruflichen Chancen hingegen haben eher für den Verbleib in der EU („Remain“) gestimmt. Jüngere, die allerdings unterproportional an die Urnen schritten, waren ebenso mehrheitlich für die Fortsetzung der EU-Mitgliedschaft.
  • Ferner standen klassisch-liberale Argumente für den Brexit, sowohl ökonomisch wie politisch: Befreiung vom Brüsseler „Regulierungsmoloch“ würde der britischen Wirtschaft Kosten ersparen und den erschwerten oder wegfallenden Zugang zum EU-Binnenmarkt ausgleichen. Eine Argumentation, an der sich Ludwig von Mises mit seiner „Kritik des Interventionismus“ (1929/2013) erfreuen würde.  Politisch ging es um Selbstbestimmung („Take back control“), um Rückgewinnung nationaler Souveränität, um Dezentralität und Subsidiarität versus Zentralismus, um Abwehr der wahrgenommenen Fremdbestimmung über das eigene Land durch demokratisch nicht ausreichend legitimierte Entscheider in Brüssel und Straßburg, die eine „immer engere Union“ (Präambel des EU-Vertrages) vorantreiben, die in einem europäischen „Superstaat“ enden könnte. Peter A. Fischer bedauert in einem Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), dass die europäische Integration in eine Legitimationskrise geraten ist: „Zu sehr wurde sie geprägt durch eine bürokratisch-zentralistische Integration von oben. Die Währungsunion hat sich als in ihrer gegenwärtigen Form dysfunktional erwiesen – sie spaltet Europa mehr, als dass sie es eint.“ (NZZ vom 2.7.2016, S. 14). Oder noch prägnanter formuliert: Ein gutes Zusammenleben in Europa kann auch an einem Zuviel an oktroyierter Integration scheitern.

Es zeigt sich, dass das Leave-Lager aus einem wirtschaftsliberal-weltoffen-pragmatischen und einem national-globalisierungskritischen Flügel (zu dem auch Labour-Anhänger sich gesellen) besteht. Beide sind sich nur einig in der Ablehnung der real existierenden EU, aber sicher nicht in einem gemeinsamen Ziel für die Gestaltung des Brexit. Das wird noch zu Turbulenzen in der britischen Innenpolitik führen. Sowohl die Leave- wie die Remain-Kampagnen arbeiteten mit Angst-Argumenten. Die „Remainer“ prophezeiten bei einem Austritt den ökonomischen Absturz des UK, den Beginn des Zerfalls des Westens oder gar Kriege in Europa. Die Finanzmärkte reagierten auch am Tag nach dem Referendum mit einem deutlichen Kursverfall bei Aktien und Britischem Pfund sowie einem Anstieg bei Gold.

Ökonomische Turbulenzen voraus

Die Bonität des Vereinigten Königreiches wurde zwischenzeitlich herabgestuft. Ökonomisch sind für die nahe Zukunft Wachstumsverluste und steigende Arbeitslosigkeit v.a. für die britische Wirtschaft ziemlich sicher. Das fallende Pfund wird angesichts der Importabhängigkeit auch die Inflationsrate steigen lassen. Steuererhöhungen, z.B. bei Einkommensteuern und indirekten Steuern, sowie Einsparungen bei staatlichen Ausgaben sind zu erwarten. Investitionen werden gerade in der unsicheren Phase der zweijährigen Verhandlungen nur zurückhaltend getätigt werden. Hier werden sich also die Befürchtungen der Brexit-Gegner bestätigen.

Gesucht: Ein Mose für Albion

Damit ist aber noch lange nichts über die langfristigen, durchaus positiven Entwicklungschancen gesagt. Daraus ergibt sich ein Dilemma: Hält bei einem tatsächlich umgesetzten Brexit das britische Volk so lange durch, bis sich die vorübergehenden Wohlstandeinbußen auszahlen? Anders formuliert: Die neue britische Premierministerin, Theresa May, die den Brexit entgegen ihren früheren Überzeugungen nun umsetzen will, müsste sich zu einer charismatischen Führungspersönlichkeit wie Mose entwickeln, die das Volk bei der entbehrungsreichen Wüstenwanderung trotz der Mühsal bei der Stange zu halten vermag und den Ausblick auf das gelobte Land eines „EU-befreiten Britanniens“ glaubhaft vertreten und ausreichend Manna servieren kann, auch wenn das Volk murrt, weil doch in der EU die Fleischtöpfe so voll waren (vgl. Exodus 16, 1 ff.). Natürlich hinkt der Vergleich, denn im Gegensatz zu Mose kann sich kein britischer Regierungschef auf ein göttliches Mandat berufen, sein Volk aus der „Brüsseler Gefangenschaft“ zu führen. Aber die Herausforderungen ähneln einander.

Gutes Leben außerhalb der EU möglich?

Die EU-Verantwortlichen haben ein nachvollziehbares Interesse, dem UK bei den Austrittsverhandlungen wenig entgegenzukommen, um Nachahmer abzuschrecken, nach dem Motto: „Außerhalb unseres tollen Clubs kann es kein gutes Leben geben“. Dass in diese Richtung gearbeitet wird, zeigt neben vielen anderen auch eine Äußerung des deutschen Justizministers Heiko Maas (SPD): „Der Brexit-Schock kann heilsame Wirkung haben – mit dem Ergebnis, dass man sich auf ein solches Wagnis eben nicht einlässt. (…) Jetzt sieht jeder, was so etwas für ein Land wie Großbritannien bedeutet.“ (faz.net: 30.6.2016). Helmut Kohl, der Tagespolitik entrückt, sicher mit Altersweisheit ausgestattet und obwohl mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher nie warm geworden, hat solchen offenkundig unfreundlichen Tendenzen die Warnung „vor einer überhasteten politischen Reaktion“ entgegengesetzt und „einen vernünftigen Weg im Umgang mit dem Referendum“ gefordert (faz.net: 30.6.2016).

Im Brüsseler Politikbetrieb scheinen die Nerven blank zu liegen: Teils verbitterte Reaktionen, die keine vernunftbasierte vertragliche Regelung zum Verhältnis des UK zur EU nach dem Austritt erwarten lassen. Besonders deutlich wurde der Brüsseler Frust über das britische Abstimmungsergebnis, als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versuchte, durch seine vor Pressekameras gehaltenen Hände Aufnahmen vom Europaabgeordneten und Chef der EU-kritischen UKIP-Partei Nigel Farage zu verhindern.

Wenig Selbstreflexion in Brüssel

Was in Brüssel ausblieb: Wirklich selbstkritische Reflektionen, wie es zur „Fahnenflucht“ des drittgrößten EU-Nettozahlers (2014) kommen konnte, was denn die Briten vergrault hat. Im Gegenteil, eine gewisse Ignoranz zeigten die aus Brüssel erschallenden Rufe nach mehr Integration („Vertiefung“), als ob sich die Briten wegen einem aus ihrer Sicht zu geringen Grades an Integration abseilen wollten.

Man könnte andererseits auch gut begründet vermuten, dass denjenigen, welche die „Vereinigten Staaten von Europa“ anstreben, ein Austritt des UK ganz gelegen kommt und deswegen Frust und Enttäuschung in Brüssel zumindest zum Teil nur gespielt seien. Denn die Briten waren bekannt für ihre Ablehnung einer „immer engeren Union“, wären also ein Hemmschuh gegen den Brüsseler „Superstaat“. Doch selbst aus Sicht von EU-Zentralisten könnte sich dieses Kalkül als fatal erweisen. Denn ein außerhalb der EU – zugegebenermaßen nach einer mehrjährigen Durststrecke – prosperierendes UK oder auch „nur“ England als attraktive Alternative zur „immer engeren Union“ wäre für die EU-Zentralisten ein Mega-Desaster.

Ein europäisches Singapur könnte entstehen

Man stelle sich vor: In zehn Jahren wäre in England ein „europäisches Singapur“ entstanden mit einem unverändert schlagkräftigen Finanzzentrum. Ergänzt um Innovationscluster in diversen Bereichen, attraktiv für die jungen „high potentials“ (Hochqualifizierte) aus aller Herren Länder. Heruntergekommene Industrieregionen Nordenglands beleben sich durch agile Startups. Deregulierung, niedrige Steuern, einfache und transparente Bürokratie machen England zum neuen Star unter den Volkswirtschaften. Industrieansiedlungen lohnen sich trotz EU-Einfuhrzöllen. So unwahrscheinlich ist das nicht: Bei der Unabhängigkeit 1965 hat kaum jemand etwas auf den jungen Staat Singapur gegeben. Seine Ausgangslage war ungleich schwieriger als die des UK heute. Also zu schaffen wäre das, wenn es politisch gewollt ist. Als ersten Schritt in diese Richtung kann man die Ankündigung des britischen Schatzkanzlers George Osborne vom 3.7.2016 interpretieren, die Körperschaftssteuer von derzeit 20 Prozent deutlich senken zu wollen, ausdrücklich um angesichts des Brexit Investitionen im UK anzuregen (theguardian.com: 3.7.2016). Neben der Schweiz und den EWR-Staaten (Island hat seinen EU-Beitrittsantrag 2015 zurückgezogen) gäbe es dann ein weiteres und diesmal großes wohlhabendes Land mit (auch ohne Schottland) noch ca. 60 Millionen Einwohnern, dessen ökonomischer Erfolg außerhalb der EU attraktiv wirkt.

Die Annahme dieser gewaltigen Herausforderung sollte für die EU sicher nicht darin bestehen, das UK verkleinern zu helfen. Doch daran scheint man Gefallen zu finden in Brüssel: Wenige Tage nach dem Referendum wurde die Chefin der politisch links stehenden Scottish National (!) Party (SNP), Nicola Sturgeon, First Minister der schottischen Regionalregierung, öffentlichkeitswirksam aufgewertet. Sie wurde hochrangig sowohl von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz medienwirksam empfangen. In Schottland hatten 62 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt und die von Sturgeon geführte Regionalregierung strebt nun eine Wiederholung des 2014 gescheiterten Unabhängigkeitsreferendums in Schottland an.

EU als Geburtshelfer schottischer Unabhängigkeit?

Es könnte sich eine EU-Unterstützung für den Austritt Schottlands aus dem UK anbahnen, auf die Vertreter von Unabhängigkeitsansprüchen in Katalonien, dem Baskenland, Korsika etc. bislang vergeblich warten. Dies könnte von Brexit-Befürwortern als Rache Brüssels für den „undankbaren Ausstieg“ aus dem „grandiosen Projekt“ EU gewertet werden. Britische Patrioten und Nationalisten mag ein Austritt Schottlands aus dem UK grämen oder gar wütend machen, aber wirtschaftsliberale Brexit-Befürworter könnten sich sogar freuen: Schottland wäre in der EU ein Nettoempfänger (es sei denn die Ölpreise steigen irgendwann sehr deutlich) und wirtschaftsliberales Denken ist in der Heimat von Adam Smith nicht mehr stark ausgeprägt.

Was wird aus Nordirland?

Kurz sei auch angemerkt: Nordirland, wo mit knapp 56 Prozent für „Remain“ gestimmt wurde, ist ebenso ein Umverteilungsempfänger im UK. Und es gibt dort Forderungen nach einem Referendum über den Anschluss an die Republik Irland. Ob Dublin wirklich begeistert das ökonomisch schwache Nordirland mit seinem noch latent vorhandenen Konflikt, der gerade dann wieder aufflammen könnte, aufnehmen würde, bleibt abzuwarten.

Auch irischer Tiger muss sich neu orientieren

Zumal schon 2015, und das untermauert die oben dargestellte Singapur-Variante, der Chef des führenden irischen Unternehmensverbands Ibec, Danny McCoy, gegenüber der FAZ kundtat: „Am liebsten wäre es uns, die Briten blieben in der EU. Aber Großbritannien könnte nach einem Brexit ein sehr attraktiver Wirtschaftsstandort sein.“ Ein irischer EU-Austritt als Reaktion auf einen Brexit sei nicht auszuschließen: „Ich kann mir Umstände vorstellen, unter denen das zwingend wäre“ (faz.net: 15.5.2015). Diese Worte sind gewichtig, denn Iren kann man für gewöhnlich nicht vorwerfen, dass es ihnen leicht fiele, Engländer zu kopieren. Gleichwohl, das muss vermerkt sein, ist die Zustimmung zur EU in Irland stabil hoch. Das könnte sich aber bei einem Erfolg der Singapur-Variante ändern.

Wie geht es weiter?

Nach britischem Verfassungsverständnis ist die Brexit-Abstimmung rechtlich nicht bindend. Das Unterhaus, in dem der Brexit bei weitem keine Mehrheit hat, könnte auch anders entscheiden. Das würde aber massive innenpolitische Probleme nach sich ziehen: Die Referendumsmehrheit würde sich von den Politikern betrogen fühlen. Gleichwohl kann ein „Exit vom Brexit“ nicht ausgeschlossen werden, z.B. wenn man das Thema zum Gegenstand vorgezogener Unterhauswahlen machte und das neue Unterhaus unter Verweis auf sich verfestigende Umfragen, bei denen „Remain“ vorne läge, sich entsprechend entscheiden würde. Ein in dieser Weise reumütig zurückkehrendes UK würde durchaus mit der Überzeugung der EU-Zentralisten harmonieren, dass ihr Projekt eben doch unwiderstehlich sei.

Austrittsantrag nach Art. 50 EU-Vertrag

Wahrscheinlicher ist jedoch, wenige Wochen nach der Brexit-Abstimmung sowie wenige Tage nach der Neubildung der Tory-Regierung durch Theresa May, dass das UK den Austritt nach Art. 50 EU-Vertrag beantragen wird. Dann beginnt eine zweijährige Verhandlungsphase über den Austrittsvertrag, die nur mit hohen Hürden verlängert werden kann. Ohne Ergebnis fände sich das UK in der WTO-Variante wider, die neben den anderen Optionen in der folgenden Tabelle dargestellt sind:

  EU EWR (EFTA ohne Schweiz) Schweiz Zollunion wie Türkei WTO
Art der Integration Zollunion mit Binnenmarkt, tw. staatsähn­licher Charakter Vertiefte Freihandels­zone Bilaterale Verträge Zollunion Multilaterales Abkommen
freier Zugang zum EU-Binnenmarkt ja ja, mit Einschrän­kungen ja, mit Einschrän­kungen ja, mit Einschrän­kungen nein
Freier Zugang für Finanzdienst­leistungen ja stark einge­schränkt, aber angestrebt nein nein nein
Personenfrei­zügigkeit ja ja ja nein nein
Eigenständige Außenhandels­politik gegen­über Dritten nein ja, eingeschränkt ja nein ja
Mitbestimmung EU-Regeln ja nein nein nein nein
(Indirekter) Beitrag zum EU-Haushalt ja ja ja nein nein
Übernahme von EU-Vorschriften ja ja (Norweger nennen es „Fax-Demokratie“) ja, teilweise ja, sofern Zollunion betreffend nein
Konform mit

Brexit-Kampagne

nein nein nein ja ja

Ein Wort zur EFTA

Sowohl die drei Nicht-EU-Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR: Norwegen, Island und Liechtenstein) wie die Schweiz sind Mitglieder der European Free Trade Association (EFTA), die maßgeblich auf britisches Betreiben 1960 als Alternative zur von Anfang an als Zollunion geplanten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde. Immer mehr EFTA-Länder verließen diese Freihandelszone in Richtung EWG bzw. der aus ihr hervorgegangen EU, so auch das UK 1973.  Eine erneute EFTA-Mitgliedschaft des UK wird nach dem Brexit-Votum bereits diskutiert und hätte den Vorteil, dem UK sofortigen Zugang zu bestehenden Freihandelsabkommen der EFTA mit 27 Ländern zu schaffen, die nicht erst jahrelang individuell ausgehandelt werden müssten. Dies macht einen EFTA-Beitritt des UK wahrscheinlich. Für den Zugang zum EU-Binnenmarkt bliebe dann aber immer noch zu klären, ob die EWR-Variante (schnell erreichbar) oder die Schweiz-Variante (langwierige bilaterale Verhandlungen erforderlich) gewählt wird. Beide wären jedoch nicht in Übereinstimmung mit der Brexit-Kampagne.

Es wird überdeutlich, dass es für die nächste britische Regierung fast aussichtlos erscheint, eine gute vertragliche Regelung mit der EU aushandeln zu können, die mit dem Ergebnis des Referendums in Übereinstimmung ist. Die Briten können von der EU nicht erwarten, „das Beste aus zwei Welten“ zu bekommen, also freien Marktzugang ohne rechtliche und finanzielle Verpflichtungen.  Doch Brüssel könnte sich verrechnen, wenn es die Verhandlungen aus einer Perspektive der Überlegenheit führt, um die abtrünnigen Insulaner zu demütigen. Denn auch die EU ist nicht so stabil wie derzeit unter Verweis auf das „Disunited Kingdom“ suggeriert wird – man denke nur an die ins Haus stehende Auseinandersetzung, wer nun die Beitragslücke schließt, die das UK hinterlässt. Oder an die auch in den verbleibenden 27 Staaten wachsende EU-Skepsis. Vor diesem Hintergrund wäre folgender Kompromiss denkbar:

EU-Reform und Exit vom Brexit?

Beide Seiten erkennen die Brexit-Abstimmung nicht nur als Weckruf, sondern auch, dass sie einander brauchen und bereichern. Die Briten bleiben. Die Vertragsänderungen, die der scheidende britische Premierminister David Cameron vor der Abstimmung für den Fall eines Remain-Sieges für sein Land in Brüssel im Februar 2016 (theguardian.com: 19.2.2016) ausgehandelt hat, werden für alle Mitgliedsländer als gültig beschlossen, insbesondere: Kein Land muss gegen seinen Willen an der „immer engeren Union“ teilnehmen (eine EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten); Mitgliedsländer können sich gegen „Sozialtourismus“ wehren. Hinzu könnte kommen: Die EU lebt Subsidiarität und Dezentralität (es werden auch mal Kompetenzen wieder an die Nationalstaaten oder gar Regionen zurückgegeben), also keine schleichende Kompetenzausweitung Brüssels mehr, auch nicht mit „Hilfe“ des Europäischen Gerichtshofes (EuGH); Kompetenzverlagerung ist nicht mehr eine Einbahnstraße in Richtung Brüssel. Demokratiedefizite werden beseitigt wie die „degressive Proportionalität“ bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament (Deutschland mit ca. 81 Mio. Einwohnern hat 96 Sitze, Malta mit ca. 400.000 Einwohnern 6 Sitze) – folglich liegt der Erfolgswert einer abgegebenen Stimme in Malta beim etwa 12- bis 13-fachen im Vergleich zu einer aus Deutschland. Das Argument, dass die EU ja noch kein Staat sei und deswegen die Proportionalität nicht gegeben sein müsse, ist angesichts der faktischen Machtfülle der EU nicht stichhaltig. Würde die EU die Aufnahme bei sich selbst beantragen, so würde sie wegen dieses Demokratiedefizits schon abgewiesen. Soweit ein mögliches Kompromissszenario.

Aber dazu wird es wohl nicht kommen, weil es die Gestaltungskompetenz und künftige Machtausdehnung der EU-Ebene beschneiden würde. Aus Brüsseler Machtinteressen heraus wird es auf einen Brexit hinauslaufen. Es sei denn die Briten kriechen zu Kreuze, weil sie den Sprung ins Ungewisse, das Streben, das Singapur Europas zu werden, doch nicht wagen. Es bleibt spannend.

Europa und Abendland

Auf ein letztes Wort: Die Brexit-Abstimmung war kein Votum für einen Austritt aus „Europa“. Die permanente Gleichsetzung von Europa und Europäischer Union spricht für die Vermessenheit der EU-Zentralisten und unkritische Medien, die das nicht hinterfragen. Europa ist zunächst einmal eine geographische (wesentlich größer als die EU) und kulturell-geistige Kategorie (wesentlich mehr, älter und wichtiger als die EU als „vierte politische Ebene“ über Kommunen, Ländern und Nationalstaaten). Der erste deutsche Bundespräsident, Theodor Heuss (FDP), liebevoll „Papa Heuss“ genannt, hat Europa so beschrieben: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“ (Th. Heuss: Reden an die Jugend, Tübingen 1956, S. 32).

„Okzidexit“ bedeutender als Brexit?

Dieses Europa scheint angesichts sinkender Allgemeinbildung und des jahrzehntelangen Säkularisierungsprozesses, der konkret ein Entchristlichungsprozess ist, nur noch in Sedimenten lebendig zu sein. Und dieses von Heuss beschriebene Abendland ist nicht etwa durch türkische Gastarbeiter oder sonstige islamische Zuwanderung im Verschwinden, sondern dadurch, dass sehr viele Europäer schon längst geistlich aus einem solchen Europa ausgestiegen sind. Die teils offene Ablehnung des Christentums, für das Golgatha steht, der Ort der Kreuzigung Jesu Christi, die Indifferenz der Mehrheit der Europäer, sogar wenn sie noch Kirchenmitglieder sind, gegenüber ihrer Herkunftsreligion, sowie die geistliche Kraftlosigkeit der Kirchen haben das von Heuss beschriebene Europa schon mächtig verdunsten lassen. Diesen geistigen und geistlichen Austritt sehr vieler Europäer aus dem Abendland, dem Okzident, könnte man als „Okzidexit“ bezeichnen, eine Art freiwillig gewählter „metaphysischer Obdachlosigkeit“. Und dieser „Okzidexit“ wird allemal größere Veränderungen hervorrufen und sollte deswegen mehr Beachtung finden bzw. Befürchtungen wecken als ein noch nicht sicherer „Brexit“, der immerhin auch (Freiheits-) Chancen bietet.

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